Felix Rexhausen: Zaunwerk
Buch
Felix Rexhausen (1932-1992) war einer der ersten offen schwulen Autoren der Nachkriegszeit. Mit dem Roman „Lavendelschwert“ und dem Erzählband „Berührungen“ ist er bereits in der Bibliothek rosa Winkel vertreten. „Zaunwerk“ ist der seinerzeit nicht veröffentlichte Vorläufer dieser beiden Bücher, wiederentdeckt vom Literaturwissenschaftler Benedikt Wolf. Das Buch, bereits 1964 abgeschlossen, entfaltet ein Panorama vom Leben der Homosexuellen der alten Bundesrepublik, ihrem Leben im Versteck, ihren kleinen Freiräumen und großen Sehnsüchten. Tilman Krause empfindet den episodisch erzählten Roman als literarische Sensation.
Ein Land, in das kein Fremder eindringen kann
von Tilman Krause
Dieses Buch hätte der erste schwule Roman der jungen Bundesrepublik werden können. Es hätte darüber hinaus seiner Dokumentarhaftigkeit wegen ein Panoramabild schwulen Lebens liefern können, wie es in der deutschen Belletristik weder vorher noch nachher versucht worden ist. Jedoch hat der Autor es der Öffentlichkeit nicht übergeben. Es wird erst jetzt, mehr als sechzig Jahre nachdem es geschrieben wurde, aus dem Nachlass eben dieses Autors herausgegeben. Was wir vor uns haben, ist eine literarische Sensation.
Man kann nur darüber spekulieren, warum der in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts vielgelesene, zu den Gründervätern der damaligen Schwulenbewegung gehörende Felix Rexhausen den Roman „Zaunwerk“, der ohnehin unter Pseudonym erscheinen sollte, unter Verschluss gehalten hat. Äußerungen von ihm dazu sind nicht überliefert. Fragen kann man Rexhausen auch nicht mehr. Noch keine 60 Jahre alt ist er 1992 überraschend gestorben.
Bevor wir das Buch näher betrachten, müssen wir uns vor Augen führen, in welchem Deutschland es spielt. Dass selbst einvernehmlicher Sex unter erwachsenen Männern damals unter Strafe stand, dass in der Ära Adenauer, die erst 1963 zuende gegangen war, mehr juristische Verfahren gegen Homosexuelle angestrengt wurden als im Dritten Reich, und dass in einer restaurativen, die Familie geradezu fetischisierenden, tief traumatisierten deutschen Nachkriegsgesellschaft die soziale Stigmatisierung sexueller Abweichung noch immer gnadenlos war, spielte für die damals lebenden Homos sicherlich die Hauptrolle. Aber auch sonst war die 15 Jahre alte Bundesrepublik ein vollkommen anderes Land als dasjenige, in dem wir heute leben.
Junge Männer, sogar Studenten, siezten sich noch, wenn sie sich kennenlernten. Waren sie unverheiratet, lebten sie meist auf einer sogenannten „Bude“ als „möblierter Herr“, mit einer neugierigen Zimmerwirtin als permanenter Beobachterin, was sehr lästig sein konnte. In den Städten gab es noch jede Menge Trümmerwüsten, Brachflächen, ungenutzte Räume, die nicht nur für die Kinder ein Paradies zum Spielen darstellten, sondern auch zum Sex einluden. Überhaupt blühte die Subkultur: Öffentliche Toiletten lockten an den belebtesten Plätzen zu schnellem Konsum, öffentliche Parks waren bis in die frühen Morgenstunden tag-nächtlich ein beliebtes Jagdrevier. Und selbstverständlich gab es auch schon wieder (wie in der Weimarer Republik, ja bereits in der Kaiserzeit) Schwulenlokale aller Kategorien, allerdings noch ohne Darkrooms. Diese Welt breitet Rexhausen in „Zaunwerk“ detailliert und anschaulich aus.
