Borderline
Trailer • DVD/VoD
Anna und Robyn lieben sich – und gehen zusammen durch Höhen und Tiefen. Anna kann und will nicht ohne ihre Freundin sein, aber ihre inneren Dämonen halten sie davon ab, das Glück in vollen Zügen zu genießen. Offensiv autobiografisch erzählt die italienische Regisseurin Anna Alfieri in „Borderline“ die Geschichte ihrer ersten großen Liebe. Anja Kümmel über einen berührenden Tauchgang in psychische Abgründe, der verschiedene Realitätsebenen erkundet – und der jetzt im Salzgeber Club zu sehen ist.
Seelenstriptease mit Kater
von Anja Kümmel
Ist das nun eine mutige Selbsterkundung oder vielmehr narzisstische Selbstbespiegelung? Ein Film über das eigene Leben und die eigenen Emotionen, in dem die Regisseurin sich selbst spielt, und selbst ihrer Katze (nach der im Übrigen auch ihre Produktionsfirma „Oliver Pictures“ benannt ist) eine prominente Nebenrolle zuweist. Oder ist beides ohnehin nicht voneinander zu trennen? Immerhin hat die schonungslose Autofiktion eine lange Tradition und nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Hör- und Sichtbarmachen queerer, weiblicher, marginalisierter Stimmen – man denke etwa an Derek Jarman, James Baldwin, Marguerite Duras, Chris Kraus, Eileen Myles oder Ocean Vuong.
Wenn ein Werk so offensiv autobiografisch daherkommt wie das Langfilmdebüt „Borderline“ der italienischen Regisseurin Anna Alfieri, fallen natürlich zunächst die Parallelen zwischen Leben und Film auf: Die Hauptfigur heißt Anna und ist, genau wie die Regisseurin, von Italien nach London gezogen, wo sie um kreativen Ausdruck und künstlerische Anerkennung ringt. Während sich Alfieri jedoch als Schauspielerin und Filmemacherin behaupten muss, ist das Medium ihres Alter Egos das Schreiben. Und dies ist nicht die einzige der vielen Verschiebungen, die den Film letztendlich doch in den Bereich der Fiktion rücken und den ersten Eindruck eines visuellen Tagebuchs transzendieren.
Ein weiterer zentraler Verschiebungseffekt ergibt sich aus der Besetzung des love interest der Hauptfigur mit der jungen französischen Schauspielerin Agathe Ferré. Die große Liebe der Regisseurin ist nun mal weg, könnte man jetzt einwenden – um diesen schmerzlichen Verlust dreht sich schließlich der gesamte Film. Doch vermutlich steckt hinter der Casting-Entscheidung noch etwas anderes: Ferré erscheint zwar manchmal wie das nette Mädchen von nebenan, dann aber auch wieder seltsam entrückt und ungreifbar, wie eine Märchen- oder Fantasiegestalt. Und genau darum geht es in „Borderline“ auch: Die Frage, was passiert, wenn sich nicht mehr zwischen real und irreal unterscheiden lässt.
Zunächst konfrontiert Alfieri uns mit der brutalen Wirklichkeit: Wir sehen Anna verloren durch London streifen oder allein in ihrer Wohnung sitzen. Die wackelige Handkamera bleibt dicht an ihr dran, zeigt schlurfende Schritte, hängende Arme, meist aber Ausschnitte ihres Gesichts: strähnige Haare, unreine Haut, und stets eine runtergebrannte Kippe zwischen den Lippen. „I just wanna listen to my fucking inner voice … get to the core of things … get to the truth“, hören wir aus dem Off. Aber wie „echt“ ist diese mitleidslose Selbstausleuchtung wirklich? Ist nicht auch sie ein Teil der Inszenierung? Den eigenen Schmerz als Ausgangspunkt der künstlerischen Expression zu nehmen, birgt viele Klischee-Fallen, die Alfieri selbstironisch anklingen lässt, um sie dann (zumeist) elegant zu umschiffen.
Obwohl in diesem Film nicht wirklich viel passiert, ist die Chronologie der Ereignisse beim ersten Schauen verwirrend: Plötzlich sehen wir die Protagonistin glücklich lachend mit ihrer Freundin Robyn; sie füttern einander mit Erdbeeren, liegen nach dem Sex zusammen im Bett und essen Spaghetti direkt aus dem Topf, baden nachts im Meer oder küssen sich unter dem erleuchteten Eiffelturm. Sind das reale Erinnerungen an die verlorene Beziehung? Oder doch eher geschönte Fantasien? In die manchmal beinahe postkartenhaft kitschige Collage der Zweisamkeit mischen sich Bilder von einsamen Zugfahrten, zerknickten Easyjet-Tickets und langen Chat-Verläufen – ganz offensichtlich bestand die Beziehung schon damals aus längeren Phasen der Abwesenheit, digitalen Überbrückungsversuchen, aus Höhen und Tiefen und immer wieder schmerzlichem Vermissen.
Meist werden die Erinnerungen oder Sehnsüchte bruchlos zwischengeblendet wie Flashbacks, manchmal leitet uns Alfieri aber auch zu ihren Quellen, wodurch sich die Schichten von Gegenwart, Vergangenheit und Fantasie langsam entblättern: So schauen wir Anna beim Stalken der Ex auf Facebook über die Schulter oder sehen zusammen mit ihr nostalgisch-selbstquälerisch auf ihrem Laptop Filme vergangener gemeinsamer Reisen an.
