Blau ist eine warme Farbe

Trailerrbb QUEER

Zum Abschluss von rbb QUEER ist heute Abend Abdellatif Kechiches hochgelobtes Liebesdrama „Blau ist eine warme Farbe“ zu sehen. 2013 wurde der Film in Cannes spektakulär mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, die nicht nur an den Regisseur, sondern explizit auch seine grandiosen jungen Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos ging. Barbara Schweizerhof spürt der besonderen Sinnlichkeit des Films nach, erinnert aber auch an die Diskussion um das Fehlen von lesbischer Teilhabe am Dreh, das damals vor allem die queer-feministische Filmkritik erhitzte.

Foto: Alamode

Farbverläufe

von Barbara Schweizerhof

Heute klingt es altmodisch, wenn man über jemand sagt, er/sie besitze „das gewisse Etwas“. Vielleicht gerade deshalb scheint der Ausdruck so passend, um die Ausstrahlung der 17-jährigen Schülerin zu beschreiben, die man in den ersten Bildern von „Blau ist eine warme Farbe“ aus dem Haus gehen sieht. Da ist zum einen ihre keineswegs „ladylike“ Aufmachung: die Haare trägt sie unordentlich aufgesteckt, ihre Hosen sind modisch eng, doch die Schuhe dazu praktisch flach, die übergezogene Jacke wirkt jungenhaft. Dazu läuft sie mitten auf der Straße, und in einem Moment, in dem sie sich vollkommen unbeobachtet wähnt, zieht sie sich schnell die Jeans am Hintern zurecht. Ihren Schritten glaubt man Selbständigkeit, Autonomie und Ernsthaftigkeit anzumerken. So eine träumt nicht davon, Topmodel zu werden. Eingeführte Etikettierungen wie „cool“ und „sexy“ treffen es auch nicht. Aber unbestritten verfügt diese Adèle (Adèle Echarchopoulos) über ein „gewisses Etwas“.

Denn vor allem ist da ihr Gesicht, ebenfalls mit Attributen wie „schön“ und „apart“ nur unzulänglich beschrieben. Mit mädchenhaft runden Wangen und einem oft leicht geöffneten Schmollmund strahlt sie etwas Naives aus, etwas, das ihr rastloser, unentwegt auf Erkundung gehender Blick aber konterkariert. Und es ist dieser Blick, der den Zuschauer in seinen Bann nimmt – die ganzen nächsten 174 Minuten lang. Diese Augen, die Unsicherheit verraten, aber auch brennen können mit Bestimmtheit und Gefühl, die oft ins Abseits driften und permanent auf der Suche scheinen. „Blau ist eine warme Farbe“ besteht zu einem überwältigenden Anteil aus Aufnahmen des Gesichts von Adèle; immer wieder sieht man sie durch Menschenmengen und -ansammlungen gehen, wobei die Kamera sich ganz auf sie konzentriert. Man beobachtet, wie sie beobachtet, mitlacht, mitmacht und wieder und wieder, auf sich selbst zurückfallend, wegschaut. Eine junge Frau mitten im Leben.

„La vie d’Adèle: Chapitre 1 & 2“ benannte Abdellatif Kechiche seine Verfilmung von Julie Marohs Graphic Novel „Le bleu est une couleur chaude“ (2010). Es heißt, es sei seine Begeisterung für die junge Schauspielerin Adèle Exarchopoulos gewesen, die dazu geführt habe, dass aus der Clementine benannten Heldin in Marohs Original im Film eine Adèle wurde. Und der Zusatz „Kapitel 1 & 2“ verweist gewissermaßen auf die Lebenszeit, die hier in den Blick genommen wird: Erzählt wird von Adèles letzten Monaten auf dem Lycée und den ersten Jahren ihrer Ausbildung. Es handelt sich um eine Zeit, in der vor allem ein Thema das Gefühlsleben von Adèle dominiert: ihre Liebe zu Emma (Léa Seydoux).

Emma ist es, die die Farbe Blau in den Film einführt. Mit ihren kurzen, blauen Haaren nämlich fällt sie eines Tages Adèle ins Auge, als diese gerade unterwegs zu ihrem ersten Date mit einem Jungen ist. Blaue Haare sind nicht das einzig Auffallende an Emma: Sie läuft in zärtlicher Verbindung Arm in Arm mit einer anderen Frau. Beides scheint auf Adèle eine Art Signalwirkung zu haben – sie, die sich sonst so forschen Schrittes durch die Stadt bewegt, kommt plötzlich ins Stolpern, gerät aus dem Konzept. Etwas ist passiert.

