Porträt: Gus Van Sant

Buch

Gus Van Sant, Jahrgang 1952, gilt als einer der wichtigsten Filmemacher seiner Generation – und war Mitte der 80er Jahre einer der ersten offen schwulen US-Regisseure überhaupt. Sein kühner Debütfilm „Mala Noche“ (1985) gilt als Wegbereiter, sein dritter Film „My Own Private Idaho“ (1991) als Schlüsselfilm des New Queer Cinema. Seitdem wechselt Van Sant zwischen gefeierten Studio-Produktionen wie „Good Will Hunting“ (1996) und „Milk“ (2008) und Arthouse-Filmen wie „Elephant“ (2001) und „Paranoid Park“ (2006) hin und her. So unterschiedlich seine Filme auf den ersten Blick auch sein mögen – queere Perspektiven lassen sich in ihnen allen entdecken. Anlässlich des Kinostarts von Van Sants neuem Film „Don’t Worry, weglaufen geht nicht“ wagen wir einen Rückblick auf das vielschichtige und verführerisch offene Filmwerk des Regisseurs. Ein Porträt aus dem Jahr 2011.

„My Own Private Idaho“ – Foto: Universum Film

On the Road

von Christian Weber

Es ist eine der berührendsten Szenen der queeren Film­geschichte: Die beiden Straßenjungen Mike und Scott sitzen zusammen am Lagerfeuer, irgendwo in einer Wüste Idahos. Scott sieht seine Tätigkeit als Stricher professionell und macht klar, dass er niemals mit einem Mann schlafen würde, der ihn nicht dafür bezahlt, ja dass es Liebe zwischen Männern gar nicht geben würde. Mike blickt schüchtern zu Boden, dann kurz wieder zu seinem besten Freund auf, und flüstert ihm dann zu: „I love you, and you don’t pay me.“

In seinem dritten Langfilm „My Own Private Idaho“ (1991) lässt der US-amerikanische Regisseur Gus Van Sant trotz dieses Geständnisses die sexuelle Identität seiner Hauptfigur offen. Mike, der ohne Vater aufgewachsen ist und früh von seiner Mutter zurückgelassen wurde, ist eine unsichere Figur, die sich weniger nach lustvoller Erfüllung als vielmehr nach einem Gefühl der Geborgenheit sehnt. Eben dies vermittelt ihm Scott auf der gemeinsamen Suche nach Mikes Mutter für eine Weile – und dafür liebt er ihn. Bedingungslos. Mikes Sehnsucht nach seinem besten Freund bleibt unerwidert. Am Ende des Films gehen die beiden entgegengesetzte Wege: Während Scott eine junge Frau heiratet, in seine wohlhabende Familie zurückkehrt und eine politische Karriere beginnt, ändert sich an Mikes Situation offenbar nichts. Er steht am Ende auf der gleichen verlassenen Landstraße wie zu Beginn des Films.

„My Own Private Idaho“ – Foto: Screenshot / Universum Film

In diesem Schlussbild ist fast alles zusammengefasst, was Van Sants Kino bis heute auszeichnet: Mike ist ein gesellschaftlicher Außenseiter, ein einsamer Antiheld und Heimat­loser, der ständig auf der Suche ist, irgendwo ‚anzukommen’, und am Ende feststellen muss, dass es ein Zuhause für ihn im konventionellen Sinne nie gegeben hat und auch in Zukunft nicht geben kann. Während man in einigen Filmen Van Sants tatsächlich schwule oder lesbische Begegnungen beobachten kann, so ist das eigentlich queere Element seines Kinos jener Schmerz über den Verlust von Heimat und Familie sowie die Suche nach einem alternativen Zuhause. Dabei platziert Van Sant seine Figuren stets in dezidiert amerikanischen Räumen, so wie hier auf eine endlos lang wirkende Landstraße – denn das Gefühl der Heimatlosigkeit gehört auch zu den USA, begründet durch die Geschichte der Einwanderung und Landnahme sowie die Weite des Kontinents. Das amerikanische Kino hat dafür eigene Genres entwickelt, auf die sich Van Sant immer wieder ikonographisch bezieht: den Western und das Road Movie.

