Sommer 85

Trailer Kino

Mit „Sommer 85“ hat sich François Ozon einen lang gehegten Traum erfüllt und Aidan Chambers schwulen Coming-of-Age-Klassiker„Tanz auf meinem Grab“ (1982) verfilmt. Darin erzählt er die Geschichte des 16-jährigen Alexis, der sich in einem heißen Sommer in der Nomandie das erste Mal verliebt: in den etwas älteren David, der ihm erst das Leben rettet und dann mit dessen Vergänglichkeit konfrontiert. Matthias Frings über eine bittersüße Love Story im Zeitraffer.

Foto: Wild Bunch

Liebessegeln über steinigem Boden

von Matthias Frings

Sommerfilme scheinen tief in der französischen DNA verankert zu sein. Spätestens seit den legendär entspannt-improvisierten Werken von Altmeister Éric Rohmer (u.a. „Pauline am Strand“, 1983) ist ihre Rezeptur wohlbekannt: Sonne, Strand, Sinnlichkeit, dazu eine Handvoll abenteuerbegabte, möglichst attraktive junge Menschen, bunte Flatterkleidchen und knappe Badehosen, Abendessen bei Sonnenuntergang, charmantes Getändel, toujours l’amour, Flirt-Frust-Herbst. Das alles findet selbstredend am Wasser statt, ganz gleich ob am Pool, See oder Meer, denn Wasser steht für Freiheit und Wagnis und erlaubt ganz nebenbei, das Personal in den unterschiedlichsten Stadien der Entkleidung zu inszenieren. Der unglaublich produktive François Ozon hat alleine schon drei solcher Filme mit sprechenden Titeln gedreht: „Unter dem Sand“ (2000), „Swimming Pool“ (2003) und „Rückkehr ans Meer“ (2009). Bei ihm sind es allerdings selten luftige Komödien, sondern eher Dramen vor schöner Kulisse.

Auch in seinem neuen Film „Sommer ’85“ finden sich sämtliche Ingredienzien des Formats wieder, nur ist der Strand nicht golden wie an der Cote d’Azur, sondern ein Steinstrand in der Normandie über den man vorsichtig laufen muss, um sich nicht weh zu tun – in jeder Hinsicht. Das schlichte Seebad ist nicht mondän und die Hauptfigur Alex kommt nicht aus „gutem“, sondern aus proletarischem Haus. Diese Geschichte, sagt das Setting, ist nicht (nur) beschwingte Urlaubsfantasie, sondern steht fest auf steinigem Boden.

Gleich die erste Szene springt ans Ende des Films: Ein junger Mann ist tot und Hauptfigur Alex, der irgendwie die Finger im Spiel hat, muss sich vor einem Jugendrichter verantworten. Schnitt, zurück auf Anfang, und nun werden erstmal sämtliche Erwartungen an das Genre erfüllt. Der süße Alex ist blonde Sechzehn, eine sensible Stupsnase mit aufwändig verwuscheltem Haar. Als er sich von einem Freund dessen Segeljolle leiht, zieht ein Unwetter auf. Er kentert, und Rettung naht in Form von David. Der ist zwei Jahre älter als Alex, in keiner Hinsicht so blauäugig wie er, sondern ein selbstbewusster, sexuell herausfordernder Sonnyboy. In Windeseile bezaubert David sein Findelkind mit strahlendem Lächeln, Witz und aufgeknöpftem Hemd. Man trifft sich am Abend erneut, geht ins Kino – soviel Selbstreferentialität muss sein – und dann ins Bett. Mächtig flott geht das alles ab und ganz ohne Seelenpein.

Sehr angenehm, dass Ozon, der schon zahlreiche Filme mit queerem Inhalt gedreht hat, kein Aufhebens darum macht, dass es sich hier um zwei Jungs handelt. Die Zeit der Problem- und Erklärfilme ist gottlob vorbei. Wichtiger ist das Hauptthema des Films: Warum verliebt man sich gerade in diese eine Person? Wen meinen wir dabei, die Person selbst oder die Vorstellung, die wir uns von ihr machen? Und eines sollte man im Überschwang nicht vergessen: Ein Paar besteht immer aus zwei Personen.

Foto: Wild Bunch

Gewissermaßen im Zeitraffer zieht nun eine Sommerliebe an uns vorbei, diskret angedeuteter Sex, viel Haut, nacktes Nachglühen und sehr feuchte Küsse. Eigenbrödler Alex feiert das große Glück, sich endlich verstanden zu fühlen, und doch segelt er gemächlich in einer Jolle während David wie im Rausch auf seiner Suzuki rast. Alex interessiert sich für Tod und Literatur, während David dem Au-Pair-Mädchen Kate schöne Augen macht. Für diese Ungleichzeitigkeiten findet Ozon ein schönes Bild. Als die beiden einmal wild in der Disko tanzen, setzt David seinem Alex einen Walkman auf die Ohren. Und während er selbst weiter zu treibender Diskomusik zappelt, hört Alex Rod Stewarts „Sailing“ und findet dafür seine ganz eigenen langsamen Bewegungen. Eine Tanzfläche, zwei Geschwindigkeiten. Ein Paar, zwei Personen. Das Mädchen Kate taucht wieder auf, und David, der große Verführer, tut das, was Verführer eben so tun. Er schläft mit ihr und setzt so eine Kette verhängnisvoller Ereignisse in Gang.