Berührend sind die assoziativen Überlagerungen, etwa wenn die Protagonistin allein unter der Dusche steht und versucht sich mit einem kläglichen Rest Shampoo die Haare zu waschen, und wir sie im nächsten Moment beim fröhlichen Herumalbern mit Robyn unter eben jener Dusche sehen – ein schwindligmachendes Hin und Her zwischen Zweisam- und Einsamkeit. Einen noch stärkeren Kontrast zum tristen Jetzt bilden Erinnerungen an stille Bergseen, verschneite Landschaften oder eine Sommeridylle irgendwo in Italien oder Südfrankreich mit lautem Grillenzirpen als Soundscape, während Anna ziellos durch die hektische, neondurchzuckte Londoner Nacht wandert.
Überhaupt, der Sound: Alfieri setzt Musik und Geräusche auf vielfältige und subtile Weise ein, die die Ebenen des Geschehens noch enger miteinander verzahnt und zugleich für gelegentliche Irritationsmomente sorgt. In einigen Szenen etwa läuft Anna durchs neongrelle London, während ein alter französischer Chanson von einer Schallplatte abgespielt wird. In anderen sind Bild und Tonspur leicht versetzt zueinander montiert, so dass wir das Klicken eines Feuerzeugs oder das Rauschen eines Wasserhahns hören, die erst in der nächsten Einstellung – und damit manchmal auch auf einer anderen Zeitebene – zu sehen sind. „Borderline“, begreift man allmählich, verweist nicht so sehr auf die gleichnamige Persönlichkeitsstörung, sondern vielmehr auf die oftmals willkürlichen Grenzziehungen zwischen den verschiedenen Realitätsebenen, die der Film erkundet.
Wobei das Thema „psychische Krankheit“ durchaus eine Rolle spielt: In einer Dialogszene sehen wir Robyn, die Anna aus ihrer Lethargie zu reißen versucht, während Anna beginnt, voller Verzweiflung und Selbsthass von den depressiven Schüben seit ihrer Jugend zu sprechen. Ob es sich hierbei um eine Erinnerung handelt, ob also die vormals so ungetrübt wirkende Beziehung bereits von Annas Depressionen überschattet war, oder ob sich Anna in ihrem gegenwärtigen trostlosen Zustand Robyn an ihre Seite wünscht, bleibt wiederum offen.
Dass Alfieri beim Tauchgang in die Abgründe ihres Alter Egos ab und zu übers Ziel hinausschießt, ist beinahe unvermeidlich und damit verzeihlich. Allzu symbolträchtig wirkt etwa die Szene, in der Anna mit der Faust ihr eigenes Spiegelbild zerschlägt, um dann, aus ihrem Schmerz geläutert, erneuert hervorzugehen. Aber ist es überhaupt möglich, den Tiefpunkt einer seelischen Krise filmisch darzustellen, ganz ohne bekannte Bilder zu bemühen?
So legitim der Fokus auf den Liebeskummer und die persönliche Katharsis der Hauptfigur auch ist, gelegentlich hätte man sich eine Erweiterung des Blicks gewünscht. Zwar werden viele Themen am Rande mit verhandelt – Suchtmittel, Social Media, die beengten Wohnverhältnisse und die Anonymität der Großstadt, die schwierige Selbstbehauptung als Künstlerin – doch fehlt ein wenig die Außenperspektive. Als einziges (reales) Gegenüber der Protagonistin tritt immer wieder Oliver, die Katze der Regisseurin, ins Bild. Andere Menschen jedoch kommen kaum vor; wir erfahren nichts über Annas Freund_innen, Kolleg_innen oder ihre Familie. Diese Verengung des Blickfelds spiegelt sicherlich die Verkapselung der Hauptfigur in ihrem Kummer, für die Zuschauer_innen jedoch wäre ein bisschen mehr Kontext bisweilen hilfreich gewesen.
„Borderline“ als Operation am offenen Herzen zu lesen, wie es Alfieri selbst beschreibt, macht neugierig, kitzelt unsere Lust am Voyeurismus, greift letztendlich aber viel zu kurz. Denn was diesen Film auszeichnet, ist gerade nicht seine gekonnte Herstellung vermeintlicher „Authentizität“, sondern die Art und Weise, wie er diese immer wieder in Frage stellt – ohne sich dabei in intellektuellen Meta-Ebenen zu verlieren.
In einer Schlüsselszene, die Alfieri wohl nicht zufällig ziemlich genau in die Mitte des Films platziert, sprechen Robyn und Anna irgendwo unter mediterranem Sonnenlicht darüber, ob Schreiben notwendig autobiografisch sein muss. Wäre es langweilig, ein Buch über fortwährendes Liebesglück zu lesen? Muss man etwas Dramatisches erleben, um ein Drama schreiben zu können? Ganz nebenbei offenbart sich so die Tragödie, in die diese Idylle eingebettet ist, als beinahe zwingender Plot-Twist, vielleicht gar notwendiger Katalysator der Kreativität. Zum Kern, zur Wahrheit vorzudringen, dieser leidenschaftlich vorgetragene Wunsch am Anfang des Films, bleibt unerfüllt – und dient zugleich als Sprungbrett für etwas ganz anderes.
Borderline
von Anna Alfieri
UK 2021, 80 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber
Hier auf DVD.