Bare

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Für sein neues Stück sucht der belgische Star-Choreograf Thierry Smits elf nackte Tänzer. Nach einem intensiven Casting ist die Besetzung gefunden. Mit präzisem, aber nie voyeuristischem Blick beobachtet Regisseur Aleksandr M. Vinogradov den leidenschaftlichen Probenprozess. Atemberaubende Tanzsequenzen wechseln sich mit persönlichen Momenten jenseits der Bühne ab, in denen die Tänzer offen über sich erzählen. Axel Schock über einen intimen Film, der den nackten Körper als letzte Bastion der Freiheit bloßlegt – und den es jetzt im Salzgeber Club zu sehen gibt.

Foto: Salzgeber

Full Frontal Nudity

von Axel Schock

Bisweilen fasziniert die Entstehung eines Kunstwerkes mehr als das Endergebnis selbst. Seit es Bonusmaterial auf DVDs gibt, sind Making-ofs zum Standard geworden, mit denen das Interesse und die Neugierde von Cineast:innen befriedigt werden können. Vielleicht auch aufgrund dieser Entwicklung gab es in den vergangenen Jahre eine Reihe von Dokumentarfilmen, die intensive Blicke hinter die Kulissen von Bühnenproduktionen gewährten. Allein aus der Tanzwelt gibt es mehrere herausragende Filme, die Probenprozesse dokumentieren: Thomas Grube etwa hat mit „Rhythm Is It“ (2004) die Entwicklung einer „Sacre du Printemps“-Choreografie mit Berliner Jugendlichen gezeigt, Arantxa Aguirre mit „Dancing Beethoven“ (2016) eine Produktion des Tokio Balletts, Thierry Demaizière und Alban Teurlai begleiteten für „Relève“ 2015 Benjamin Millepieds erste Arbeit an der Pariser Oper.

Konzeptionell und dramaturgisch steht „Bare“ in der Tradition dieser Filme. Über mehrere Monate begleitete Aleksandr M. Vinogradov – Regisseur, Produzent, Kameramann und Cutter in Personalunion – die Entstehung von Thierry Smits‘ Tanzstücks „Anima Ardens“, vom ersten Casting bis zur Premiere 2016 in Brüssel. Das Besondere am Tanzprojekt des belgischen Star-Choreografen: Er besetzte es ausschließlich mit jungen Männern, die während der Aufführung nackt auf der Bühne sein sollen.

 

Bei der ersten Castingrunde wird noch in Jogginghosen vorgetanzt, für die finale Auswahl fallen dann auch diese Hüllen. Die anfängliche Unsicherheit unter den Tänzern verfliegt recht schnell, und auch für die Zuschauenden verliert die Nacktheit bald sein latent provokatives Potenzial. Denn Thierry Smit, Begründer und Leiter der in Brüssel ansässigen Compagnie Thor, geht es in seinem modernen Tanzstück nicht darum, männliche Nacktheit vordergründig erotisch zu präsentieren, sondern schlicht die Schönheit des nackten Körpers zu feiern. Es sind, wie bei Profitänzern nicht anders zu erwarten, durchweg junge, durchtrainierte, schöne Körper. Schönheit bedeutet hier also auch, gängigen, normierten Idealen zu huldigen. Eine abstrakt wirkende Collage aus Detailaufnahmen der Männerkörper eröffnet den Film: Bilder von Brustbehaarung und Bartschatten, von Rückenmuskulatur und Armen.

Foto: Salzgeber

Dem Vortanzen und den Casting-Gesprächen, inklusive der damit unweigerlich verbundenen professionell-verbindlichen Absagen, folgen Einblicke in den Proben- und Entwicklungsprozess des Tanzstücks. Smit fordert seine Tänzer auf, einen Geburtsvorgang zu improvisieren, menschliche Schwächen – geistige, körperliche wie emotionale – darzustellen oder sich an tranceartige Situationen in ihrem Leben zu erinnern. Vinogradov setzt mit kurzen, blitzgewitteratigen Ausschnitten aus klassischen Gemälden wie Hieronymus Boschs „Der Garten der Lüste“ und Schlagworten wie „MASCULITINY“, „STRENGTH“, „PHALLUS“ oder „WEAKNESS“ Zäsuren.

Foto: Salzgeber

Ein paar Mal können die Tänzer den assoziativen Einwürfen und Anweisungen Smits nicht so recht folgen. Die Stimmung innerhalb des Ensembles ist sichtlich gelöst. In einer langen Einstellung sieht man die Tänzer nach der Probe unter der Dusche herumalbern, die Kamera und damit wir Zuschauer:innen beobachten die Vorgänge aus einer voyeuristischen Position. In einer anderen Szene – einer der wenigen, in der wir den Tänzern als Menschen tatsächlich etwas näherkommen – sitzen einige von ihnen zum Plaudern zusammen, auch über ganz Privates. Wie lange ihre Beziehungen gehalten haben. Wer gerade in einer Beziehung lebt. Was Freiheit in einer Beziehung bedeutet (z.B. Sex auch mit anderen haben zu können). Ganz beiläufig wird klar, dass offenbar die meisten Tänzer der Truppe schwul leben.

Foto: Salzgeber

Auf die Choreografie oder den Umgang mit der Nacktheit hat dies jedoch keinerlei Auswirkung. Die unverhüllten muskulösen Körper, die Interaktion zwischen den Tänzern sind zwar sinnlich, aber nie sexuell. Wer sich erhoffte, Erektionen zu sehen, wird enttäuscht werden. Mancher mag sich etwas mehr Radikalität in der Darstellung wünschen und sich fragen, ob full frontal nudity bei Männern anders als bei Frauen immer noch so tabuisiert ist bzw. so revolutionär sein soll, dass allein die Dauerpräsenz von Penissen auf der Leinwand bzw. auf der Bühne für Zuschauende schockierend sein und Unbehagen auslösen könnte…

Einen Skandal konnte die in vielen Ländern zu sehende Produktion „Anima Ardens“ zumindest nicht auslösen. Für gesteigertes Medieninteresse sorgte das Novum tanzender nackte Männer jedoch allenthalben. Das Stück selbst ist in „Bare“ nur ausschnitthaft und im Probenstatus zu sehen. Aleksandr M. Vinogradov hat aber auch die gesamte, einstündige Produktion aufgezeichnet. Man kann sie sich auf Vimeo ansehen.




Bare
von Aleksandr M. Vinogradov
BE 2020, 91 Minuten, FSK 12,
französisch-englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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