James Baldwin: Ein anderes Land

Buch

James Baldwin ist zweifellos einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und gilt als eine der bedeutendsten Stimmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Als Schwarzer und Homosexueller war er doppelt marginalisiert, er schrieb mit Furor, aber auch mit analytischer Präzision und literarischer Eleganz. So auch in seinem 1962 erschienenen Roman „Another Country“, der nun neu übersetzt unter dem Titel „Ein anderes Land“ veröffentlicht wurde. Axel Schock attestiert dem Buch eine zeitlose Intensität und Wahrhaftigkeit.

Wir haben einen Traum

von Axel Schock

Rufus ist ganz unten angekommen. Er ist ausgehungert, die Kleidung verdreckt. Die Nächte verbringt er in Hauseingängen und in der U-Bahn. Sein Zustand ist erbärmlich, aber er traut sich dann doch, einen Blick in eines der Jazz-Lokale in Harlem zu werfen. Niemand erkennt ihn, dabei hat der Musiker vor gar nicht so langer Zeit dort selbst auf der Bühne gestanden. Rufus weiß für sich nur einen Ausweg, und Baldwin schildert seine Entscheidung, von der Washington Bridge in den Tod zu springen, mit einer den Roman charakterisierenden emotionalen Kraft und sprachbewussten Poetik: „Er wusste, der Schmerz würde nie versiegen. (…) Er ließ den Kopf sinken, als hätte ihn jemand geschlagen, und blickte ins Wasser. Es war kalt, und das Wasser war kalt. Er war schwarz, und das Wasser war schwarz.“

Was aber hat Rufus dazu gebracht, im wörtlichen Sinne aus seinem Leben zu fallen, seine Selbstachtung zu verlieren? Was, seiner Freundin Leona Gewalt anzutun und sie in den Wahnsinn zu treiben? Diese Fragen treiben Rufus‘ Hinterbliebene um, seine Schwester Ida wie seine (weißen) Freund*innen: den angehenden Schriftsteller Vivaldo, den bereits erfolgreichen Kollegen Richard und dessen Frau Cass. Sie alle bleiben verstört zurück. James Baldwin liefert in den nachfolgenden Kapiteln die Antworten darauf, indem er die Verhältnisse seiner Figuren untereinander und ihre Positionen innerhalb der Gesellschaft beschreibt. Konkreter: den latenten Rassismus, die Wut auf die Weißen und gleichermaßen den schwarzen Selbsthass.

Baldwins Werk war nach seinem Tod 1987 zunehmend in Vergessenheit geraten, die Bücher wurden nicht mehr nachgedruckt. Seit Raoul Pecks Film „I Am Not Your Negro“ (2017), Barry Jenkins Verfilmung von „If Beale Street Could Talk“ (2018) und befeuert durch die Black-Lives-Matter-Bewegung wird der 1987 verstorbene Schriftsteller glücklicherweise weltweit neu- und wiederentdeckt. „Ein anderes Land“, 1962 in den USA erschienen, ist nach „Von dieser Welt“, „Nach der Flut das Feuer“, „Beale Street Blues“ und „Giovannis Zimmer“ mittlerweile das fünfte Buch, das dtv in Neuübersetzungen von Miriam Mandelkow herausbringt. Hans Wollschlägers Erstübertragung unter dem deutschen Titel „Eine andere Welt“ aus dem Jahr 1965 wirkt im Vergleich tatsächlich recht angestaubt.

James Baldwin – Foto: ullstein bild / Roger Viollet / Jean-Pierre Couderc

In den USA wurde der Roman seinerzeit für seine literarische Brillanz gefeiert, jedoch auch für seine unverhohlene politische Haltung kritisiert und – nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Sexszenen – zu einem Bestseller. Seinen Platz im Kanon der US-Literatur ist dem Buch sicher. Und doch ist „Ein anderes Land“ weit mehr als eine historische Momentaufnahme der gesellschaftlichen Situation der späten 1950er Jahre. Für den irischen Schriftsteller Colm Tóibín ist es gar das „wichtigste amerikanische Drama des Jahrhunderts“.

Denn Baldwin gelingt es aufzuzeigen, wie sich rassistische Strukturen bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein auswirken. Mehr noch, wie unterschiedliche Hautfarbe eine wirkliche Begegnung auf Augenhöhe zu sabotieren scheint, und selbst bei innigen Freundschaften und in Liebesverhältnissen zu Machtgefällen, Minderwertigkeitsgefühlen und (Selbst-)Hass führt. Und das alles, wie in René Aguigah in seinem Nachwort erklärt, ohne dass „erklärte Rassisten auch nur einen Aufritt hätten“. Baldwin schildert Ressentiments, Vorurteile, Ausgrenzung und ihre destruktiven Folgen viel subtiler – und zeigt, wie sehr dies selbst die sich liberal gerierenden Teile der Gesellschaft betrifft. Es sind oft fast beiläufige, aber sehr genau beobachtete Szenen, in denen die verschiedenen Selbst- und Fremdwahrnehmungen deutlich werden. Etwa, wenn der weiße Vivaldo mit Ida spazieren geht.

