Tagebuch eines Teenagers
Trailer • DVD/VoD
Nach dem plötzlichen Tod seines besten Freundes Pol beginnt der 16-jährige Zabo, seine Gedanken in einem Blog aufzuschreiben. Dort verarbeitet er die Erlebnisse der nächsten 12 Monate: illegale Partys an geheimen Orten, erste Küsse und sexuelle Erfahrungen mit Mädchen und Jungs. Doch bei aller Ablenkung kann er Pol einfach nicht vergessen… Abenteuer, Abwarten, Teenage Angst: In „Tagebuch eines Teenagers“, den es ab jetzt im Salzgeber Club und auf DVD gibt, nimmt uns der argentinische Filmemacher Lucas Santa Ana mit in die Achterbahn der Gefühle eines Jungen auf Sinnsuche. Axel Schock über einen konsequenten Coming-of-Age-Film, der seine Geschichte ganz aus der Warte seines jungen Protagonisten heraus erzählt.
Blutsaugende Monster am Ende der Welt
von Axel Schock
Nicolás kann die Aufregung zunächst gar nicht so recht verstehen, die panischen Nachrichten auf seiner Mailbox und dann, als er von seinem Rockkonzert nach Hause kommt, die Vorwürfe seiner Eltern, weil er sich so lange nicht gemeldet hat. Denn was er, den alle nur Zabo nennen, erst später realisieren wird: Während er mit seinen Freunden in dem Club feierte, ist in einem anderen, dem „República Cromañón“, ein Feuer ausgebrochen. Für die argentinische Gesellschaft entwickelte sich diese reale Katastrophe von 2004 mit fast 200 Toten und über 1000 Verletzten zu einem politischen Skandal und wurde für eine ganze Generation zu einem traumatischen wie einschneidenden Ereignis.
Das kollektive Entsetzen und der Schrecken, den die Katastrophe auslöst, scheint im Leben von Zabo schnell verflogen. So scheint es zumindest. Vielleicht weil er erst mit einigen Tagen Verspätung erfahren hat, dass sich sein bester Freund Pol das Leben genommen hat und das neue Jahr für den 16-Jährigen so gleich mit einer doppelten Erfahrung von Tod und Trauer beginnt. Das allein wäre genug, um davon überfordert zu sein. Aber dann sind da auch noch die ganz alltäglichen, für Jugendliche aber oft quälenden Herausforderungen der Pubertät.
Früher hätte Zabo mit Pol, seinem engsten Vertrauten, darüber reden können. Zum Beispiel über die verwirrende Tatsache, dass Zabo sich eine Freundin wünscht, aber das persönliche Wunschprofil der idealen Partnerin überraschenderweise einzig auf einen Schulfreund passt und er feststellen muss: „Meine Traumfrau ist ein Mann.“
Weil er mit Pol nicht mehr sprechen kann, schreibt Zabo seine Gedanken nieder. Denn irgendwo muss er mit seinen Fragen und Empfindungen hin. „Yo, Adolecente“ nennt er seinen Blog, zu Deutsch: „Ich, ein Teenager“. „Was also sind Teenager“, fragt Zabo sich und seine Leser*innen. „Blutsaugende Monster“, wie die Erwachsenen sagen, „die nichts wert sind, nichts und niemanden respektieren“ und die „immerzu ans Ficken denken und sich mit allem Möglichen zudröhnen?“ Pol hätte ihm antworten können. Zabo aber bleibt mit seinen Fragen, seiner diffusen Wut und Unzufriedenheit allein.
