O Fantasma (2000)

Trailer

Sérgio gehört zu den Unsichtbaren, die nachts in Lissabon den Müll aufsammeln. Tagsüber lebt er vor allem in seinen erotischen Fantasien. Er hat schnellen Sex mit Fremden, von Dominanz und Auslieferungsspielen geprägt. Er lebt wie ein Hund, redet nicht, handelt instinktiv und nimmt sich, was er will. Eines Nachts trifft er auf einen jungen Motorradfahrer – und richtet all seine Fantasien und Begierden auf ihn. Es folgt Sérgios vollständige Verwandlung in ein Fantom: asozial, gefährlich, tierhaft. Die innere Veränderung geht mit dem Äußeren einher: ein von schwarzem Latex umhüllter, durch und durch sexualisierter Körper geht auf Streifzüge durch die Stadt. Der Debütfilm von João Pedro Rodrigues („Der Ornithologe“, „Irrlicht“) folgt konsequent dem fiebrigen Trip seiner Hauptfigur durch die Randgebiete der menschlichen Existenz und kümmert sich dabei wenig um Psychologie oder Erklärungen: Die Welt des Fantoms ist durch und durch physisch, unmoralisch und wild. Janick Nolting über ein filmisches Meisterwerk, das einen Einblick in die grenzenlosen Möglichkeiten des queeren Kinos bietet.

Foto: Rosa Filmes

Die Verwandlung

von Janick Nolting

Man weiß erst nicht, warum der Hund an der Tür scharrt. Schon die erste Einstellung von „O Fantasma“, dieser halbdunkle Korridor, verströmt Unbehagen. Wittert das Tier einen Eindringling? Sehnt es sich nach einem Kontakt, der ihm versperrt bleibt? Hat es Angst? Will es fliehen? Man könnte dieses Bild anhalten, ehe es preisgibt, was jenseits der Pforte geschieht, und hätte darin die ganze Uneindeutigkeit und Gleichzeitigkeit von Sehnsüchten in diesem Film konzentriert. Da sind der Drang nach Ausbruch, das Flehen um Einlass und dazwischen diese dichte Spannung, die verführerische Rauheit der Bilder, in der sich Mensch und Tier einander ähneln. Das Hündische taucht immer wieder auf. Mal bellt es im Hintergrund, mal bewegt es sich direkt vor der Kamera. Dann auch noch der Name! Lorde heißt einer der Vierbeiner, der Herr also, zu dem der männliche Protagonist eine besondere Verbindung pflegt. Am Anfang inszeniert Regisseur João Pedro Rodrigues seine Hauptfigur Sérgio, den Mann von der Lissabonner Müllabfuhr, in einer Annäherung an besagtes Tier. Der Arbeiter, verkörpert von Ricardo Meneses, füttert den Hund, begibt sich auf Augenhöhe, als wolle er selbst animalisch werden, ehe ihn seine Kollegin Fátima aus dem Rollenspiel zurück in die Realität geleitet. Langsam zumindest. So ganz ohne Knurren geht das nicht. Weitere Spiele werden folgen in diesem eigenwilligen, unvergesslichen Reigen filmischer Begegnungen.

Rodrigues gilt als einer der bemerkenswertesten Filmemacher des portugiesischen Gegenwartskinos. Nicht zuletzt aufgrund der Unverblümtheit und Komplexität, mit der er queere Erfahrungen auf die Leinwand bringt. „O Fantasma“ aus dem Jahr 2000 ist sein erster langer Spielfilm und erforscht queeres Begehren in einem Geflecht zwischenmenschlicher Unterwerfungsszenarien und Liebesversuche. Rodrigues’ vielfach preisgekrönte Werke, die unter anderen in Cannes, Venedig und Locarno uraufgeführt wurden, erzählen von fluiden, erschütterten, suchenden Identitäten – von Identität als umkämpftem Gebiet. Mit teils drastischer Körperlichkeit beschwören sie Triebe und ekstatische Ausnahmezustände: in der Lust, der Gewalt, im Tod als Endpunkt und in dem, was danach kommen mag, wie im Nachfolgewerk zu „O Fantasma“, dem Trauerdrama „Odete“ (2005). Die Filme des Portugiesen sind oft elliptisch erzählt, rätselhaft, episodisch, höchst fragil, zutiefst finster in einigen Szenen und doch nicht frei von Witz. Dokumentarischen Realismus beherrschen sie ebenso wie das Surreale und Märchenhafte. Einflüsse ikonographischer, sakraler Malerei stehen neben Fetisch- und Popkultur. Das Experimentieren mit der Form hat der Regisseur bis heute nicht verlernt, betrachtet man etwa seine Heiligengeschichte „Der Ornithologe“ (2016) oder das Musical „Irrlicht“ (2022), das zwischen historischem Muff und futuristischer Utopie, zwischen Klimaschutz und schwulem Sex changiert.