Das zentrale Thema seines Werks bietet der Regisseur in vielen verschiedenen filmischen Formen dar: in Independentfilmen, in Versionen von weiteren Hollywood-Genres wie dem Melodram oder dem Biopic oder in narrativ, visuell und akustisch experi­mentell gestalteten Kunstfilmen. In seinem Changieren zwischen unterschied­lichen Produk­tions­­bedin­­­gungen und Form­sprachen hinterfragt Van Sant dabei nicht nur ständig seine eigene Position als Filmemacher in den USA; er offenbart damit selbst einen queeren, weil flexiblen Ansatz, seine Figuren und Motive im Spannungsfeld von Aufbegehren und Anpassung immer wieder neu zu verorten und so auch einem stets neuen Publikum zu präsentieren. Die verschiedenen Felder seines Werks widersprechen einander dabei nicht, sondern befruchten sich gegenseitig. Van Sant, der im Laufe der Jahre auch als Regisseur einer Reihe von Kurzfilmen und Musikvideos sowie als Musiker, Maler und Schriftsteller in Erscheinung trat, ist der große Suchende des aktuellen amerika­nischen Autorenfilms.

Gus Van Sant am Set von „Mala Noche“ – Foto: Alive

Bereits seine Biografie beschreibt eine Suchbewegung. 1952 in Louisville in Kentucky als Sohn wohl­habender Eltern geboren, zieht er mit seiner Familie während seiner Kindheit und Jugend mehrere Male um, ehe er ein Kunststudium in Rhode Island beginnt. Nach seinem Abschluss im Jahr 1975 weiß Van Sant, dass er als Filmregisseur arbeiten will. Trotz seines Interesses an der Konzept­kunst der 70er Jahre und dem New Yorker Underground- und Experimentalfilm geht er zunächst nach Los Angeles, wo er bei verschiedenen Film- und Fernsehformaten mitarbeitet. Mit 28 und nach einem missglückten Debütfilm-Versuch ist Van Sant von Hollywood aber so desillusioniert, dass er zurück zu seinen Eltern zieht, die mittlerweile in Connecticut leben. In New York arbeitet er zunächst in einem Warenhaus, dann in einer Werbeagentur, um Geld für sein nächstes Filmprojekt zusammenzusparen.

Ende 1983 zieht Van Sant schließlich nach Portland, Oregon – in jene Stadt, in der er bereits Teile seiner Schulzeit verbrachte. Portland, ein Zentrum der alternativen Kunst- und Kulturszene im Nordwesten der USA – u.a. der  Punk-, Queer- und Grunge-Bewegungen der 80er und 90er Jahre – erweist sich als idealer Lebens- und Arbeitsort für den jungen Filmemacher, auf dessen künstlerische Haltung die suburbane und gesellschaftskritische Beat-Literatur der 50er Jahre sowie deren Galionsfiguren William S. Burroughs, Allen Ginsberg  und Jack Kerouac vermutlich den größten Einfluss hatten.

„Mala Noche“ – Foto: Alive

In Portland entstehen die ersten drei Langfilme Van Sants, die – ähnlich vieler Beat-Texte – alle in sozialen Außenseitermilieus angesiedelt sind und die der Regisseur zu weiten Teilen on location und mit Laien realisiert – auf den Straßen der Stadt, unter Obdachlosen, Junkies und Strichern. Van Sants Debütfilm „Mala Noche“ (1985), auf 16mm und mit einem Budget von lediglich 25.000 Dollar gedreht, erzählt von dem schwulen Kioskbesitzer Walt, der sich in den mexikanischen Gastarbeiter Johnny verliebt. Obwohl dieser Walts Gefühle nicht erwidert, entwickelt sich zwischen den beiden und Johnnys bestem Freund Pepper eine paradoxe Ménage à troi. Der in einer ausklügelten Licht­drama­turgie gestaltete Schwarzweiß-Film lässt deutliche Anleihen an den Film Noir und den Experimentalfilm erkennen.

