Svealena Kutschke: Gewittertiere

Buch

Als nach dem Mauerfall die Angst vor Zuwanderung aus dem Osten geschürt wird, beginnt der Vater von Colin und Hannes damit, einen Bunker im Garten zu graben. Fortan suchen die Geschwister in einem Land, in dem rechte Gewalt zum Alltag gehört, ihren Platz jenseits privater und gesellschaftlicher Machgefüge. Colin geht es in ihrer Liebe zu Eda auch um eine Art Erlösung und Hannes erhält in seinem Beruf als Gerichtsvollzieher eine Macht, der er sich kaum entziehen kann. In ihrem neuen Roman „Gewittertiere“ erzählt Svealena Kutschke vom Aufwachsen in einer norddeutschen Reihenhaussiedlung und dessen Folgen. Anja Kümmel über eine komplexe Geschichte voller guter Unebenheiten.

Familiengefüge mit feinen Bohrlöchern

von Anja Kümmel

Das Publikum sitzt im Stuhlkreis um einen gigantischen Wohnzimmerteppich, zusammen mit den Schauspieler_innen, die gerade nicht sprechen. Es geht um Ausgrenzung, Angst und Gewalt, um Rassismus, Klassismus und Homophobie in all ihren subtilen und weniger subtilen Ausprägungen. Ein intensives, dichtes, bisweilen beklemmendes Erlebnis, das kein Entkommen erlaubt, in „zu unseren füßen das gold, aus dem boden verschwunden“, dem ersten Theaterstück der Autorin Svealena Kutschke, 2019 uraufgeführt am Deutschen Theater in Berlin. Der wohl eindrücklichste Moment: Die in der Mitte der „Bühne“ hängende Deckenlampe wird in Bewegung gesetzt und fliegt ein paar Runden im Kreis, scheint den Zuschauer_innen für je einen Sekundenbruchteil direkt ins Gesicht: Ja, ihr seid gemeint!

Kutschkes neuer Roman „Gewittertiere“ greift die großen Themen dieses klaustrophobischen Kammerspiels wieder auf, doch statt Momentaufnahmen aus einem Pankower Hinterhof zeigt er das Auseinander- und wieder Zueinanderdriften einer dysfunktionalen Familie über einen Erzählzeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg. Einige Figuren aus dem Theaterstück begegnen uns im Lauf des Romans wieder: Der dauerbetrunkene Gerichtsvollzieher, das junge lesbische Paar, die türkischstämmige Pflegerin, die Späti-Verkäuferin, das mittelalte, getrennte Hetero-Paar. Die Konstellationen aber haben sich verschoben, und die Geschichte, die Kutschke mit ihren und durch ihre Figuren hindurch erzählt, ist eine andere.

„Gewittertiere“ setzt ein in den 1980er Jahren, der Kindheit und Jugend seiner Hauptfiguren Colin und Hannes. Die Geschwister wachsen auf in einer gesichtslosen norddeutschen Reihenhaussiedlung, zwischen „Drei ???“-Kassetten, Scheibletten-Käse, schlecht synchronisierten Hollywood-Filmen und einer latenten Angst vor Atomkatastrophen. So weit, so wohlig der Wiedererkennungseffekt vermutlich vieler Leser_innen. Doch Kutschke punktiert ihr popkulturelles Potpourri mit feinen Bohrlöchern, die sehr viel tiefer in die Vergangenheit reichen. Warum etwa ist Colin (die zunächst auf den Namen Cornelia hört) „ein altes Kind“, unerklärlich distanziert von ihren eigenen Gefühlen, „ein Trabant in der Umlaufbahn der Beckers“? Und warum ist Martin Becker, ihr Vater, so grundlos wütend auf seinen plumpen, ungeschickten Sohn Hannes?

Svealena Kutschke – Foto: Alexander Malecki

Anstatt Empathie füreinander oder ihren Nachwuchs aufzubringen, begreift man allmählich, sind Nora und Martin Becker noch immer vollauf damit beschäftigt, die Wunden ihrer eigenen lieblosen Nachkriegskindheit zu lecken. Zwar fällt an keiner Stelle der Begriff „transgenerationale Traumata“, doch lässt „Gewittertiere“ keinen Zweifel daran, dass die beinahe körperlich fühlbaren Stränge in eine unbewältigte Vergangenheit hinein das eigentlich verbindende Element der in den 1970er bis 90er Jahren in Deutschland Aufgewachsenen darstellt – mehr jedenfalls als Schlaghosen, Nutella oder NKOTB.

Ebenso präzise seziert die Autorin (selbst 1977 in Lübeck geboren) die geschlechtsspezifische Sozialisation und das sexuelle Erwachen ihrer Protagonistin: subtile Übergriffe durch Sportlehrer, die derart normalisiert sind, dass die Jugendlichen sie nicht einmal benennen können. Das unausgesprochene Wissen: Hübsche Mädchen dürfen auch mal schlabbrige Jungsklamotten tragen, ohne dafür gemobbt zu werden – Cornelia jedoch nicht. Abschätzige bis lüsterne Blicke beim FKK-Campen, die suggerieren: „Ihr Körper musste eine Quelle der Scham sein.“

Erst als Maximiliane in Cornelias Leben tritt, zeichnet sich ein Hoffnungsschimmer ab: Sie bekommt nicht nur einen neuen Namen verpasst, auch sonst passiert so einiges in ihr: „Colin war zwölf Jahre alt und verliebt, ohne es so zu nennen. Denn verliebt, das wusste sie, war ein Mädchen nur in einen Jungen. Sie wusste auch, dass Max überall in ihrem Körper brannte.“ Nur leider gibt es in den frühen 90ern kaum Lesben in der Popkultur, geschweige denn in der Kleinstadt, in der Colin aufwächst – und so bleibt es (vorerst) bei ein paar betrunkenen Küssen.