In „O Fantasma“ erwächst aus der anfänglichen Konstellation – der Mann, der Hund, die Frau – nicht nur etwas Spielerisches, sondern etwas Monströses, als radikal anders Gebrandmarktes. Fernab der Stadt, in karger Ödnis, wird final ein neues Ich ausgehandelt, das in dem Moment zu sich findet, da es sich kriminell von der Kultur in die Natur befördert hat, deren Opposition zugleich längst eingerissen wurde. Sexy, rührend, abstoßend ist „O Fantasma“, alles auf einmal. Rodrigues erkundet das Umschlagen einer erotischen Fantasie in eine Obsession, schließlich in einen Vernichtungstrieb und eine sadistische Praxis. Über Homosexualität wird in der Welt, die der Film spiegelt, vorwiegend geschwiegen. Für Sérgio, der sichtlich unbeholfen auf die Avancen seiner Kollegin reagiert, bieten sich keine Vertrauenspersonen und Gesprächspartner abseits der Männer, die er zum Sex trifft. Und selbst diese Kontakte bleiben anonym, verschlossen, zuvorderst körperlich. Das zermürbende Tabu muss nicht benannt werden, um filmisch greifbar zu sein. Das Verkehren im Verborgenen, die sexuelle Handlung spricht für sich. Ohnehin ist „O Fantasma“ ein sehr wortkarger, hauptsächlich mit den Geräuschen der Stadt untermalter Film, der keine psychologischen Befunde vorträgt, sondern dazu einlädt, Ausdrücke, Gesten und Räume zu interpretieren.

Rodrigues inszeniert das Cruisen als vertagte Befriedigung: als Selbstzweck und Experiment, wie weit man gehen kann, was sich anstellen lässt, um gefestigte Dominanzstrukturen aufzubrechen. Sex wird hier zur subversiven Kraft, die die Frage nach Konsens ebenso sprengt wie Vorstellungen von Sexpositivität im engeren Sinne. Dafür ist „O Fantasma“ zu enigmatisch, offen und ambivalent in seinen Beobachtungen. Weder steht sexuelle Transgression hier für Glück oder Empowerment noch wird sie verteufelt oder mit Lustfeindlichkeit in Verbindung gebracht. Vielmehr funktioniert sie als subversive Unterbrechung per se, die als ästhetische Konfrontation gegen Normen und Verhaltensweisen gerichtet wird. Befriedigung ist hier ein flüchtiger Prozess, kein Zustand. Beim Blowjob in einer Toilette, gefilmt in pornografischer Großaufnahme, stößt Sérgio sein Gegenüber achtlos davon, bevor er zum Höhepunkt kommt. Körpervereinigungen und Penetrationen bleiben schroff, mechanisch. Es geht vielmehr um den Kick davor, die geglückte Verführung, die sich im gekreuzten, instinktiven Blick, im Lippenlecken, in der Unsicherheit, ob das Gegenüber interessiert ist, anbahnt. Ist das Zögern überwunden, zieht Sérgio weiter. Und seine Streifzüge werden extremer.

Foto: Rosa Filmes

Extrem, noch so eine Zuschreibung! Extrem ist „O Fantasma“ insofern, als er selbst in Momenten der Übergriffigkeit, aber auch bei seinen Schlaglichtern auf Milieus psychologisch nicht eindeutig zu fassen ist. Extrem ist dieser Film, da er Sexualität und Gewalt als verschmolzene Instinkte begreift, vollzogen in der sadomasochistischen Performance. Diese reißt die Trennwände zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre ein, sie verwandelt Degradierung in eine sexuelle Fantasie und umgekehrt, nicht als bloßer Kink, sondern als grundlegender Mechanismus im sozialen Gefüge. Machtpositionen und Hierarchien weiß der Film damit zu verunsichern. Einmal kommt Sérgio an einem Auto vorbei. Ein Polizist liegt gefesselt im Innern. Anstatt ihm zu helfen, öffnet Sérgio dessen Hose, bearbeitet den Penis bis zur Ejakulation, bevor er die Tür achtlos wieder schließt. Eine Missbrauchssituation – oder doch ein verabredetes Abenteuer? Derlei Ungewissheiten und Leerstellen bleiben: als verkehrte Beziehung zwischen den vermeintlichen Hütern und Behüteten, als Geheimnisse der Nächte, die die Aufnahmen von Lissabon dauernd ins Dunkel stürzen. Später wiederholt sich Ähnliches in neuer Konstellation. Dieses Mal ist Sérgio der Gefesselte, knabbernd, leckend am Hosenstall seines Peinigers.