Vor allem aber nimmt „Mala Noche“ inhaltliche Elemente des New Queer Cinema vorweg, noch ehe sich jene Erneuerungsbewegung des nordamerikanischen schwul-lesbischen Films Ende der 80er Jahre mit Filmen wie Jennie Livingstons „Paris is Burning“ oder Todd Haynes’ „Poison“ etablierte: Van Sants Film zeigt die ganz subjektive Sicht einer schwulen Hauptfigur auf die Welt und spielt dabei in einem prekären Milieu, das bisher sowohl von der hetero­- wie auch von der homosexuellen Kultur zu weiten Teilen ausgespart wurde. Damit fordert „Mala Noche“ das essentialistische Verständnis heraus, nach dem ‚die Schwulen’ eine homogene Gruppe seien. Schwules Begehren ist hier neben Nationali­tät, ethnischem Hintergrund und sozio­öko­nomischem Status nur ein Identitäts-Aspekt unter mehreren, die Walt und die beiden Mexikaner unterscheiden. Vor allem wird Walt aber nicht ‚politisch korrekt‘ gezeichnet, sondern als überaus ambivalente Figur, die die beiden jungen Mexikaner sexuell ausbeutet. Van Sants Rebellion gegen etablierte Darstellungs­formen des Homosexuellen im Film ist entgegen dem bestimmenden Gestus des New Queer Cinemas aber keine aggres­sive, sondern eine fast beiläufige, die ganz vom empa­thischen Blick auf unterschiedliche soziale Minderheiten geprägt ist. Obwohl sie sexuell anders begehren, haben die Figuren in „Mala Noche“ schließlich die Erfahrung der Fremdheit gemeinsam: Walt ist durch sein Schwulsein ein Außenseiter innerhalb der US-Gesellschaft, Johnny und Pepper aufgrund ihres Status als Gastarbeiter fernab der Heimat. Diese Gemeinsamkeit lässt die Figuren im Laufe des Films eine Allianz eingehen und vorübergehend zu einer Art Ersatzfamilie werden – ein Motiv, das man bei Van Sants immer wieder findet.

„My Own Private Idaho“ – Foto: Universum Film

Nachdem „Mala Noche“ sowohl beim Publikum als auch bei der damaligen Filmkritik nur wenig Aufmerksamkeit erregte, gelingt Van Sant mit dem Junkie-Porträt „Drugstore Cowboy“ (1989) der Durchbruch. Der Erfolg dieses Films ermöglicht es dem Regisseur nach zwei Roman-Adaptionen sein erstes eigenes Drehbuch umzusetzen. „My Own Private Idaho“ ist einerseits eine wilde Mischung unterschiedlichster Einflüsse: Motive und Ikonographien des Westerns und des Road Movies werden mit Bezügen zu William Shakespeares Dramenzyklus „Henriad“ (1597-1601), Orsons Welles’ Shakespeare-Film „Chimes at Midnight“ (1965) und Victor Flemings Klassiker „The Wizard of Oz“ (1939) kombiniert; anderseits ist es aber auch Van Sants bis heute persönlichster Film. Der Regisseur hat sich in Interviews sowohl mit der Figur Scotts identifiziert, dem Sohn aus wohlhaben­den Hause, der sich auf den Straßenstrich begibt, um seine Erfahrungen dort für eine spätere Karriere nutzbar zu machen, als auch mit Mike, dem heimatlosen Jungen, dessen Sehnsucht nach Geborgenheit sich in der unendlichen Weite der amerikanischen Landschaft verläuft.

Die Sympa­thien für die beiden Figuren sind indes im Film klar verteilt: Scott kann seiner Position als Außenseiter nur entwachsen, indem er seinen Freund Mike verrät. Am Ende steht der Zuschauer wie zu Beginn des Films mit Mike auf der Landstraße. Die subversive Leistung des Films besteht vor allem in seiner Kombination des dezidiert queeren Settings des Portlander Strichermilieus mit einer Reihe von Referenzen auf eine bis dahin vor allem heterosexuell rezipierte Populär- und Hochkultur. Van Sant lokalisiert mit seinem vielschichtigen Porträtfilm gemäß den Forderungen des New Queer Cinema Homosexualität in der Kulturgeschichte und beteiligte sich so auch am queeren Kampf um schwul-lesbische Repräsentation in der Hochphase der Aids-Krise.

