Sequin in a Blue Room

TrailerDVD/VoD

Sequin ist 16 und steht auf anonyme Sexdates, die er per App klar macht. Dabei hat er nur eine Regel: Nie einen Kerl zweimal treffen! Bis er über einen Chat im Blue Room landet, einer mysteriösen Gruppensex-Party ohne Limits. Dort gerät er in den Bann eines betörenden Fremden. In seinem berauschenden Debütfilm „Sequin in a Blue Room“, den es ab jetzt im Salzgeber Club und auf DVD gibt, bettet Samuel Van Grinsven das sexuelle Erwachen eines Teenagers in einen lustvollen Thrillerplot ein, in dem der australische Shooting-Star Conor Leach als rothaariger Twink im Pailettenhemd funkelt. Stefan Hochgesand über Romantik und Sex im Blue Room – und was das mit Bertolt Brecht zu tun hat.

Foto: Salzgeber

Blau ist keine warme Farbe

von Stefan Hochgesand

Der Philosoph Frank Jackson hat 1982 ein spannendes Gedankenexperiment entworfen: Mary, eine Spezialistin fürs Sehen, lebt in einem Raum, der gänzlich schwarzweiß beschaffen ist. Zudem sieht Mary die Welt außerhalb dieses Raums nur mittels eines Schwarzweiß-Fernsehers. Theoretisch weiß Mary, welche Wellenlängen physikalisch auf unsere Netzhaut fallen müssen, damit wir, zum Beispiel, die Farbe Blau sehen. Theoretisch weiß sie alles übers Licht und über Farben. Praktisch hat sie niemals mit eigenen Augen eine Farbe gesehen. Die Frage des Gedankenexperiments: Wenn Mary zum ersten Mal ihren Schwarzweiß-Raum verlässt und die farbige Welt außerhalb betritt, lernt sie dann etwas dazu? Was für ein Mindfuck!

Auch Sequin, 16, im Film „Sequin in a Blue Room“ lebt in einem Raum von ganz spezifischer Farbgebung. Das heißt, er lebt nicht gänzlich darin, aber seine Aufmerksamkeit (samt Erinnerung an die Vergangenheit und Zielsetzung für die Zukunft) konzentriert sich eben so sehr auf diesen titelgebenden blauen Raum, dass die Welt außerhalb kaum noch etwas zu bedeuten scheint. Das monochrome Blau – man kommt im schwulen Kinokontext kaum umhin, darin nicht auch eine Referenz auf Derek Jarmans letzten Film „Blue“ (1993) zu sehen, in dem der Regisseur seine Erblindung als Folge von Aids reflektiert. Oder, falls man zu jung ist für diesen Film, denkt man vielleicht an das lesbische Liebesdrama „Blau ist eine warme Farbe“  (2013) – oder daran, dass in „Love, Simon“ (2018), der ersten Major-Studio-Produktion über einen schwulen Teenager, der Online-Nickname des anonymen Love Interest von Simon eben auch wie heißt? Klar, Blue.

Ist Blau also eine queere Farbe? Der Junge, der sich Sequin nennt, switcht sich durch Grindr-artige Chats – und ist dabei doch alles andere als artig. Er treibt es gern mit Männern, die dreimal so alt sind wie er. Dann kommt er nach Hause, und sein Papa (kein Sugar Daddy, sondern der leibliche), scherzt noch in seiner Verständnishaftigkeit, das sei ja jetzt ein bisschen kurz für ein Date gewesen. Wenn der wüsste! Unter der Dusche perlt Wasser ab über Sequins sommersprossige Ginger-Gay-Schulter, es schäumt und der Teenager wiegt sich lüstern in der Erinnerung an das, was eben noch wahr und wahrhaftig und leibhaftig war: der Sex, der nun in Flashbacks über uns hernieder prasselt.

Sequin trägt ein Federkleid aus Pailletten. Fun Fact: Sequin heißt Paillette auf Englisch. Durch den Metallglitzer wirkt es manchmal fast, als wäre Sequin eine Discokugel. Nicht weil er rundlich wäre, nein: Sequin ist skinny und er ist ein „curious twink“, wie man auf seinem Sex-Chat-Profil lesen kann, und wenn er sein eigenes Profil stalkt, ist er „0 m away“. Solche Online-Schriften und -Bilder werden in „Sequin in a Blue Room” stets direkt ins Bild der so genannten Außenwelt projiziert – sie sind also mit ihr gleichwertig. Sequin ist ein Digital Native. Heimisch ist er im Zwischennetz, das wir Internet nennen. Gibt es ein „richtiges“ Leben im „falschen“? Ein Offline-Leben im Online-Leben?