Um nicht zu viel zu verraten, sei nur gesagt, dass der Film eine Coming-of-Age-Geschichte ist, die auf dem 1982 erschienen Roman „Dance on my Grave“, einem international erfolgreichen Entwicklungsroman von Aidan Chambers beruht. Er war einer der ersten Romane, mit schwulen Protagonisten, in deren Zentrum nicht das „Problem“ Homosexualität stand, stilbildend für diese Zeit. Schon mit 17 hatte Ozon Chambers Roman verschlungen und einen ersten Drehbuchentwurf geschrieben. 35 Jahre später nun setzt er den Plan in die Wirklichkeit um. Dass ein 17-Jähriger von dieser Story begeistert ist, liegt auf der Hand, und es wäre interessant, wie ein inzwischen erwachsener Mann auf dieses Buch (zurück)blickt, was er ihm nun hinzufügen kann.

Foto: Wild Bunch

François Ozon ist bekannt dafür, von Drama bis Krimi, von Melodram bis Musical sämtliche Filmgenres zu erkunden. So bewundernswert seine Spannbreite und nicht nachlassende Neugierde auch sind, fragt man sich doch, warum er dieses Jugenddrama mehr oder weniger auf seine tragische Lovestory eindampft. Während das Buch die Leser der Literatursparte „Young Adult“ anspricht – für Jugendliche geschrieben, aber auch für interessierte Erwachsene geeignet –, dürfte der Film eher Kost für Heranwachsende sein. Als Jugendfilm wird „Sommer ’85“ gewiss sein begeistertes Publikum finden. Fraglich allerdings, ob diejenigen, die neben eye candy etwas mehr erwarten als Herzenswallungen mit tragischen Untertönen hier auf ihre Kosten kommen. Vergleiche mit „Call Me by Your Name“ wird es unvermeidlich geben, unzulässige Vergleiche, denn trotz der offensichtlichen Berührungspunkte (Sommer, erste Liebe, Retrodrama) zielt Luca Guadagninos Film mit seinen intellektuellen Bezügen deutlich auf ein erwachseneres Publikum.

Dafür, die etwas älteren Zuschauer ebenfalls ins Boot zu holen, tut Ozon hingegen erstaunlich wenig. Der Roman ist gewissermaßen erwachsener als seine Verfilmung. Weder nimmt der Regisseur die witzige und gewitzte Sprache der Romanvorlage auf, noch lässt er sich auf die viel schärfer und differenzierter gezeichneten Figuren und Nebenfiguren ein. Im Gegenteil schleift er in Drehbuch und Schauspielführung sämtliche Ecken und Kanten ab. Ein brutaler Zusammenprall der beiden Hauptfiguren mit einer Bikergang im Roman wird im Film zur harmlosen Jungsschlägerei und die Mutter, in der Vorlage ein übergriffiger Bulldozer, mutiert bei Ozon zur charmant plappernden Madame.

Foto: Wild Bunch

Zwei Dinge allerdings machen „Sommer ’85“ im wahrsten Wortsinn zum Hingucker. François Ozon hat sein Handwerk so souverän im Griff, dass es eine wahre Lust ist, in seine Bildwelten abzutauchen. Die ästhetische Finesse und souveräne Hand, mit der er diesen Sommer aufscheinen und strahlen lässt, suchen ihresgleichen. Atemberaubende Farben, eine nicht enden wollende Palette von Blautönen – das Blau des Himmels, des Meeres, die ausgewaschenen Jeans und das blaue Ringelshirt von Alex, Blautöne, die für Weite und Freiheit stehen. Dazu im Kontrast unglaublich intensive Rottöne – Liebe, Blut, Leidenschaft, das rote Muskelshirt und die rote Suzuki von David. Die Farben dieses Sommers in den Achtzigern erzählen ihre ganz eigene Geschichte von Schönheit und Sehnen und Schmerz.

Zusätzlich kann dieser Regisseur ein Licht bereiten, vom Glühen und Gleißen eines Hochsommertages über den Heiligenschein im Haar, die Intimität  und Wärme einer Bettszene bis zum gefährlichen Dunkel eines dräuenden Unwetters. Die Bilder dieses Films, diese gewisse grobe Körnigkeit, die ebenso subtilen wie sinnlichen Farben und der Retrolook verdanken sich dem klassischen Super-16-Film, den Ozon hier wie schon beim Historiendrama „Frantz“ (2016) verwendet.

Foto: Wild Bunch

Und dann ist da noch Valeria Bruni Tedeschi. Nicht zum ersten Mal bei Ozon, auch nicht zum ersten Mal in einem queeren Film. Die romanische Antwort auf Tilda Swinton, wenn man so will. Ihre Darstellung von Davids Mutter hat wenig mit der Romanvorlage gemein, aber wie sie sich diese Figur zu eigen macht, wie sie eine sanfte, verletzte, besorgte Seele mit fröhlicher Fassade und zwanghaften Untertönen ausstattet, ist absolut sehenswert. Und so hat dieser Sommer – wie es sich für einen Sommer gehört – denn doch noch seine Glanzlichter.




Sommer ’85
von François Ozon
FR 2020, 101 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT und deutsche Synchronfassung,

Wild Bunch

Ab 8. Juli im Kino.

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