Nicht nur den Brand im „República Cromañón“ gab es tatsächlich, sondern auch diesen Blog. Als ihn sein Verfasser Nicolás Zamorano, heute ein erfolgreicher Fernsehmoderator, Musiker und Autor, zu einem Roman umarbeitete, wurde er in Argentinien zum Bestseller. Für seine Verfilmung stand Lucas Santa Ana vor der Herausforderung, den Kosmos eines Jugendlichen in einem nicht nur emotional besonders ereignisreichen Lebensjahr in einen Spielfilm zu übersetzen. Da sind zum einen all die generationen- und länderübergreifend gleichsam gültigen Alltagsmomente: Eltern, die einfach nur noch nerven sowie nervige und weniger nervige Mitschüler*innen. Schulstress, Rockkonzerte und Abhängen mit Freund*innen. Auszeiten in erwachsenenfreien Räumen, wie hier die wilden Partys in einer leerstehenden Fabrikhalle.
Dabei den Rhythmus und Fokus zu bewahren, will Santa Ana nicht immer gelingen. Eine Zeitlang wird „Tagebuch eines Teenagers“ zu einem zwar ernsthaften, aber etwas zu oberflächlich durch das Gefühlschaos segelnden Coming-of-Age-Film. Wie aber Zabo in diesem ständigen Zustand der Wirrung dennoch mit größter Selbstverständlichkeit und Souveränität sexuell experimentiert, an seinen Erfahrungen reift und immer mehr zu sich selbst findet, das ist für die Zuschauer*innen durchaus beglückend. Erst dieser naive „Wer passt am besten zu mir?“-Test, um dann seinen schwulen Mitschüler Ramiro zu seinem Gelegenheits-Sexpartner zu erwählen (und dessen Herz zu brechen) und sich dann in eine Frau zu verlieben (für die er wiederum nicht mehr als ein Sexabenteuer ist).
Das klingt nach der Komik ausgleichender Gerechtigkeit, aber zur Komödie wird der Film deshalb nicht. Denn ganz ohne Folgen sind weder die eingangs erwähnten Schockmomente noch die emotionale Berg- und Talfahrt, die das durchlebte Beziehungsgeflecht für Zabo bedeutet. „Das schlimmste Verbrechen ist, sich zu verstellen, und genau das habe ich getan“, tippt Zabo mit energischen Tastenschlägen in seinen Blog. Welche Konsequenzen dies hat, soll hier nicht gespoilert werden. Man vermag es zumindest ansatzweise nachzufühlen, es lässt einen aber dennoch ratlos zurück.
Denn während Coming-of-Age-Filme zumeist aus einer erwachsenen, lebenserfahrenen Position heraus und mit einem romantisierten, nostalgisch aufgeladenen Blick auf die Jugend zurückschauen, versucht Santa Ana aus Zabos Warte heraus zu erzählen. Für einen Jugendlichen nämlich kann jeglicher Aspekt des Lebens zu einem zutiefst existenziellen werden – und bisweilen auch das Ende der Welt bedeuten. Der Film begleitet die Figuren, allen voran Zabo, bei diesen Erfahrungen, ohne sie zu be- oder gar zu verurteilen. Und nicht alle Reaktionen und Handlungen erklären sich oder erscheinen schlüssig. Eben weil das Denken, Fühlen und Handeln von Teenagern für andere nicht immer verständlich sind, in einem andren Kosmos stattfinden und anderen Gesetzen als jenen der Erwachsenen folgen.
Mag „Tagebuch eines Teenagers“ auch ein paar Figuren und Nebenhandlungen zu viel haben: Allein die Tatsache, dass der Autor Nicolás Zamorano und der Regisseur sich den weithin unterschätzten und tabuisierten Themen Depression, Einsamkeit und Freitod unter (LGBT-)Jugendlichen widmen, ist ihnen hoch anzurechnen. Mehr noch, dass sie auf ein standardisiertes Feelgood-Movie-Happy-End verzichtet haben und stattdessen handfeste Lebenshilfe mit auf den Weg geben.
Tagebuch eines Teenagers
von Lucas Santa Ana
AR 2019, 97 Minuten, FSK 12,
spanische Originalfassung mit deutschen Untertiteln,
Salzgeber
Hier auf DVD.