Flora S. Mahler: Julie Leyroux

Buch

In ihrem Debütroman „Julie Leyroux“ erzählt die Wiener Autorin Flora S. Mahler von der titelgebenden Konzeptkünstlerin, die zum Mittelpunkt des Kosmos einer Gruppe von Thirtysomethings wird. Die Galeristin Ann, Julies Kommilitonin und Geliebte Mona sowie ihr Halbbruder Robert schildern Geschichten mit der provokanten, queeren Künstlerin. Anja Kümmel über ein außergewöhnlich konstruiertes, satirisch anmutendes Kunstbetriebsporträt voller subtiler Beobachtungen.

 

Titanensturz mit rosa Dildo

von Anja Kümmel

Eine Journalistin feiert sie als „queer-feministische Ikone, Vorkämpferin eines neuen weiblichen Selbstverständnisses.“ Ein junger Lakai der Kunstwelt behauptet: „Alle Künstlerinnen sind Vampire, und erfolgreiche wie die Leyroux sind besonders brutal.“ Eine Geliebte flüstert ihr abwechselnd „bitch“ und „hate you, love you“ ins Ohr. Und die 21-jährige Mona will nichts lieber als „gesehen werden von diesem Blick, in dem sie sich klarer als in anderen spiegelte.“

Wer aber ist Julie Leyroux wirklich? Dieser Frage geht Flora S. Mahler in ihrem gleichnamigen Debütroman nach. Ohne sie jemals abschließend klären zu können, natürlich – doch liegt der Trick dieses außergewöhnlich konstruierten Buchs genau darin, das literarische Äquivalent eines schwarzen Lochs zu schaffen, um dessen Ereignishorizont die Erzählstimmen unaufhörlich kreisen und dessen Sog man sich auch beim Lesen nur schwer entziehen kann. Offensichtlich geht es hier weniger darum, die Biographie einer fiktiven Künstlerin auszubreiten, als vielmehr die Wirkung dieser Figur (oder der Fantasie von ihr) auf einen ausgewählten Personenkreis zu entschlüsseln.

Formal ist der Text in drei Abschnitte unterteilt, in denen jeweils eine personale Erzählfigur im Vordergrund steht. Zunächst kommt Mona zu Wort: geschieden, depressiv, mit einem Hang zu Tabletten und Alkohol. Ihre Teenager-Kinder leben beim Ex-Mann; ihr Blick auf die Kunstwelt ist ähnlich abgeklärt wie der auf die Liebe, und das, obwohl sie selbst einst Malerei studierte. Und einmal sehr verliebt war – in Julie Leyroux. Mit Anfang zwanzig teilten sich Mona und Julie einen Atelierraum an der Wiener Kunstakademie. Zunächst ist nicht ganz klar: Ist es Neid oder Begehren, das sie zueinanderhin gravitieren lässt? Es ist das erste Mal, dass Mona sich romantisch-erotisch zu einer anderen Frau hingezogen fühlt; Julie dagegen macht aus ihrem Lesbischsein keinen Hehl. Im Gegenteil: „Seit sie sechzehn war, hielt sie sich einen Hof an Liebhaberinnen“, wie Mona halb bewundernd, halb resigniert bemerkt. Julie lebt intensiv, aber flüchtig. Sie kann Mona spontan zu einer Reise nach Paris einladen, mit ihr ein Bett teilen, und sich wenige Tage später im Taxi beiläufig von ihr verabschieden, um dann für Jahre nach New York zu verschwinden. Nun, 15 Jahre später, will Mona endlich verstehen, was damals in Julie (und in ihr selbst) vorging.

Flora S. Mahler – Foto: D. Asgar

Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist Julies fünfte Solo-Show, die im Januar 2016 in der Wiener Galerie „Zimmer, Küche, Bad in Arkadien“ eröffnet wird. Hier laufen die Fäden zusammen, und gleichzeitig bildet sie die Klammer um den in nicht-chronologischen Zeitsprüngen präsentierten Plot, der sich von den Anfängen der 2000er Jahre bis 2016 erstreckt (und im Epilog sogar einen Ausblick in eine ferne Zukunft gewährt). Im zweiten Teil schwenkt Mahler zur Galeristin Ann, deren unermüdliche Arbeit hinter den Kulissen Julies Karriere vorangetrieben und die wiederum von Julies internationalem Erfolg profitiert hat. Eine beinahe symbiotische Beziehung ist zwischen den beiden entstanden, während Ann zugleich als „Mädchen für alles“ fungiert: Sie füllt Julies Kühlschrank, leert ihre Aschenbecher und beendet auch schon mal die ein oder andere Affäre für sie. Doch in den letzten Jahren hat sich etwas zwischen ihnen verändert: Die junge, hippe Larissa versucht Ann aus Julies Leben zu drängen, indem sie nach und nach die Rolle der Geliebten, Wellness-Beraterin und PR-Agentin übernimmt.

Abschließend gewährt Mahler Einblicke in die nebulöse Kindheit und Jugend ihrer Titelheldin, von denen sie in ihrem jetzigen Jet-Set-Leben lieber schweigt. Hier ist es ihr neun Jahre älterer Halbbruder Robert, Philosophiedozent in Paris, der bis dahin immer wieder in ominösen Andeutungen in Erscheinung trat, und der nun noch einmal ein ganz anderes Licht auf Julie Leyroux wirft.