Foto: Alamode

Was genau passiert ist, wird Adèle erst nach und nach herausfinden. Zunächst gibt es da das Date mit dem Jungen, der ihretwegen bereit ist, sich durch Marivaux’ Roman „La vie de Marianne“ zu quälen. Doch in der Nacht nach dem ersten Kuss mit ihm durchkreuzt ein blauer Haarschopf Adèles Masturbationsfantasien. Später, nach dem ersten richtigen Sex mit ihm, muss sie dem Jungen eingestehen, dass sie nicht in ihn verliebt ist. Frustrierende Erfahrungen häufen sich: Eine Mitschülerin, bezeichnenderweise mit blau lackierten Fingernägeln, verführt Adèle zu einem heimlichen Kuss, doch als sie diesen mit Leidenschaft erwidern will, wird sie abgewiesen. Eines Abends begleitet Adèle ihren besten Freund in eine Schwulenbar. Der Anblick all der küssenden Männer unter sich scheint sie wie in einen Bann zu ziehen, unter dessen Wirkung sie schließlich weiterwandert in eine Lesbenbar. Und dort sitzt sie schon, als habe sie nur auf sie gewartet: die Frau mit den blauen Haaren, die sich ihr bald als Emma vorstellt.

„Blau ist eine warme Farbe“ gleicht inhaltlich einem ganz gewöhnlichen Jugendroman, der von einer éducation sentimentale handelt. Es geht um erste Erfahrungen mit der Liebe, physisch wie psychisch, um das Kennenlernen des eigenen Herzens wie des eigenen Körpers. Der dramatische Bogen folgt den Stadien der ersten großen Liebe: dem Einschlag, den sie verursacht, dem vitalisierenden, Grenzen überwindenden Glück, das folgt, den leisen Enttäuschungen, die sich mit der Zeit der Gewöhnung einschleichen, und schließlich dem großen Schmerz, als es zu Ende ist.

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Um es einmal ohne jede Ironie zu sagen: Die Länge ist eine der stärksten Seiten dieses Films. Denn sie ermöglicht, dass hier nicht nur der glückliche Aufstieg, sondern auch der lang währende, schmerzhafte Niedergang einer großen Liebe zur vollen Geltung kommt. In „Blau ist eine warme Farbe“ ist genug Zeit, um etwa auch noch das erste Treffen nach dem Schlussmachen zu zeigen, jenes, bei dem eine Seite immer noch auf Versöhnung hofft, während die andere mit Unwohlsein eingesteht, dass es da noch Gefühle gibt. Und selbst dem endgültigen emotionalen Abschied räumt der Film noch genügend Platz ein: jenem weiteren Wiedersehen, irgendwann später, wenn man mit Erleichterung feststellt, dass es nicht mehr schmerzt. Es ist gerade diese Coda, in der Adèle sich dem Zuschauer gleichsam entpuppt. In der letzten Sequenz verlässt sie eine Vernissage, allein, aber nicht unglücklich. Sie trägt ein blaues Kleid, stakst selbstbewusst auf hohen Absätzen davon, immer noch nicht „ladylike“, aber autonom wie nie. Der Bekannte, der ihr nachlaufen will, läuft in die falsche Richtung.

Wie gesagt: Es ist schön, dass es mal jemand so ausführlich erzählt. Hinzukommt das „Wie“. Wie kaum ein anderer Film vor ihm, erzählt „Blau ist eine warme Farbe“ vom sinnlichen Erleben mit den Mitteln und den Zeichen der Sinnlichkeit. Die Nähe der Kamera zu seiner Protagonistin hat zeitweise fast etwas Bedrängendes. Gefühlte neunzig Prozent des Films spiegelt sich alles Drama unmittelbar im Gesicht von Adèle, samt wirren Haarsträhnen, Tränen und Rotz. Ganz wichtig dabei ist ihr Mund. Wie überhaupt Kechiche über die Nahaufnahme von Mündern seinem Film Struktur verleiht. Am Anfang sieht man etwa Adèle mit ihren Eltern beim Spaghetti-Essen – und das genau in den Blick genommene Schlürfen und Saugen und Besteckablecken erzählt etwas über den ungezwungenen Umgang der Familie. Auch später im Film werden immer wieder Spaghetti von hungrigen Mündern geschlürft. Die Essszenen (irgendwann gibt es auch Austern) dienen in klassischer Weise als Vorspiel und gehen über in Kussszenen. Das Küssen bildet in diesem Film eine Art Leitmotiv: Wo immer Adèle hinkommt, sei es in der Schule, auf der Demo oder später in den Schwulen- und Lesbenbars und auf den Partys im Kunstmilieu, fällt ihr Blick auf küssende Menschen. Es ist wie eine ständige Herausforderung, sich zur Intimität zu bekennen.