Für das diffuse Bedrohungsgefühl, das Nora und Martin Becker ihr Leben lang begleitet und das sie in leicht verschobener Form auf ihre Kinder übertragen, findet die Autorin eine geniale Metapher, die sich durch das gesamte Buch zieht: der Bunker im Vorgarten. Absurderweise getriggert durch den Mauerfall und die rassistischen Anschläge in Lichtenhagen, Mölln und Hoyerswerda, beginnt Martin ein Loch im Garten auszuheben, während Nora sich in distanzierter Betroffenheit angesichts der Fernsehbilder von brennenden Asylbewerberunterkünften übt. Die perfide Täter-Opfer-Verkehrung in vielen deutschsprachigen Medien spiegelt sich direkt in Martins wachsendem Misstrauen gegenüber allem und jedem, in Noras hilflosen Gesten: noch eine Kerze anzünden, noch eine Petition unterschreiben. Zugleich klingt überdeutlich durch, wie viel schwerer der eigene Schmerz, das eigene Gefühl des Ungerecht-Behandelt-Werdens wiegt. Anders als etwa im großartigen Debütroman „Lärm und Wälder“ von Juan S. Guse transportiert der Bunker im Vorgarten hier keine düstere Endzeitstimmung, sondern fällt ganz wortwörtlich immer wieder in sich zusammen, bevor er ein allzu aufgeladenes Symbol werden kann. Irgendwann ist Martin Becker so frustriert von seinen fruchtlosen Bemühungen, dass er nur noch unter der blauen Bauplane sitzt und Bier trinkt.

Es ist genau diese leicht ironische Distanziertheit zu seinen Figuren, die den Roman trotz seiner schwerwiegenden Themen in einer luftigen Schwebe hält. Allerdings hat die auktoriale Draufsicht an manchen Stellen den Nachteil, dass sie einer Überfülle an analytischem Beiwerk Vorschub leistet, die es nicht gebraucht hätte. Schließlich versteht Kutschke es ausgezeichnet, Stimmungen und subtile Dynamiken über Dialoge, Gesten und Blicke zu vermitteln. Erklärende Zusätze à la „Die einzige wirkliche Rebellion gegen die eigene Mutter, die Nora kannte, war die Autoaggression; das vielleicht schwierigste Erbe, das sie ihren Kindern vermachte“ oder „Martin und Nora Becker gehörten zu den Kriegsnachgeborenen, die glaubten, die eigene Empörung, das Entsetzen, die Distanzierung von Taten kennzeichne sie als Unschuldige“ wirken da eher überflüssig.

Wer Kutschkes Vorgängerwerke kennt, darf vermuten, dass hinter dieser Tendenz zum allzu griffigen Zusammenfassen nicht so sehr ein Mangel an Vertrauen ins eigene Können steckt, sondern vielmehr der unsägliche Trend des hiesigen Literaturbetriebs, die Leserschaft allzu fest an die Hand zu nehmen. So ließen Kutschkes erste beiden Romane spürbar lustvoll eine Menge Leerstellen und warfen den Leser_innen die ein oder andere ziemlich schräge Metapher vor die Füße. Eindeutige Messages oder auch nur psychologische Nachvollziehbarkeit aus ihnen herauszufiltern, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit gewesen sein – und das war gut so.

Aber nun sind wir im Jahr 2021, und die Bereitschaft der meisten Publikumsverlage, ihre Leserschaft intellektuell und emotional herauszufordern, ist rapide gesunken. Bücher wie „Gewittertiere“ stellen in diesem Kontext ein Risiko dar, das es zu minimieren gilt – was jedoch (zum Glück!) nicht vollends gelingt. Offensichtlich wird das in der zweiten Hälfte des Romans, die in Berlin spielt, während sich der Plot langsam aber sicher ins Jetzt schraubt. Beide Geschwister sind in der Hauptstadt gelandet: Hannes kompensiert als Gerichtsvollzieher seine früheren Ohnmachtsgefühle; Colin ist nach einigen missglückten Beziehungsversuchen mit der androgynen Eda liiert, deren Eltern aus der Türkei stammen. Das Panorama des Pankower Hinterhofs hat sich aufgesplittet und über die gesamte Stadt verteilt. Auch die Themen werden dadurch weiter, komplexer, facettenreicher: Wie wird ein geschlechtlich uneindeutiger Körper in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Wie ein weiblich gelesener an der Seite einer Butch? Und warum kümmert sich Eda nach einem rassistischen Übergriff nicht als allererstes um die eigenen Verletzungen, sondern um Colins Schuldgefühle?

Hat sich das Familiengefüge erst einmal aufgelöst, fallen die Mitglieder aus ihren vorgesehen Rollen, und nichts erscheint mehr selbstverständlich. Die Lampe in der Bühnenmitte hat sich in Bewegung gesetzt; es gibt sehr viel Dunkelheit und dann, plötzlich und immer wieder, ein blendendes Licht. Ja, wir sind (auch) gemeint. Spätestens jetzt wird klar: Dieser Roman ist zu komplex, seine Figuren zu facettenreich, um seine Leserschaft um jede Lücke herumzuführen, ihr über jede Unebenheit hinwegzuhelfen. Und das ist gut so.




Gewittertiere
von Svealena Kutschke
Hardcover mit Schutzumschlag, 368 Seiten, 24,00 €
Claassen Verlag

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