Mark Gevisser: Die pinke Linie

Buch

Während bei den Themen sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität in vielen Ländern große Liberalisierungsfortschritte stattfinden, sind queere Menschen in anderen Ländern noch immer politischen Diskriminierungen ausgesetzt. Mark Gevisser zeichnet diese Konfliktlinie – die „pinke Linie“, wie er sie nennt – rund um den Globus nach. Er schildert, wie nicht-heterosexuelle Paare und Familien für rechtliche Gleichstellung kämpfen, und spricht mit von Diskriminierung Betroffenen in Kenia, Ägypten und den USA. Florian Birnmeyer hat Gevissers Kombination aus Reportage und Analyse gelesen.

Kulturkampf

von Florian Birnmeyer

In Viktor Orbáns Ungarn werden derzeit durch verschiedene Gesetzesänderungen die Rechte von LSBT-Menschen stark eingeschränkt. Mark Gevisser beschreibt diesen Kulturkampf zwischen fortschrittlichen und konservativen Kräften um die Rechte queerer Menschen als eine pinke Linie, die durch die ganze Welt, aber auch durch das Land Ungarn selbst verläuft. Solchen pinken Linien spürt Gevisser in seinem Buch mit viel Sachverstand nach.

Gevisser lebt mit seinem Mann in Südafrika, das als erstes afrikanisches Land 2006 die gleichgeschlechtliche Ehe einführte. Im weiter nördlich gelegenen Land Malawi werden dagegen Abweichungen von der sexuellen Norm streng geahndet.

Die titelgebenden pinken Linien sind Grenzlinien, die entweder innerhalb eines Landes oder zwischen verschiedenen Ländern auf einem Kontinent verlaufen. Sie trennen Gesellschaften, in denen queeres Leben und Menschenrechte für queere Menschen selbstverständlich geworden und akzeptiert worden sind von solchen, in denen homosexuelle, bisexuelle, intersexuelle und transidente Menschen bis heute aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt, ausgeschlossen oder gar kriminalisiert werden.

Mark Gevisser – Foto: Fiona McPherson

Gevisser ist einmal um den gesamten Globus gereist, um solche Grenzziehungen für seine Leser*innen sichtbar, erkennbar und nachvollziehbar zu machen. Die Reisen, die der Autor zwischen 2012 und 2018 geführt hat, mündeten in ein 600-seitiges Kompendium über queeres Leben in Deutschland, Frankreich, Uganda, Kenia, Mexiko, Argentinien, Russland, Israel, der Türkei, Ägypten, Thailand, Indonesien und Indien. Das Buch ist allerdings weniger eine Reisereportage (obwohl dieser Aspekt auch hineinspielt) als eine Abfolge von 16 Fakten- und Portrait- bzw. Reportagekapiteln.

In den Faktenkapiteln geht es um unterschiedliche Aspekte des Kulturkampfs um geschlechtliche und sexuelle Freiheit für LSBT-Personen, wobei sich der Fokus im 21. Jahrhundert zunehmend vom Kampf für Homosexuellenrechte oder die Ehe auf das nunmehr stark umkämpfte Schlachtfeld der Geschlechterfreiheit und Transrechte verlagert hat. Es wird im Laufe des Buches auch klar, dass sich dieser Kampf in unterschiedlichen Gesellschaften, je nachdem, wie weit sie sich bei den Menschenrechten bereits vorwärts bewegt haben, in unterschiedlichen Stadien befindet – und selbst in geographisch relativ nah beieinander liegenden Staaten wie einigen afrikanischen Staaten und Südafrika der Stand sehr unterschiedlich sein kann.