„Even Cowgirls Get the Blues“ – Foto: Warner Home Video

Mit seinem Film „Even Cowgirls Get the Blues“ (1993) – der Adaption eines gleichnamigen Kult­romans der Hippie-Generation von Tom Robbins – greift Van Sant die Symbol­sprache seiner Portland-Trilogie wieder auf und überhöht sie satirisch. Ausgerechnet überlange Daumen markieren ein Mädchen mit dem programmatischen Namen Sissy von Beginn an als Außenseiterin. Ausgestattet mit dieser phallushaften Deformation flieht Sissy ihrer Familie, die sie nicht so akzeptieren kann wie sie ist. Aus ihrer vermeintlichen Not macht sie eine Tugend und wird zur ‚Königin der Anhalterinnen’, die sich aber wie alle Van Santschen Figuren bald danach sehnt, irgendwo anzukommen. Nach jahrelanger Reise kreuz und quer durch Amerika und einer Reihe von hetero- und homosexuellen Abenteuern kommt Sissy schließlich auf einer Ranch voll lesbischer Cowgirls an.

Van Sants Film wurde von der damaligen Fachpresse massiv angegriffen und gilt vielen als misslungener Versuch, Robbins vielstimmigen Roman zu verfilmen. Tatsächlich funktioniert Van Sants Regiearbeit aber nicht nur als Satire auf das Hippie-Ideal nach freier Persön­lich­keits­entfaltung, sondern ist auch ein weiterer Schlüsselfilm für das New Queer Cinema: Die sexuelle Identität Sissys wird wie jene Mikes in „My Own Private Idaho“ nie konkret bezeichnet. Damit durchkreuzt Van Sant abermals die Vorstellung eines in sexueller Hinsicht als stabil angenommenes Identitäts­konzept. Auf subversive Weise eignet sich der Regisseur auch hier Bildlichkeiten und Konventionen der männlich dominierten Genres des Westerns und des Road Movies an und überträgt diese auf eine queere Perspektive.

„Good Will Hunting“ – Foto: Studiocanal

Nach einem Ausflug ins Fach der schwarzen Komödie mit „To Die For“ (1995) etabliert sich Van Sant mit seinen nächsten Filmen endgültig auch in Hollywood. „Good Will Hunting“ (1996) und „Finding Forrester“ (2000) erzählen mit melodramatischer Formsprache auffallend ähnliche Geschichten: In dem einen Film ist es ein mathematisches, in dem anderen ein literarisches Wunderkind, das sich gegen sozial widrige Umstände durchsetzen muss und dabei sein Talent zu nutzen lernt. Entgegen Van Sants frühen Filmen stehen hier mit Will und Jamal zwei jugendliche Hauptfiguren im Zentrum, die tatsächlich ein Coming-of-Age erfahren – eine Entwicklung also, die sie erwachsen werden und im Zuge dessen ihre ursprünglichen Krisen der Einsamkeit überwinden lässt.

In beiden Fällen ist diese Entwicklung durch die Freundschaft mit einem erwachsenen Mann möglich, der seinerseits an Einsamkeit leidet, aber Will bzw. Jamal zur Identifikations­figur wird. Der Preis für das Coming-of-Age der beiden Jungen ist aber wie in „My Own Private Idaho“ der Verlust jener Freundschaft: Will und sein Therapeut Sean gehen am Ende getrennte Wege; Jamal betrauert den Tod seines Lehrers William. Nicht nur durch diese ambivalenten Enden relativieren sich die offensichtlich geglückten Bildungserzählungen; auch ein homoerotischer Subtext zieht sich durch beide Filme. Dieser stellt sich vor allem durch subtile Blickdramaturgien und eine ungewöhnliche Emotionalität zwischen den Schülern und ihren Mentoren dar, welche auf eine queer codierte Sehnsucht nach Zugehörigkeit der einsamen jungen – und hier auch älteren – Männer verweist.

