Wolfram Setz (Hg.): Edel-Uranier erzählen

Buch

Der Band „Edel-Uranier erzählen“ aus der Bibliothek rosa Winkel versammelt drei Texte aus der Frühzeit der Homosexuellen-Emanzipationsbewegung. Hans Waldau schildert die Geschichte der gemeinsamen Reise zweier junger Männer, die dann aus der Ferne Freunde bleiben, Konradin die eines Studenten, der im jungen Grafensohn Lorenzo „glühende Liebe“ weckt, mit der er nicht umzugehen weiß, und Tempesta erzählt vom Seelenkampf eines „edelgearteten Uraniers, der seiner Neigung nicht nachgeben will“ und aufs Land flieht, um vor jeder Versuchung sicher zu sein. Die wahre Identität der Autoren ist nicht bekannt. Tilman Krause über eine „sehr deutsche Weise“, schwul zu sein.

Ein typisch deutsches Ideal

von Tilman Krause

Es gab eine Zeit, da hätte ein Satz wie der von Erich Kästner helle Empörung ausgelöst: „Die Liebe ist ein Zeitvertreib / Man nimmt dazu den Unterleib“. Was der Autor des „Fabian“ am Ende der Weimarer Republik im bewusst schnoddrigen Ton der Neuen Sachlichkeit zu Papier brachte, wäre noch zwanzig Jahre zuvor von den meisten Leserinnen und Lesern wahrscheinlich entrüstet zurückgewiesen worden. Liebe auf Sex zu fokussieren, ja zu reduzieren, hätte als roh, vulgär, primitiv, kurzum eines kultivierten Menschen unwürdig gegolten. Und zwar besonders bei den Schwulen! Natürlich hatte das auch etwas mit der Rechtsprechung der damaligen Zeit zu tun. Der berüchtigte Schwulenparagraf 175, seit der Reichseinigung von 1871 deutschlandweit in Geltung, stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern generell unter Strafe.

Kein Wunder, dass sich eine ganze, um 1900 mächtig ins Kraut schießende schwule Belletristik also darum bemühte, Bilder schwulen Lebens zu entwerfen, in denen Sex wenn nicht gleich ganz unter den Tisch fiel, so doch zumindest blumig umschrieben wurde. Das findet man natürlich auch in der heterosexuellen Dichtung jener Zeit. Aber die Homos hatten eben ein ganz besonderes Interesse daran, sich als „idealgesinnt“ zu präsentieren, wie es in einer der drei Erzählungen programmatisch heißt, die jetzt in der Bibliothek rosa Winkel wiederaufgelegt worden sind. Das Buch trägt den etwas erratischen Titel „Edel-Uranier erzählen“. „Uranier“ war um 1900 ein Code-Wort für Homosexuelle. Geprägt hat es Karl Heinrich Ulrichs, der legendäre frühe Schwulenaktivist aus dem 19. Jahrhundert.

Die drei Texte – allesamt wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zum ersten Mal erschienen und geschrieben von Autoren, über die heute leider keine Informationen mehr aufzufinden sind – sind nicht nur kulturpsychologisch ungemein aufschlussreich. Sie lesen sich auch (mit Ausnahme des dritten, der offenbar nie einen Lektor gesehen hat und in einer Herz-Schmerz-Sentimentalität schwelgt, die schon damals randständig gewirkt haben wird) spannend, auch unterhaltsam. Die literarisch stärkste der drei Erzählungen mit dem bezeichnenden Untertitel „Aus dem Leben eines Entgleisten“ kann sogar als erschütternd gelten und überdies als anschauliches Lebensbild eines Homosexuellen, der im wilhelminischen Kaiserreich aufwächst und dann seinen Weg geht.