Er schildert auch ausführlich die Verkehrsformen, die sich in dieser Welt etabliert hatten. Sie besaßen ebenfalls noch einen bürgerlichen Zuschnitt. Im „Monokel“, das in Rexhausens „Zaunwerk“ gewissermaßen das Handlungszentrum abgibt, in dem sich die unterschiedlichen Protagonisten immer wieder begegnen, gibt es den Tresen, an dem man stehen oder sitzen kann, aber auch einen zweiten Raum mit viel Plüsch und Plumm samt Tischen für mehrerer Personen. Angebaggert wird noch oft mit Einladungen zum Cognac; ohnehin fließt hochprozentiger Alkohol in Strömen. Spielt die Anmache sich am Bartresen ab oder in der Stadt etwa vor einem Schaufenster beziehungsweise in den nächtlichen Wallanlagen, wo in „Zaunwerk“ der anonyme Sex Triumphe feiert, sagt man noch: „Na, ganz allein hier?“ oder: „Haben Sie mal Feuer?“. Stricher locken wiederum mit einem „Wie wär’s denn mit uns beiden?“
Was uns heute wie der Standardsatz aus einem schlechten Film vorkommt, war vor dem Zeitalter der Coolness unter Schwulen offenbar gängige Münze, man diskreditierte sich dadurch nicht als spießig oder altbacken, jedenfalls gibt keine einzige der vielen bei Rexhausen vorkommenden Figuren auch nur andeutungsweise zu erkennen, dass sie sich an den Klischeeformulierungen stört. Überhaupt ist man damals in einer Weise „outspoken“, die geradezu etwas Rührendes hat. Liebeskummer und Liebessehnsucht werden umstandslos in Wendungen gekleidet, die uns heute wie aus einem Lore-Roman entlehnt vorkommen, doch wenn ein frustrierter junger Homo einem Freund schreibt: „Ich warte immer und immer auf einen Menschen, warte voll Sehnsucht darauf, jemandem meine Liebe zu schenken, ihn glücklich zu machen“, dann muss er offenbar nicht befürchten, dass der Adressat des Schreibens sich darüber lustig macht.
Aber – und dieses Aber wiegt viel: Das alles spielt, wie der Autor es im Vorwort ausdrückt, „in einem Land, aus dem keine Nachrichten herausdringen und in das kein Fremder eindringen kann“. Schwule öffneten sich seinerzeit mit ihrem Kummer genauso wie mit ihrer Freude ausschließlich den Gleichgesinnten. Sie führten das strikteste Doppelleben, das man sich vorstellen kann. Sich gegenüber Kollegen, auch wenn man freundschaftlichen Verkehr mit ihnen hatte, zu outen, war vollkommen unmöglich. In der Familie galt das Gleiche. Ohnehin scheinen die jungen Männer in „Zaunwerk“ nur mit weiblichen Familienmitgliedern, Müttern und Schwestern, in (distanziertem!) Austausch zu stehen; Brüder oder Väter kommen überhaupt nicht vor.
In einer der 23 Episoden, aus denen dieses Buch besteht, holt ein junger Mann, der in einer fremden Stadt die Wohnung seines soeben gestorbenen Großvaters ausräumt, einen One-Night-Stand dorthin und schläft mit ihm. Rexhausen lässt ihn das in indirekter Rede folgendermaßen erleben: „Und er wusste, was er tat, wusste es mit dem Bewusstsein eines düsteren Triumphes: er stellte seinen Vorfahren, seiner Familie, allen, die in diesen Zimmern vielleicht einmal geglaubt hatten, sie seien nicht zuletzt um seinetwillen überhaupt da, ihnen allen stellte er sich gegenüber, als den, der er nun einmal war, als einen, der jetzt das Entsetzen derer gewesen wäre, die hier gelebt hatten. Er konfrontierte diese Wände (…) mit einem Nachruf (…) Und in einer Mischung von Trauer und Schmerz und Siegessicherheit genoss er den heißen Leib, der sich an seinen drängte.“ Man wird in der deutschen Literatur lange suchen müssen, bis man eine ähnlich herzzerreißende Stelle findet, die das Ineinander von Bekenntnisverbot, Bekenntnissehnsucht und Bekenntnisstolz schwuler Männer so prägnant auf den Punkt bringt wie diese erstaunliche Szene!
