Wittgenstein

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Im dritten Teil unserer Artikelreihe zum 80. Geburtstag von Derek Jarman (1942-94) werfen wir einen neuen Blick auf sein meisterhaftes Porträt „Wittgenstein“, das 1993 auf der Berlinale mit dem Teddy für den Besten Spielfilm ausgezeichnet wurde und jetzt in digital restaurierter Fassung im Salzgeber Club zu sehen ist. Jarman erzählt darin die Geschichte des schwulen Wiener Millionärssohns, Schullehrers, Krankenhauspförtners, Gärtners, Cambridge-Dozenten, Kriegsoffiziers, Kommunisten und Denkers Ludwig Wittgenstein als gewitzte und bildgewaltige philosphische Abhandlung. Matthias Frings begab sich mit großer Lust auf Kopf-Karussellfahrt.

Foto: Salzgeber

Sprachbilder in Bildsprache

von Matthias Frings

Der eine ist ikonischer als der andere. Oder andersrum. Kommt drauf an, wen man fragt. Filmfreaks verehren natürlich Derek Jarman, einen Gründungsvater des Queer Cinema, wohingegen Philosophie-Nerds Ludwig Wittgenstein, den Begründer der analytischen Sprachphilosophie, verehren. Durch sein Werk, seine Exzentrik und seine blendende Erscheinung wurde er so etwas wie ein Popstar des sprachphilosophischen Denkens. Der 1994 an Aids verstorbene Filmregisseur und Aktivist Jarman hat seinerseits (Avantgarde-)Filmgeschichte geschrieben und wurde wegen seines Engagements für die Rechte sexueller Minderheiten geschätzt und geliebt.

Es gibt vieles, was die zwei Männer verbindet: Beide schwul, beide hochintelligente und originelle Köpfe, beide furchtlose Individualisten und Neuerer. Jarman wie Wittgenstein trauten sich, den Konventionen ihres jeweiligen Gebiets eine kühne eigene Sicht der Dinge entgegenzusetzen. Jarman interessierte sich für Wittgensteins Philosophie und Wittgenstein für Filme, besonders für Hollywoodfilme. Und beide waren leidenschaftliche Liebhaber von Gärten, die sie gleich auch selbst entwarfen.

Im Auftreten jedoch waren sie sehr unterschiedlich gestrickt. Der Wiener, smarter Sohn eines steinreichen Stahlmagnaten, ist berühmt für Unduldsamkeit gegenüber Nicht-Genies, für An- und Ausfälle wie für seine radikalen Lebensentscheidungen. Jarman hingegen entstammt einer typischen Londoner Mittelstandsfamilie und ist allen, die ihn kennenlernen durften, als ungewöhnlich zugewandter, höflicher Mann in Erinnerung geblieben.

„Wittgenstein“, der Film, der 1993 auf der Berlinale einen Teddy gewann, ist Jarmans letzter Spielfilm im konventionellen Sinn. Danach kam nur noch der visionäre Hörfilm „Blue“, bei dem lediglich die Farbe Blau zu sehen und Jarman zu hören ist, der mit Sprache, Sounds und Musik seinen allerletzten Film „dreht“, weil er als Folge der Infektion erblindet war. Derek Jarman war gay im doppelten Wortsinn: als politischer Filmemacher wie als anregende Persönlichkeit, deren Anwesenheit jeden Raum erleuchten konnte.

Den Maler Caravaggio, Englands schwulen König Edward II und das schwule Lustobjekt schlechthin, den Heiligen Sebastian, hatte Jarman schon filmisch bearbeitet. Aber wie nähert man sich einem kühl-ironischen Genie wie Wittgenstein, dessen Konzept der „Sprachspiele“ für Furore gesorgt hatte? Genau so: Verspielt, leicht distanziert, aber mit loderndem Herzen. Jarman gestaltet seinen Film als eine Abfolge von Tableaux vor tiefschwarzem Hintergrund. (Lars von Trier geht in seinem Film „Dogville“  ähnlich vor.) Theaterszenen im Filmstudio also, die wie Sketche wirken. Budenzauber, Mummenschanz.

Foto: Salzgeber

Auftritt Wittgenstein als Bub mit großer Brille, ein kleiner Klugscheißer, der sich flugs in einen halbnackten römischen Epheben verwandelt und uns wie in einem Bild von Caravaggio seine Familie im goldbehangenen Ornat einer altrömischen Sippe vorstellt. Seine musikliebende Mutter, die häufig Brahms, Mahler und Schumann zu Gast hatte am Bösendorfer, die malende Schwester und die frühverstorbenen Brüder daneben. Als nächstes taucht Mr. Green auf, ein flauschiges Marsmännchen, mit dem das Bürschlein zu philosophieren beginnt: „Wenn Menschen nicht hin und wieder albern wären, gäbe es keine Intelligenz.“ Dann ein Sprung von Wien nach England, wo der technikbegeisterte Jungmann sich als Ingenieur an der Verbesserung von Flugzeugpropellern versucht, nur um kurz darauf mal eben als Schüler des berühmten Philosophen Bertrand Russel in Cambridge einzulaufen. Der schwärmt von Wittgensteins „intellektueller Reinheit“ und weiß schnell, „dass es bald nichts mehr geben wird, was ich ihm beibringen kann“. Ähnlich äußert sich der berühmte Ökonom John Maynard Keyns, der bei Wittgensteins Eintreffen in Cambridge notierte: „Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug.“