„Sie war sehr, sehr dunkel, sie war wunderschön, und er war stolz an ihrer Seite, arglos stolz mit der strahlenden Offenheit eines Mannes.“ Eine schwarze schöne junge Frau zusammen mit einem weißen Mann erweckt Argwohn und macht aus ihr bestenfalls ein zwar schönes, aber unmoralisches Sexobjekt: „Die Blicke, die sie streiften, bezichtigten ihn missgünstig einer unsauberen, halbseidenen Eroberung.“

In einem anderen, einem besseren Land, gäbe es diesen Rassismus vielleicht nicht. Für Rufus aber existiert ein solches Land (noch) nicht, und er sieht deshalb als Ausweg nur den Freitod. So wie Baldwins enger Freund Eugene Worth, den Baldwin in der Young People’s Socialist League kennenlernte – und der sich 1946 ebenfalls durch einen Sprung von der George Washington Bridge das Leben nahm. Auch James Baldwin hatte es damals in den USA nicht mehr ausgehalten. Zwei Jahre nach Worths Tod war er nach Europa emigriert, um nicht ebenfalls an der rassistischen Realität seines Heimatlandes zu verzweifeln. Beendet hat Baldwin den bereits 1948 begonnenen Roman nach Zwischenstationen in Frankreich und der Schweiz erst 1962 in der Türkei.

Es liegt freilich sehr nahe, „Ein anderes Land“ auch heute wieder vor allem unter dem Aspekt zu lesen, wie differenziert und psychologisch komplex Baldwin den Alltagsrassismus durchleuchtet. Doch der Roman ist auch in anderer Hinsicht überraschend, entwirft er doch die Idee einer offenen Gesellschaft, die auch im Bezug auf sexuelles Begehren sowohl moralische Schranken als auch feste Einordnungen verweigert. Denn im Laufe der drei Romanteile entfaltet sich, mal im Rückblick, mal in Folge von Rufus‘ Tod, ein Reigen neuer, wechselnder leidenschaftlicher Beziehungen, die Baldwin mit großer Menschenkenntnis und einem überraschend offenen Verständnis von sexueller Identität entwickelt. Kategorien wie Homo-, Hetero- oder Bisexualität spielen hier keine Rolle.

Der Schauspieler Eric etwa, er war Rufus‘ erste Männerliebe, kehrt wegen eines vielversprechenden Engagements aus Frankreich nach New York zurück. Sein langjähriger Lebenspartner Yves soll später nachkommen. Cass, die sich in ihrer Ehe einsam fühlt, weckt in Eric ein bislang nicht gekanntes Begehren. Vivaldo, der sich von Rufus angezogen fühlte, bereut, sich dieses Verlangen nicht eingestanden zu haben. In einem anderen, besseren Land hätten die Liebe und die Sexualität das Potenzial, die Menschen sich begegnen zu lassen: auf Augenhöhe, frei von Lügen, Verstellung und Selbstbetrug. In den USA der 1950er Jahre war dieses „andere Land“ noch nicht zu finden.

Auch wenn Baldwin die unterschiedlichen sexuellen Begegnungen alles andere als explizit schildert, genügte dies, um bei der Erstveröffentlichung die Zensurbehörden aufmerksam werden zu lassen. In Australien wurde das Buch zeitweilig wegen vermeintlich „obszöner Bezeichnungen“ verboten, in den USA fand das FBI Anstoß an den Sexszenen zwischen Männern bzw. Paaren unterschiedlicher Hautfarben. In Deutschland musste beim Kauf der Rowohlt-Erstausgabe eine Erklärung unterschrieben werden, dass der Roman „ausschließlich für den Privatbedarf“ erworben und nicht an Jugendliche weitergegeben „oder anderweitig verliehen“ werde. Diese Skandalisierung war damals schon lächerlich, heute erscheint das Buch erst recht alles andere als anstößig. Von seiner Intensität und intelligenten Wahrhaftigkeit aber hat es nichts verloren.




Ein anderes Land
von James Baldwin
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow,
mit einem Nachwort von René Aguigah
Gebunden, 573 Seiten, 25,00 €
dtv

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