„Gerry“ – Foto: Studiocanal

Nach seinem oft missverstandenen Studiofilm „Psycho“ (1998) – einer konzeptuellen Aneignung von Hitchcocks Klassiker aus dem Jahr 1960, den Van Sant durch subtile Manipulationen queer uminter­pretiert – kehrt der Regisseur mit seinen vier zwischen 2001 und 2007 mit geringem Budget und fernab von Hollywood entstandenen Filmen zu seinen Ursprüngen im Independent-Kino zurück. Die ersten drei dieser Filme bilden die sogenannte Trilogie des Todes und basieren auf wahren Begeben­heiten mit fatalem Ausgang: „Gerry“ (2001) zeigt zwei junger Männer, die zusammen in eine Wüste laufen, aus der nur einer lebend zurückkehrt; „Elephant“ (2003) den Amoklauf zweier Jungen an ihrer High School; „Last Days“ (2005) die letzten Tage eines jungen Musikers – angelehnt an Nirvana-Sänger Kurt Cobain – vor seinem Selbstmord.

Van Sants Trilogie des Todes ist auf eine neue Art queer und in hohem Maße subversiv: Sie entzieht den Todesfällen durch den Aufbruch von Chronologien, durch elliptisches Erzählen und die Methode der Multiperspektivierung jede Art von simpler Erklärung. Der Regisseur verwendet die als queer verstandene Methode der formalen Dekon­struk­­tion hier vor allem dazu, um die Identitäten sowohl der Tätern als auch der Opfer offen zu halten. Als ursächlich für die Taten einzelner Protagonisten kann einzig eine abstrakte Entfremdung von der jeweiligen Lebensrealität ausgemacht werden, die zu radikaler Orientierungslosigkeit führt, aus der sie sich nicht mehr befreien können. Gegenüber den oberflächlich glückenden Coming-of-Age-Erzählungen seiner Hollywood-Melodramen zeichnet Van Sant damit ein im wahrsten Sinne des Wortes vernichtendes Porträt der amerikanischen Jugend.

„Elephant“ – Foto: Studiocanal

Wie einige Figuren in der Trilogie des Todes leidet auch Alex in „Paranoid Park“ (2007) vor allem an einem Mangel an Bezugs­per­sonen. Vor diesem Hintergrund stürzt die Begegnung mit dem Tod – Alex ist für den Tod eines Wach­manns mitverantwortlich – den Jugendlichen in eine fundamentale Identitätskrise, die dieser am Ende erst durch den Beweis einer neu gewonnen Freundschaft überwinden kann. Eine abermals nicht-chronologische Narration, experimen­tell wirkende Montagen sowie ein vielfältiger und meist kontra­punktisch eingesetzter Soundtrack zeichnen Alex‘ Verstörung nach, die sich im Laufe des Films nicht nur als durch die konkrete Erfahrung der Schuld, sondern auch als durch die allgemeine Erfahrung des Heranwachsens ausgelöst darstellt. Mit einem höchst sinnlichen Blick auf die dortige Jugendkultur inszeniert Van Sant einen Portlander Skaterpark als assoziativen Fluchtraum für Alex, der in seiner sexuellen Identität auf eine Weise nicht festgelegt erscheint, wie es im amerika­nischen Youth Film, ja selbst im queeren Film selten zu sehen ist.