„O Fantasma“ schöpft queere Marginalisierungserfahrungen aus einer kühlen, ausbeuterischen Gesellschaft. Es ist selten, dass ein Filmemacher diese Verflechtungen so facettenreich und produktiv irritierend in Szene setzt. Sérgio gehört zu einer übersehenen prekären Klasse, die überwiegend im Verborgenen agiert. Er kümmert sich nachts um das Verfemte und Verstoßene der Mitmenschen, das Aussortierte, das Geschichten über seine ehemaligen Besitzer verrät.

Was Sérgio umtreibt, ist auch die Sehnsucht nach dem sozialen Status, der zunächst als schickes Motorrad lockt. Der Film arbeitet hier mit dem Emblem einer Biker-Kultur, die im queeren Avantgarde-Kino wiederholt thematisiert und in ihren erotisierten Codes verhandelt wurde, etwa in Kenneth Angers „Scorpio Rising“ (1963) oder Fred Halsteds „Sex Garage“ (1972). Der Besitzer der Maschine wird zu Sérgios Objekt der Begierde, das er als titelgebendes Gespenst zu beschatten beginnt. Zurückweisung mündet in Verfolgung und Brutalität. Das spießige Leben in den eingezäunten Häusern gleicht im Kontrast zu Sérgios spärlicher Wohnung einer Realität, die der Müllsammler als unerreichbar erkennt. Also testet er, wie er diese Ferne in Nähe übersetzen, wie weit er in diese Welt eindringen kann, die keinen Platz für ihn vorsieht. Aus dem Abfall klaut er eine kaputte Badehose. Er masturbiert in ihr, während er sich mit einem Schlauch stranguliert. Lust, Scham und Selbstbestrafung erscheinen untrennbar verflochten. In der traurigsten Szene des Films berührt Sérgio mit alten, weggeworfenen Motorradhandschuhen seinen nackten Körper – eine Fantasie von Zärtlichkeit, Zuneigung und der Anwesenheit eines Fremden, spürbar in materiellen Resten, tastend, riechend, schmeckend.

Foto: Rosa Filmes

Doch je mehr diese lose verknüpften Szenen urbaner Einsamkeit, diese sexuell aufgeladene Klassismus-Studie in den Horror kippt, desto stärker rückt sie das Publikum in Distanz. Jemand wie Sérgio wird mit dem Stigma des Grauenerregenden, Heimsuchenden behaftet. Der Film eskaliert, da Sérgio sich diese Rolle aneignet und brachial zurückspielt. In einem schwarzen Latexanzug taucht er auf, um die ultimative Überschreitung zu vollziehen. Er verhüllt und betont zugleich die eigene sexuelle Leidenschaft, wird zu einem anonymisierten Körper, geschützt wie exponiert, der auf der Müllhalde sein Unwesen treibt. Der verstoßene Außenseiter nimmt das Fremdbild des triebgesteuerten Tieres an. „O Fantasma“ führt so in einen kafkaesken, existenziellen Limbus. Kreatürliches haust an einem Ort, für den die Mehrheitsgesellschaft keine Begriffe kennt. João Pedro Rodrigues erteilt seinem Protagonisten weder eine Absolution noch pathologisiert er ihn, sondern fragt vielmehr, wer hier wen warum auf welche Weise sieht.

In eindrucksvollen Nachtaufnahmen glänzen vage Oberflächen. Latex, Pflanzen und Gestein formen haptische Texturen. Rodrigues nutzt Fetischbilder und -praktiken und integriert, wie er 2018 in einem Interview mit dem „Paste“-Magazin sinngemäß erklärte, Porno-Szenarien in das Narrativ eines klassischen Spielfilms. Er führt sie in ihrer Ästhetik durch eine doppelte Transformation. Irgendwann wird der Gummimann seine Maske vom Kopf reißen und beides sein: der entfesselte, wilde Leib und das reflektierende, darstellende Ich, das nach einer neuen Heimat sucht, wenngleich es noch verloren ist. Es zeigt wieder sein Gesicht. Das Versteckspiel ist vorbei. Die Flucht aus dem einen Zustand sucht nach der Rückankopplung in einem anderen. Und darin liegt die immense Kunstfertigkeit dieses Films: in der Versehrung und Verstörung eine Befreiung, eine Aussöhnung und tragische Intimität herzustellen, die nicht gänzlich begriffen, aber intensiv gespürt werden kann.




O Fantasma
von João Pedro Rodrigues
PT 2000, 90 Minuten, FSK 18,
portugiesische OF mit deutschen UT