Foto: Salzgeber

Bei Sequin eher nicht. Selbst als sich der Cutie aus dem Englisch-Kurs in der U-Bahn-Station neben ihn setzt, mit Topfschnitt-Frisur wie ein amtlicher Narziss, hat Sequin keinen Bock, Goldmund zu sein, sondern er switcht sich lieber durch die Torsos in der Online-Applikation. Ja, hier lernt er die Leute kennen, die die Hände auf sein Gesäß pressen. Auch den Typ, der weiße Hemden trägt und hinterher sorgenvoll und erregt fragt: „Wie alt bist du wirklich?“ 18 lässt der nicht gelten als Antwort, also sagt Sequin die Wahrheit: 16. Oh wei. Doch Sequin macht den Deal klar: Zweimal trifft er sich mit niemandem. Das kapiert jeder, der das Wort verinnerlicht hat: One-Night-Stand.

Doch der Typ spürt ihn wieder auf im titelgebenden Blue Room. Er verfolgt ihn im blauen Raum, der eine Gang-Bang-Sex-Party beherbergt. Sequin hat, gleichsam hypnotisiert, von der Party online erfahren, als er während des Unterrichts auf den Screen starrte – als seine Lehrerin ausgerechnet den klassisch-romantischen Liebesroman „Wuthering Heights“ von Emily Brontë interpretierte. Doch Sequin findet Analsex spannender als die Analyse klassischer Literatur. Der blaue Raum zieht ihn magnetisch an: blaue Neonröhren, Plastikvorhänge, quasi transparent, doch gezeichnet vom blauen lichterlohen Licht. Techno, Stöhnen und Sirenen. Wie ein Engel schwebt Sequin durch die Gänge, doch der Typ, der ihn verfolgt, gibt der Szene etwas höchst Verstörendes. Rettung findet er bei einem anderen Typen. Die Blickdramaturgie beweist: Es ist doch Platz für Romantik in dem blauen Room. Wer hätte das gedacht? Sequin lässt gar den Pailletten-Panzer fallen. Es ist, als hätten sie Bertolt Brechts „Über die Verführung von Engeln“ gelesen: „Steck ihm die Zunge in den Hals und lang / ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell / Ihn, das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock / Und fick ihn.“ Besser als „Wuthering Heights“. Sphärische Sounds umnebeln uns, doch die Liebenden verlieren sich schon bald.

Foto: Salzgeber

Sequin denkt auch im realen Leben nur noch an den blauen Raum. Dabei hat es die Kamera bisher vermieden, blaue Farben einzufangen in der Außenwelt. Aber nun sieht Sequin unter seinen Frühstücksflocken: eine blaue Flocke, gleichsam einer blauen Pille. Ist es Prep? Ist es Viagra? Ist es die blaue Pille, die es gestattet, in der Matrix zu bleiben? Unerhört: Sequin fasst sich in den Schritt, während seine Englischstunde läuft. Und er holt sich auf dem Klo einen runter – während sich der Topfschnitt-Cutie aus seiner Klasse auch einen wichst, in der Parallelkabine. Die Splitscreen-Einstellung suggeriert ein Glory Hole. Schnell machen sie noch ein Kinodate klar für einen cheesy Film am Abend. Doch Sequin vermasselt es – er hat nur noch seinen Lover aus dem blauen Raum vor Augen, den er wiederfinden will, koste es, was es wolle.

Wie „Sequin in a Blue Room“ das Coming-of-Age eines schwulen Digital Natives inszeniert, hat schon etwas Unerhörtes. Im besten Sinne: Die Thriller-Szenen beschwören das Unheimliche. Wohin will das Drehbuch? Plötzlich scheint alles möglich in Sequins Leben. Und so muss es sich ja auch für ihn anfühlen. Der Film weist zudem gewisse Parallelen zum österreichischen Post-Gay-Mindfuck-Thriller „Nevrland“ (2019) auf: Auch dort flüchtet sich ein Teenager, der allein beim Vater lebt, in eine faszinierende, horrende Sexchat-Parallelwelt.

Foto: Salzgeber

Wie Newcomer Conor Leach diesem Sequin innerhalb nur einer Szene ein Dutzend diverser Gefühlsausdrücke glaubhaft ins Gesicht und auf den Leib zaubert, ist ganz großes Kino. Wie Mary, im eingangs erwähnten Gedankenexperiment, darf Sequin schließlich innerlich den monochromen Raum verlassen, um ein viel größeres Spektrum an Farben zu sehen. Und ja, er lernt dabei sehr viel hinzu, auch über die Liebe, von der er zuvor nur aus „Wuthering Heights“ und „Twilight“ wusste. „Sequin“ ist nicht „nur“ sexy-sinnlich, sondern auch sinnstiftend.




Sequin in a Blue Room
von Samuel Van Grinsven
AU 2019, 80 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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