„Paranoid Park“ – Foto: Alive

Die Filme über die Konfrontationen von Jugendlichen mit dem Tod haben Van Sants Ruf in der Filmkritik als einer der innovativsten Regisseure seiner Generation international wiederbelebt, nachdem ihm dieser Mitte der 90er Jahre paradoxerweise abhanden gekommen war. Mit der Verfilmung des Wirkens und Sterbens Harvey Milks – der im Jahr 1977 als erster bekennenden Schwuler in den USA in ein öffentliches Amt gewählt wurde kehrt er wieder zur Formsprache seiner Hollywood-Melodramen zurück. Mit „Milk“ (2008) wendet sich Van Sant von den dekonstruktivistischen Prinzipien des New Queer Cinemas weitgehend ab und dreht den bisher wohl politischsten schwulen Hollywood-Film: Anstelle eines Antihelden tritt hier ein schwuler Märtyrer auf und erstmals eine Hauptfigur, die keiner Mentoren mehr bedarf, sondern selbst zur Identifikationsgestalt für andere wird.

Die Filmhandlung beginnt mit Milks Ankunft in San Francisco zu einem Zeitpunkt, an dem er seine eigene Identitätskrise bereits überwunden hat: So passiv, schüchtern und zögernd Van Sants bisherige Antihelden waren, so aktiv, fordernd und ent­schlos­sen ist Milk. Mit aller Kraft will er sich aus der Position des Außenseiters befreien und einen Platz in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft behaupten. Ein Schlüssel dieser neuen Selbst­sicherheit wird dabei der für Van Sants Kino bisher umfassendste Entwurf einer Ersatzfamilie, einer im wahrsten Sinne des Wortes Gay Family: Im Castro-Viertel von San Fransisco entsteht um Milk eine Gemein­schaft, die die Trennung von ihren biologischen Familien in einen freiheitsbewegten Impuls verwan­delt. Im Moment seines größten politischen Triumphs, in dem die Hoffnung anklingt, die Lage der Homosexuellen könnte sich nicht nur in San Francisco, sondern in den ganzen USA verbessern, spricht Milk schließlich jene Sätze, die wie ein positiver Schlusspunkt in Van Sants queeren Heimat­diskurs klingen: „Tonight, we are clear that there is a place for us. My brothers and sisters, we can come home again!“

„Milk“ – Foto: Constantin Film

Doch auch in „Milk“ gibt es eine in ihrer Identität radikal verunsicherte Figur, die hier – ähnlich wie die Jugendlichen in der Trilogie des Todes – zur Gewalt geift: Milk wird von seinem ehemaligen Kollegen im Stadtrat, Dan White, erschossen – auch hier aus unklarer Motivlage. Van Sants Film zeigt diesen Mord an Milk aber nicht mehr als irritierenden Schlusspunkt, sondern als Schlüssel­moment für das Gay Liberation Movement, dem der Regisseur damit ein kraftvolles Monu­ment setzt. Van Sant nutzt hier gezielt die Hollywood-Konventionen des Biopics, um die einst sub­versive Forderung nach schwul-lesbischer Geschichts­schreibung des New Queer Cinemas umzusetzen.

Ganz im Sinne der Ambivalenz seiner Filme sieht Van Sant seine politische Funktion als Filme­macher indes zwiespältig: „I’m always trying to just paint a portrait; I’m not necessarily trying to comment politically.“ Van Sant hat bis zu „Milk“ tatsächlich weitgehend auf politische Positio­nierungen oder Statements verzichtet. Doch auch seine vorhergehenden Filme sind in hohem Maße politisch, da sie soziale und sexuelle Minderheiten überhaupt repräsentieren, ohne diese auszustellen oder auf klischeehafte Darstellungen zurückzugreifen. Queer wird Van Sants Kino nicht nur durch das Gefühl der Heimatlosigkeit und der besonderen Sehnsucht seiner Figuren, sondern auch durch die Offenheit der Annäherung des Regisseurs an seine Stoffe. Unabhängig davon, welchen Weg sein Kino in Zukunft nehmen wird – eine queere Perspektive ist darin stets zu vermuten.

 


Wer mehr über Van Sants faszinierendes Kino lesen möchte, dem sei die Monografie „Gus Van Sant – Looking for a Place Like Home“ (2014) empfohlen.



Gus Van Sant – Looking for a Place Like Home
von Christian Weber
448 Seiten, 528 Fotos, 32 Farbseiten
Bertz + Fischer, Berlin, 2014

 

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