Worin liegt nun aber seine „Entgleisung“? Mit der Antwort darauf lässt sich das zentrale Anliegen der Erzählungen in diesem Band gut einkreisen. Ein Anliegen oder besser gesagt Problem wohlgemerkt, mit dem sämtliche Figuren in diesen Texten sich konfrontiert sehen, für das sie allerdings unterschiedliche Lösungen finden, wenn ihnen eine Lösung denn überhaupt gelingt: die schwierige Vereinbarkeit von homosexueller Veranlagung und bürgerlicher Existenz. Ein Problem nebenbei gesagt, das noch in Felix Rexhausens „Zaunwerk“ von 1964 die herausragende Rolle spielt („Zaunwerk“ ist gerade eben gleichfalls in der Bibliothek rosa Winkel herausgekommen).

Die „Entgleisung“ des „Edel-Uraniers“ Theodor Reinhold, der sich nach Studien an verschiedenen deutschen Universitäten für die Laufbahn eines Konzertgeigers entscheidet, liegt einerseits darin, dass er sich auf Capri mit einem Stricher vergnügt und damit sein Ideal der „Reinheit“ verrät; denn trotz unterschiedlicher Affären voller leidenschaftlicher Liebesschwüre hatte der Mittdreißiger bisher offenbar keusch gelebt. Doch das allein ist es nicht: Während er auf der homosexuellen Trauminsel Sex hat, nimmt sich sein letzter Lover das Leben. Dieser Lorenzo, ein italienischer Adeliger, hatte mehr als nur glühende Küsse gewollt. Doch in dem Moment, da er Theodor – unter Aufhebung seines „Nachtgewandes“ – auffordert: „Nimm mich ganz!“ und Theodor bereits in die Knie geht, überrascht sie Lorenzos Bruder. Entsetzt stieben die beiden Liebenden auseinander. Theodor ergreift die Flucht und lässt seinen Lorenzo die Geschichte alleine ausbaden.

Dass der sich in seinem Kummer dann das Leben nehmen würde, ahnt Theodor freilich nicht. Ganz und gar überrascht haben kann es ihn aber auch nicht: Bereits seine erste Liebesbeziehung mit einem Schulfreund endet für diesen tödlich. Zwei Selbstmorde – das mag einem heute ein wenig melodramatisch vorkommen. Doch wenn man die Texte im Zusammenhang liest, dann spürt man schnell: Der Druck, den eine heteronormative Gesellschaft auf gleichgeschlechtlich Begehrende um 1900 ausübte, dazu die Unmöglichkeit, gerade wenn man „edelgesinnt“ sein wollte, eine auch sexuell erfüllende verbindliche Liebesbeziehung einzugehen, dazu die permanente Strafandrohung durch eine diskriminierende Rechtsprechung – das alles lastete anscheinend so schwer auf den Homos, dass sie zumindest in den hier versammelten Texten für ihr Dilemma nur radikale Lösungen finden.

Wenn es nicht Suizid ist, dann ist es – wie bei dem „entgleisten“ Theodor Reinhold – der Aufbruch in die „neue Welt“, also nach Amerika, wo er ein „neues Leben“, fernab des „schwülen Europa“ beginnen möchte. Theo von Tornwart wiederum, der Held aus der dritten Erzählung, ein Arzt, gibt ebenfalls sein altes Leben auf, als sein neuer Lover auch Sex mit ihm haben will, um sich irgendwo auf dem Land als Agronom neu zu erfinden. Der Reiseschriftsteller Edgar Ohlendorff aus der ersten Erzählung forciert die Nichtsesshaftigkeit, sein jugendlicher Geliebter Kurt verfällt hingegen dem religiösen Wahn. Mit anderen Worten: Ein Leben, das sie in die bürgerliche Gesellschaft ihrer Zeit integrieren würde, können oder wollen sie allesamt nicht führen. Das ist das unausgesprochene Fazit dieser „Edel-Urninge“, die uns der Band präsentiert.