Foto: Alamode

Im Grunde ist die häufige Küsserei dominanter als jene langen und ausführlichen Sexszenen, die dem Film seinen etwas notorischen Ruf einbrachten. Um letztere ist eine eigene Diskussion entstanden, wie sie die Darstellung von Sex im Arthousefilm oft provoziert. Ob Kechiche hier in erster Linie den männlichen Blick bedient und ob den Aufnahmen damit etwas Pornografisches anhaftet, muss vielleicht jeder Zuschauer und jede Zuschauerin für sich selbst entscheiden. Eine gut begründete, abgewogene Beobachtung dazu hat die Autorin der Vorlage, die Comic-Zeichnerin Julie Maroh, in ihrem Blog unmittelbar nach der Premiere des Films in Cannes abgeben. Man muss im Übrigen ihrem Urteil über die „pornografische Kälte“ der Darstellung nicht unbedingt zustimmen, um ihre Bemerkung über den Mangel an realer lesbischer Erfahrung am Set ernst zu nehmen. Marohs Einwände (und die weiterer Filmkritikerinnen) sind wichtige Anstöße zum kritischen Hinschauen – und zum Hinterfragen jener Rahmenbedingungen der Kinobranche, in denen vor allem heterosexuelle Darsteller und Regisseure mit homosexuellen Themen Erfolg zu haben scheinen. So überzeugend und einnehmend Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux in ihren Rollen sind, fragt man sich doch, ob es purer Zufall ist, dass im Fall von „Blau ist eine warme Farb“ zwei heterosexuelle Frauen Furore machen mit der Darstellung lesbischer Liebe. Oder liegt darin nicht doch ein Entgegenkommen an das heterosexuelle Publikum, das sich einfach „sicherer“ fühlt, wenn, verbrieft durch die Heterosexualität der Schauspielerinnen, auf der Leinwand eben nur so getan wird, als ob?

Der Interviewkrieg, der auf der Pressetour zwischen den Schauspielerinnen und Regisseur Kechiche losbrach, hat mit solchen Fragen aber nur am Rande etwas zu tun. Dass vor allem Léa Seydoux ihre Erfahrungen am Set als „horrible“ bezeichnet und weitere Crewmitglieder sich über Arbeitsklima und Überstunden beklagten, führte dazu, dass Kechiche ebenfalls auszuteilen begann und zwischendurch sogar damit drohte, den Film gar nicht herauszubringen. Doch weder Seydoux noch Exarchopoulos werfen Kechiche vor, sie zu Pornozwecken missbraucht zu haben.

Foto: Alamode

Um zurück zum Film zu kommen: So ungewohnt in ihrer Länge und Deutlichkeit besagte Sexszenen auch sind, bilden sie letztlich doch nur einen von vielen Bausteinen, mit denen Kechiche jenes den ganzen Film bestimmende Gefühl von Unmittelbarkeit, Intimität und Sinnlichkeit erzeugt. Man versteht, dass es den Schauspielerinnen viel abverlangt haben muss, sich gleich in mehrfacher Hinsicht so nackt und bloß zu zeigen. Das sexuelle Erwachen aber, von dem der Film handelt, geht über die mehr oder weniger gymnastischen Bettszenen weit hinaus. Sinnlichkeit manifestiert sich, wie gesagt, auch in all den gezeigten Kussszenen und in der Nähe, in der die Kamera stets auf die Gesichter hält, die hier so ungeschützt wie nie wirken.

So wird von der Debatte über Sexszenen noch ein weiterer Aspekt unverdienter Maßen in den Hintergrund gedrängt: Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als ob Kechiche mit dem Insistieren auf Intimität das gesellschaftliche Ganze aus dem Auge verliere. Wer genauer hinschaut, wird jedoch entdecken, wie kunstvoll und organisch Kechiche die aktuellen sozialen Themen in sein sinnliches Mosaik einbaut. Da gibt es zum einen die Fülle der genau gesetzten literarischen Verweise: bei dem historischen Roman „La princesse de Clèves“ etwa, über den Adèles Abitursklasse am Anfang des Films diskutiert, handelt es sich um ein Symbolwerk der französischen Hochschulbewegung gegen Sarkozy. Mit der Ernsthaftigkeit, mit der Kechiche seine Helden über Marivaux und Sartre reden lässt, verankert er sie in einer ganz bestimmten intellektuellen Tradition. Die Demonstrationen, an denen Adèle teilnimmt, sind ebenso mit Bedacht gesetzt. Und selbst wenn Kechiche das Multikulturelle und die Vielfarbigkeit seines Handlungsorts Lille in seinen scheinbar beiläufigen Aufnahmen ein wenig zu sehr feiert, so behält er die in Frankreich stark wirkenden Klassenunterschiede doch fest im Blick. Besonders die beiden Abende, die Emma und Adèle zu Besuch bei ihren jeweiligen Eltern verbringen, sind in dieser Hinsicht ein Lehrstück über die französische Gesellschaft und ihre feinen Unterschiede. Mehr als alles andere ist es dieser Sinn fürs wahrhafte Detail, der einen als Zuschauer am Ende, wenn Adèle im blauen Kleid einem neuen Lebenskapitel entgegenschreitet, eine filmische Fortsetzung, „Kapitel 3 & 4“, herbeiwünschen lässt.



Blau ist eine warme Farbe
von Abdellatif Kechiche
FR 2013, 179 Minuten, FSK 16,
deutsche SF und französische OF mit deutschen UT,
Alamode

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