Und, last but not least, ist es natürlich die Kunst selbst, die für (oder gegen) Julie spricht. Schon während ihrer Studienzeit wusste sie zu provozieren, wie Mona sich erinnert: In ihrer Videoarbeit „Fuck Spektakelkunst ten times“ etwa tritt eine Schauspielerin unter Feuerbachs Deckengemälde „Titanensturz“ in der Aula der Wiener Kunstakademie auf und führt sich abwechselnd im Zoom und mit Schwenk auf das Gemälde einen rosa Dildo zehnmal ein. Für einen veritablen Skandal sorgt wenig später „die erste einer viel besprochenen Serie feministischer Übermalungen“, bei der Julie einen aus der Wohnung ihres Vaters entwendeten Warhol unter einer schwarzen, mit pinken und grünen Punkten bedeckten Fläche verschwinden lässt. Denkwürdig ist schließlich auch ihre Performance im Rahmen ihrer ersten Solo-Ausstellung in Anns damals noch in einem schmuddeligen Arbeiterviertel gelegenen Galerie: Sie besteht einzig darin, dass Julie „eine obszön große Kaviardose“ über einer Schale Eiswürfel ausleert, mit dem Auto davonbraust, das konsternierte Publikum mit der „Skulptur“ interagieren lässt, nach einer Stunde zurückkommt und das Ergebnis „Kaviar Massaker“ nennt.

Ist das nun geniale Konzeptkunst oder pure Provokation? Hybris oder Empowerment? Das Urteil überlässt Mahler ihren Figuren, und das fällt sehr unterschiedlich aus – von unverhohlener Bewunderung über amüsiertes Augenbrauenheben bis hin zu verächtlichem Schulterzucken.

Mahler selbst arbeitet seit 2005 als bildende Künstlerin im Kollektiv Asgar/Gabriel, das allerdings eher auf expressive Malerei denn auf spektakuläre Performances setzt. Der Starkult wird im Kollektiv schon dadurch unterbunden, dass mehrere Menschen gemeinsam (oder in einer für das Publikum nicht nachvollziehbaren Aufteilung) den Pinsel schwingen. Ein Statement, das im Einklang steht mit Mahlers implizit kritischer Haltung der Kunstwelt gegenüber, die auch aus ihrem Debütroman herauszulesen ist. Wie viele eigene Erfahrungen hier eingeflossen sind, sei dahingestellt – dass sie mit den Mechanismen des Betriebs bestens vertraut ist, offenbart ihr äußerst detaillierter und dabei wenig romantisierender Blick auf das Milieu, in dem sich ihre Figuren bewegen.

Zunächst wirken die Intrigen, Lästereien und Anbiederungen auf den Vernissagen und Vienna-Art-Week-Parties, die sie in „Julie Leyroux“ schildert, beinahe satirisch überzogen. Allmählich jedoch durchschaut man, dass die wahren Hürden, mit denen ihre Charaktere zu kämpfen haben, subtilerer Natur sind und eher zwischen den Zeilen stecken: Die durch falsche Komplimente und spitze Ironie getarnte Ellbogen-Mentalität, die Diva-Allüren einiger Künstler_innen, die schwer zu durchbrechenden Hierarchien, der immer noch dominante Sexismus im Kunstbetrieb. Da wäre etwa der berühmte Konzeptkünstler, der seine wechselnden Assistentinnen mit immer demselben Namen ruft, oder eine Szene, in der Ann ihren kleinen Sohn mangels Betreuungsalternativen mit in die Galerie bringen muss, wo ihn dann eine Praktikantin bespaßen darf.

Schade nur, dass Mahler sich nicht gänzlich auf ihr Talent fürs szenische Erzählen verlässt, sondern bisweilen etwas atemlos in separaten Passagen die Vorgeschichten ihrer Charaktere abhandelt, anstatt die wichtigen Details eleganter (was sie durchaus beherrscht) in konkreten Handlungen oder Dialogen unterzubringen. Auch häufen sich mitunter Zufälle und unwahrscheinliche Verstrickungen auf eine Weise, die allzu sehr an die Dramaturgie einer Telenovela erinnert – man verzeiht es dem Roman jedoch in dem Maße, wie er es versteht, die Stimmenvielfalt virtuos zusammenzuführen. Dies geschieht keineswegs linear: Meint man gerade, sich nun ein klares Bild von dieser oder jener Figur machen zu können, zerfällt es bereits wieder in seine Einzelteile, um sich ein paar Seiten später neu und anders zusammenzusetzen. Nicht nur Julie, begreift man allmählich, ist der Inbegriff einer Leerstelle: auch die Leben der Figuren, die sie umschwirren, bergen tote Winkel und blinde Flecken. Viele Geheimnisse bleiben ungelüftet, andere enthüllen sich nach und nach und lassen die ein oder andere Obsession, die ein oder andere auf den ersten Blick unbegreifliche Entscheidung verständlicher erscheinen.

Trotz (oder gerade wegen?) ihrer privilegierten Stellung, ihrer maximalen Wandlungsfähigkeit, ihrer selbstbewussten Queerness bleibt Julie Leyroux letztendlich ein tragischer Charakter. Stellvertretend steht diese in ihrem hypnotisierenden Schillern schwer greifbare Figur damit auch für all jene Versprechen des 21. Jahrhunderts, die noch nicht ganz eingelöst sind – und vielleicht erst in einer fernen Zukunft, wie der Epilog andeutet, einlösbar sein werden.




Julie Leyroux
von Flora S. Mahler
Gebunden mit Schutzumschlag, 300 Seiten, 24,00 €
Müry Salzmann Verlag

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