Nun könnte man natürlich sagen: Tempi passati. Schwule haben heute andere Möglichkeiten. Sex ist für sie kein Tabu mehr. Und gesellschaftlich akzeptiert sind sie zumindest in Deutschland inzwischen auch. Doch hat man nicht manchmal das Gefühl, dass dabei die Ideale, anders gesagt: ein Anspruch an sich selbst, der über die Erfüllung der eigenen Liebes- und Triebwünsche hinausgeht, auf der Strecke geblieben sind? Erleben wir nicht gerade unter Schwulen heute einen Hedonismus, der hin und wieder zu selbstgenügsam anmutet? Ideale gibt es ja auch jenseits der Unterdrückung von Sinnlichkeit und Sexualität – ein doch sehr fragwürdiges Ideal.

Das Problem der „Edel-Uranier“ ist denn auch nicht, dass sie Ideale haben, im Gegenteil, das macht sie gerade für heutige Leserinnen und Leser oft sehr anrührend. Ihr Problem ist vielmehr ein bestimmtes Ideal, das sie offenbar obenan stellten: das, was sie unter Reinheit verstanden. Soziale Verantwortung zu übernehmen, die spirituelle Dimension des Lebens zu erforschen, Kunst und Kultur einen höheren Stellenwert verschaffen zu wollen in einer mehr und mehr merkantilistisch, materialistisch orientierten Welt – die drei Optionen Theo von Tornwarts, Kurt Stephans, Theodor Reinholds –, diese Ziele machen die drei markantesten Figuren der Textsammlung jedenfalls zu Sympathieträgern, deren Liebes- und Lebenswegen der heutige Leser mit Interesse folgt.

Was sie problematisch erscheinen lässt, ist der Fetisch Reinheit – ein alter deutscher Topos, den es in dieser Form kaum in anderen europäischen Kulturen gibt. Hier zeigen sich die Schwulen um 1900 auf einmal als besonders rigide Vertreter eines deutschen „Sonderbewusstseins“, wie der Historiker Hagen Schulze (in Abgrenzung von dem rein politisch gemeinten Begriff „Sonderweg“) das einmal genannt hat. Reinheit, will sagen der Hang zum Unbedingten, Absoluten, kompromisslos Guten oder Edlen hat sich in seiner Lebensferne, ja Lebensfeindlichkeit in vielen historischen Situationen – und bis heute – als ein spezifisch deutsches Problem dargestellt. Pragmatismus war schon immer die Lösung, und sie war gerade deutschen Kulturbürgern meistens zu billig, zu wenig erhaben, zu wenig anspruchsvoll. Das ist der Assoziationshorizont, den die Lektüre dieser Erzählungen eröffnet und der diese Lektüre ganz unabhängig vom historischen Ambiente so reizvoll macht.

Sicher, man erfährt in „Edel-Uranier erzählen“ auch viel über studentisches Leben anno 1900, über Verbindungswesen oder Rheinfahrten bei Mondschein „mit bengalischer Beleuchtung“, auch über die Lieblingslektüre junger schwuler Ästheten in dieser Zeit (neben Plato scheint der erste schwule Roman mit Happy End, „Friedolins heimliche Ehe“ von Adolf Wilbrandt, sehr populär gewesen zu sein, der übrigens in der Bibliothek rosa Winkel bereits vor längerem wieder veröffentlicht wurde). Aber die Pointe ist doch: So sehr sich die „Edel-Uranier“ hier in Opposition zur deutschen Gesellschaft empfinden, so typisch sind sie auch wieder für ihre Zeit – das haben sie übrigens mit den „Edel-Uraniern“ um den Dichter Stefan George gemeinsam, an den man häufig denken muss, wenn man dieses Buch liest, obwohl er darin gar nicht vorkommt, aber mental gehört er zweifellos auch hierher. Freilich sind die Figuren typisch deutsch auf ihre schwule Weise. Aber man kann offenbar auch auf eine sehr deutsche Weise schwul sein. Auch wer sich in der eigenen Kohorte fremd fühlt, gehört eben doch dazu.




Edel-Uranier erzählen
herausgegeben von Wolfram Setz
Gebunden, 304 Seiten, 20,00 €
Bibliothek rosa Winkel im Männerschwarm Verlag

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