In westlichen Gesellschaften versuchen dagegen rechte (christliche und konservative) Gruppen eine Gegenbewegung in Gang zu setzen und Stimmung gegen die Rechte von queeren Menschen insgesamt zu machen, vor allem aber von inter und trans Menschen. In den USA wurde der Begriff „culture war“ geprägt, um die Spaltung der Nation in Bezug auf moralische Fragen zum Ausdruck zu bringen, die von der Republikanischen Partei betrieben wurde, um Wähler*innen zu mobilisieren. Gevisser verwendet außerdem die Begrifflichkeit „moralische Panik“, die von bestimmten Gruppen bewusst und zielgerichtet mithilfe von Medien, Demonstrationen und auch Fehlinformationen ausgelöst wird, um eine politische Agenda gegen LSBT-Personen durchzusetzen.

Ein Beispiel für diese rechten Bewegungen sind die „Demos für alle“ („Manifs pour tous“) in Frankreich, die auch nach Deutschland kamen, als es um die Öffnung der Ehe für schwule und lesbische Menschen ging. Die rechten Bewegungen in westlichen Staaten wenden ihre Aufmerksamkeit immer mehr anderen Staaten zu, in denen schwulenfeindliche Einstellungen noch stärker sind.

Die Faktenkapitel wechseln sich mit persönlichen Geschichten von schwulen, lesbischen, inter und trans Protagonisten ab. Darin erzählt Gevisser in der Art eines ausführlichen Portraits oder einer journalistischen Reportage mit viel Feingefühl, Fakten- und Ortskenntnis jeweils die Geschichte von ein oder zwei Personen. Es werden dabei fast alle Lettern des Akronyms LSBT ausbuchstabiert.

Eine interessante Erkenntnis des Buches betrifft das Thema Geschlecht und LSBT-Bewegung. In manchen asiatischen Staaten existierte traditionell eine gesellschaftliche Kategorie und Bezeichnung für Menschen, die einem „dritten Geschlecht“ angehören, also weder männlich noch weiblich sind: Auf den Philippinen werden diese Personen „bakla“ genannt, sie hätten demnach „pusong babae“, das Herz einer Frau, und in Südindien gibt es die Kategorie „kothi“. Allerdings entstand im Zuge der internationalen LGBT-Bewegung teilweise der Druck, dass sich diese Menschen in eine der Kategorien einordnen, die zum Label LGBT passt, also sich zum Beispiel als trans-Frauen identifizieren, um die vollen Rechte einer Frau in der Gesellschaft zu erhalten.

In Afrika, Asien und Russland treten einige neue Argumentationsmuster in Erscheinung: Zum einen wird behauptet, dass Homosexualität eine westliche Erfindung oder Perversion sei, die neokolonialistisch in unabhängigen Staaten eingeführt werden solle. Dabei sind in Wirklichkeit die Schwulenparagraphen meist Relikte aus der Gesetzgebung, die die Kolonialherren in Afrika und Asien einst eingeführt haben – eine verquere Verdrehung der Geschichte. Ein weiteres Argument behauptet, dass Schwule z.B. in afrikanischen Staaten von Menschen im Westen finanziert werden, damit sie einen entsprechenden Lebensstil führen, als ob es sich um eine Frage der Wahl handeln würde. Bestätigt wird diese Ansicht absurderweise dadurch, dass manche Homosexuelle in afrikanischen Staaten tatsächlich auf den guten Willen und das Portemonnaie von Gönnern angewiesen sind, da sie in ihrer Heimat sozial ausgegrenzt werden und daher nur schwer Arbeit finden.

„Die pinke Linie“ beweist ein großes Orts-, Menschen- und Faktenkenntnis. Nach der Lektüre hat man nicht nur die intensive Bekanntschaft mit einigen fast immer sympathischen Protagonist*innen gemacht, sondern ist auch auf einem guten Stand, was die Gesetzes- und Faktenlage zum Thema Sexualität und Geschlecht in zahlreichen Staaten der Welt angeht.




Die pinke Linie
von Mark Gevisser
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Heike Schlatterer
Gebunden, 655 Seiten, 28,00 €
Suhrkamp Verlag

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