Munter weiter geht es mit dieser Art Vignetten. Trotz seiner ungewöhnlichen Erzählweise und Ästhetik klappert der Film die biografischen Stationen erstaunlich brav ab, zeigt ihn beim frühen Ruhm mit seinem legendären „Tractatus logico-philosophicus“, dem Versuch, der menschlichen Sprache eine logische Grundierung zu geben, berichtet davon, wie Wittgenstein für seine Schwester ein ultramodernes Stadtpalais bis hin zur letzten Türklinke entwirft, anschließend sein gesamtes Vermögen an Künstler und seine Geschwister verschenkt und als Lehrer in einem einsamen Bergdorf scheitert. Schlussendlich kehrt er als Professor nach Cambridge zurück, wo er Jahre damit verbringt, sein bisheriges Großwerk zu widerlegen. Ein Buch im herkömmlichen Sinn stellen die „Philosophischen Untersuchungen“ allerdings nicht dar. Intellektuell zu skrupulös, um eine Endfassung herzustellen, besteht dieses Meisterwerk aus hunderten von Notizzetteln und den Mitschriften seiner Studenten.

Foto: Salzgeber

Und der Philosoph als schwuler Mann? Keynes hatte ihn mit dem Studenten David Pinsent bekannt gemacht, einem blendend aussehenden Studenten, mit dem er ein jahrelanges Verhältnis beginnt. Über Sexualität spricht er nicht, hinterlässt im Tagebuch nur mit Geheimtinte geschriebene Andeutungen. Dennoch entwirft er für sich und Pinsent ein Haus in Norwegen, wo sie über Jahre hinweg immer wieder für längere Zeit zusammenleben. Wittgenstein ist Aristokrat genug, diese Beziehung nicht geheim zu halten. Eine posthum veröffentlichte Biografie weiß von zahlreichen Besuchen im Wiener Prater und seinem Hang zum etwas derberen Personal zu berichten, aber das sind kaum mehr als Spekulationen. Derek Jarman stellt ihm in seinem Film jedenfalls ein paar hübsche Jungs an die Seite.

„Wittgenstein“ steht und fällt mit seinem Hauptdarsteller, und Karl Johnson erweist sich hier als Glücksfall. Nicht nur sieht er Wittgenstein verblüffend ähnlich, er verkörpert auch gekonnt dessen Charakter, ein Changieren zwischen Anmaßung und Schüchternheit. Er lässt die Qualen eines Mannes ahnen, der schlicht zu klug ist für diese Welt, der unter der Beschränktheit anderer wirklich leidet und sich (natürlich vergeblich) nach dem Einfachen sehnt – daher sein fataler Entschluss Dorflehrer zu werden. Im übersichtlichen Ensemble stechen noch der verlässlich gute Michael Gough hervor und Jarmans Lieblingsschauspielerin Tilda Swinton, die in Diktion und Aussehen noch nicht zur späteren TILDA herangereift ist.

Foto: Salzgeber

Der Film ist ein perfektes Vehikel für Derek Jarmans breitgefächerte Talente. Hier kann er seine Vergangenheit als Maler, Bühnenbildner und Designer von Filmsets (u.a. für Ken Russel) voll einbringen. Look und Spielweise künden von einer spezifisch queeren Sensibilität. Der Film balanciert gekonnt auf einem schmalen Grat. Er ist lustig, ohne sich lustig zu machen, exaltiert ohne manieristisch zu sein, gefühlvoll, ohne melodramatisch zu werden. Seine ironische Leichtigkeit ist nicht mit Camp zu verwechseln, denn die Komik hier ist nie unfreiwillig, sondern genau kalkuliert.

„Wittgenstein“ ist fraglos kein Popkornkino, eher etwas für Spezialitätenliebhaber. Wer die – lohnenswerte! – Mühe scheut, sich in Wittgensteins Schriften zu vertiefen, findet hier eine vergnügliche Kurzfassung zu Leben und Werk. Jarman gelingt es erstaunlich gut, Lust auf Wittgensteins Gedankenwelt zu machen. Sogar einige seiner Grundideen werden besprochen und man wird verführt, sich auf einige seiner scheinbar so schlichten Sätze einzulassen: „Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Oder der berühmteste: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Sätze im typischen Wittgenstein-Style, vorgetäuscht naiv,  gefährlich harmlos, aber wenn man erst einmal beginnt, darüber nachzudenken, fährt der Kopf Karussell.




Wittgenstein
von Derek Jarman
UK 1993, 75 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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