Die Szene zeigt auch eindringlich, wie weit sich Rexhausen in „Zaunwerk“ über das Genre Reportage erhebt. Er ist viel zu sehr Psychologe, Soziologe, Philosoph, als dass er sich mit dem Protokollieren von Vorkommnissen zufriedengeben würde. Man merkt am distanzierten Ton der meisten Episoden, die sich in diesem Roman unverbunden aneinanderreihen, und die alle von versuchter, mal vergeblicher, mal geglückter, aber letztlich immer nur sehr kurzlebiger Liebe handeln, dass Rexhausen hier anknüpft an den einzigen deutschen Autor, der vor ihm Ähnliches versucht hat: Friedo Lampe. Lampe hatte, noch ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit, am Ende der Weimarer Republik sein bahnbrechendes Episodenbuch „Am Rande der Nacht“ geschrieben, das dummerweise erst 1933 herauskam und alsbald verboten wurde. Wie später bei Rexhausen marschiert hier ein Reigen lose miteinander vernetzter Figuren, alt und jung, Akademiker, Handwerker, Schausteller, auf, ebenfalls in den Wallanlagen einer Großstadt (bei Lampe ist es Bremen) samt angrenzenden Straßen beziehungsweise Vergnügungsetablissements.
Doch was Rexhausen gravierend von dem impressionistischen Stil Lampes unterscheidet, ist sein religiöser Einschlag. Immer wieder verweisen Träume der Protagonisten, aber auch Gespräche in „Zaunwerk“ auf eine Sehnsucht nach Transzendenz, wie sie zum Beispiel im alttestamentarischen Motiv der Jakobsleiter zum Ausdruck kommt, die gleich in der zweiten Episode zitiert wird. An anderer Stelle wird das Auf- und Niedersteigen an der Spanischen Treppe in Rom beschworen: als Ort der Anmache, aber eben auch als symbolischer Ort des immergleichen Aufstiegs, dem der Abstieg auf dem Fuße folgt, als Kreisbewegung, ewige Wiederholung.
Rexhausen hätte noch ein anderes Abenteuer des biblischen Jakob bemühen können: seinen Kampf mit dem Engel. Denn kämpfen tun viele in „Zaunwerk“; sie kämpfen gegen das, was den meisten von ihnen noch als „Fehler der Natur“ erscheint, als „Unglück“ für sie selbst und ihre Familien. Einige versuchen sich in die Heterosexualität oder in den Schoß der katholischen Kirche zu „retten“. Aber sie kehren alle wieder zurück in ihre Welt der Pissoire und Parks. Sie kehren zurück in die Gemeinschaft der Liebenden, Leidenden, Lästernden im „Monokel“. Und sie tun es mit einem gewissen, jawohl, Stolz. Sie tun es mit der nie versiegenden Hoffnung, dass das Glück noch kommt.
Rexhausen ging es ganz offensichtlich nicht nur um ein reportagehaftes Panoramabild schwulen Lebens anno 1964 und auch nicht nur um die Anknüpfung an verschüttete Schreibtraditionen der Weimarer Republik, sondern um das große Ganze homosexueller Existenz. Das war viel, vielleicht zu viel gewollt. Er spürte es wohl und ließ das Manuskript darum liegen. Teile von ihm, so können wir dem instruktiven Nachwort des Herausgebers Benedikt Wolf entnehmen, flossen in spätere Veröffentlichungen ein.
Doch den historischen Ort schwuler Existenz im Adenauer-Deutschland beschreibt „Zaunwerk“ gerade in seiner Überdekodierung sehr gut: Es markiert eine Epoche, die mit der Liberalisierung des Paragrafen 175 im Jahr 1969 wohl weitgehend vorbei sein sollte. Wer also wissen will, wie es sich angefühlt hat, im Nachkriegsdeutschland schwul zu sein, der wird in Zukunft an diesem exakt beobachteten, mit großer Milieukenntnis aufwartenden, dabei durchaus auch emotional mitreißenden, ja erschütternden Hybridtext nicht vorbeikommen.
Zaunwerk
von Felix Rexhausen
aus dem Nachlass herausgegeben von Benedikt Wolf
gebunden, 222 Seiten, 18,00 €
Männerschwarm Verlag
Mit Deutschland leben!
Felix Rexhausens Literatur zwischen Zersetzung und Formspiel
von Benedikt Wolf
kartoniert, 208 Seiten, 24,00 €
Männerschwarm Verlag