Tiny Tim

TrailerDVD/VoD

Genie, Freak, Superstar. Tiny Tim (1932–1996) ist eine der skurrilsten Figuren der Musikgeschichte. Mit Ukulele und Falsetto-Gesang erobert er die Konzertbühnen der USA. Seine schräge Cover-Version von „Tip Toe Through the Tulips“ wird ein Megahit – und doch von vielen nur verlacht. Er spielt in der Royal Albert Hall, seine Hochzeit sehen über 45 Millionen Zuschauer:innen im Fernsehen, unter Musikern wird Tiny Tim verehrt, er arbeitet mit Jimi Hendrix und den Beatles – und Bob Dylan ist bis heute Fan. Liebevoll zeichnet Regisseur Johan von Sydow in „Tiny Tim“ das Leben eines wunderbar-campen Künstlers nach, der Frauen und Männer liebte und mit seiner queeren Persona zwischen allen Polen changierte. Christian Horn über ein faszinierendes Porträt voller Melancholie, das es jetzt im Salzgeber Club und auf DVD zu sehen gibt.

Foto: Salzgeber

Zwischen Glamour und Camp

von Christian Horn

Ein minimalistischer Einstieg in grobkörnigem Schwarzweiß: Spotlight auf Tiny Tim, der vor dunklem Hintergrund auf der Bühne steht. Eine einprägsame Erscheinung, gleichermaßen exzentrisch und fragil: kariertes Jacket und breiter Schlips, Gebiss und Nase übergroß, lange Locken, wuchtige Brauen. Im Duett mit sich selbst und seiner Ukulele singt Tiny Tim abwechselnd den weiblichen und männlichen Part aus „I Got You Babe“ von Sonny und Cher. Der Wechsel der Blickrichtung diktiert den Takt der Schnitte, alles ist auf die „sissy voice“ getaufte Falsettstimme, das überspitzte Spiel mit Geschlechtsidentitäten und das schiere Charisma des Protagonisten fokussiert.

„Tiny Tim for President! Tiny Tim for Queen!“, befand John Lennon. Musik und Persona des Vorreiters von David Bowie oder Boy George entzogen sich eindeutigen Zuordnungen. Tiny Tim war Outlaw und Star, eine geschundene Seele und eine heitere Laune der Popkultur. Eine skurrile Person, die der progressive Geist der 1960er zu kurzem, dafür goldenem Ruhm zwischen Glamour und Camp trug.

Johan von Sydow widmet dem musikalischen Solitär ein Filmporträt, das diverse Originalbilder kreativ mit Animationen und aktuellen Interviews verwebt. Auf Grundlage der 2016er Biographie „Eternal Troubadour: The Improbable Life of Tiny Tim“ von Justin Martell zeichnet der Film Tiny Tims schillernden Auf- und Abstieg nach. 1932 als Herbert Khaury in Manhattan geboren, entfloh das Kind einer jüdischen Polin und eines christlichen Libanesen dem ruppigen Elternhaus per Straßenmusik, tingelte durch Bars und wurde als „Larry the Human Canary“ in der Freak Show am Times Square verlacht.

Ein bisexueller Außenseiter, der zwischen den Stühlen saß und den es siegesgewiss ins Rampenlicht zog, der das Publikum belustigte, ergriff, irritierte und schließlich für sich gewann. Auftritte im „Black Pussycat Club“ in Greenwich Village oder im Szenetreff „The Scene“ brachten ihm einen Ruf und einen guten Plattenvertrag ein. Seine Cover-Version von „Tip Toe Through the Tulips“ avancierte zum Hit, der selbsternannte Freak zum umschwärmten Star. Tiny Tim performte im Geist der Revuemusik und coverte zeitgenössische Popsongs, tourte mit Ukulele und Einkaufstasche durch die USA und Europa. Jim Morrison und Jimi Hendrix waren Fans, Bob Dylan plante eine nie realisierte Filmproduktion mit dem Star der Stunde.

Foto: Salzgeber

Der Editor Stefan Sundlöf montiert das bunt durchmischte Material zu einer kompakten Reise durch Tiny Tims steile Karriere. Konzertmitschnitte auf 16mm oder VHS, in Technicolor strahlende Ausschnitte aus TV-Shows, Schwarzweißfotografien, Magazincover und -artikel vermessen den fluiden Protagonisten. Gespräche mit Wegbegleiter*innen wie der Witwe Sue Gardner oder dem Freund Johnny Pineapple schneiden auch düstere Aspekte seines Charakters an. Tiny Tim verstieg sich in katholische Wahnideen, haderte mit seiner Sexualität und trat im Umgang mit Frauen oft grenzwertig auf, bis hin zum Telefonsex mit einer Minderjährigen.

Einblicke in Tiny Tims beizeiten unsortierte Innenwelt gewähren Auszüge aus Briefen und Telegrammen und die Texte der exemplarisch ausgewählten Stücke verschiedener Stilphasen – vor allem aber die vom Tiny-Tim-Verehrer „Weird Al“ Yankovic vorgetragenen Tagebucheinträge, die Johan von Sydow mit monochromen Animationspassagen illustriert. Ein Clou des Films, der die klassische Dokumentarform aufbricht.

Foto: Salzgeber

Den Höhepunkt erreichte Tiny Tims Ruhm im Dezember 1969, als er live vor den Fernsehkameras der „Tonight Show“ die 17-jährige Victoria Mae Budinger heiratete. Rund 40 Millionen Zuschauer*innen verfolgten das Event, ein sensationeller zweiter Platz hinter der fünf Monate zuvor übertragenen Mondlandung. Die Hochzeitsfeier war so groß aufgezogen, dass sie einen lokalen Stromausfall auslöste.

Rückblickend läutete der Kurzschluss den Anfang vom Ende ein. Der Stern des einstigen Stars sank, Alkoholismus, Diabetes und die Trennung von Vicky zementierten den Absturz. Tiny Tim wirkte abgehalftert, nahm stark zu und nannte sich selbst „Ex-Star“. In den 1980ern ließ sich die einstige Ikone von den „big boys“ der Mafia finanzieren und scheiterte wiederholt am Versuch eines Comebacks. Sein Rekord im Dauersingen wurde vom „Guinness Buch der Rekorde“ ignoriert, das Talent verpuffte bei Auftritten als Clown im Billig-Slasher „Blood Harvest“ und traurigen Zirkusmanegen.

Foto: Salzgeber

Schon die interessante Vielfältigkeit des Filmmaterials, das nebenher die technische Entwicklung von den frühen 60ern bis Mitte der 90er aufzeigt, hebt den Film von konventionellen Filmporträts ab. Hinzu kommen die stimmungsvollen Trickfilmpassagen und die ohnehin für sich sprechende Ausstrahlung des Protagonisten, die seinen Erfolg ein Stück begreifbarer macht.

Besonders die Aufnahmen des Avantgarde-Filmers Jonas Mekas, der einige der ersten Auftritte in kontrastreichem Schwarzweiß und mit suchender, tastender Kameraführung festhielt, vermitteln ein Gefühl für den faszinierenden Eindruck, den Tiny Tim auf der Bühne hinterließ. Umso melancholischer wirkt das letzte Drittel des Films, das den Abstieg zeigt. In einem der letzten Mitschnitte kippt Tiny Tim mitten in einer Konzertansage vor laufender Videokamera um. Ein schockierender Knall. Das passt.




Tiny Tim
von Johan von Sydow
HR/NO/SE/US 2020, 78 Minuten, FSK 0,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier als DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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