Michael (1924)
Trailer • DVD/VoD
Carl Theodor Dreyers und Thea von Harbous Drehbuch zum Stummfilm „Michael“ (1924) geht auf den gleichnamigen Roman des schwulen dänischen Autors Herman Bang (1857-1912) aus dem Jahr 1904 zurück. Dreyers Film verbindet psychologische und soziale Aspekte, indem er über den Generationenkonflikt zwischen einem alternden Künstler und seinem Ziehsohn vom Niedergang der aristokratischen Lebensweise erzählt. Über vielsagende Blicke und Gesten sowie extravagante Kunstobjekte und Dekors zeigt der Film aber auch die unerfüllte Liebe eines Mannes zu einem anderen. Damit gilt „Michael“ als einer der wenigen Stummfilme, die relativ offen homosexuelles Begehren behandelt haben. Der Film galt lange als verschollen, erst in den 1950er Jahren wurde eine Kopie im Staatlichen Filmarchiv der DDR aufgefunden. Maximilian Breckwoldt über einen frühen Klassiker des queeren Kinos, der sich jetzt in restaurierter Fassung als DVD und VoD wiederentdecken lässt.

Foto: Salzgeber
The Love That Dare Not Speak Its Name
Bereits der Titel von Carl Theodor Dreyers Drama „Michael“ aus dem Jahr 1924 deutet es an: Michael ist kein filmisches Subjekt, sondern ein Objekt – Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte, nicht jedoch ihr Protagonist. Wir blicken mit den Augen jener auf Michael, die ihn begehren. Dabei allen voran: der Maler Claude Zoret, der in seinem Umfeld nur „Meister“ genannt wird. Claude befindet sich in der privilegierten Position, selbst einfache Skizzen für mehrere tausend Dollar verkaufen zu können. Doch gerade für diese weist er jedes Angebot zurück, handelt es sich doch um seine schönsten Erinnerungsstücke: Bilder algerischer Landschaften, angefertigt in einem Sommerurlaub mit eben jenem Michael, seinem Mündel.
Michael ist jung und blond. Eine Augenweide. Er strebt an, die Malerei zu meistern wie Claude, ist ihm also auch Lehrling, aber vor allem Muse, Modell und enger Vertrauter. Während Claude Michaels malerisches Talent verkennt, setzt er ihm mit jedem Bild, in überlebensgroßen halbnackten Heroen, ein Denkmal. Sein nächstes Meisterwerk soll dann der gealterte Caesar sein, „wie er von seinem Pflegesohn Brutus ermordet wird“. Dabei ahnt Claude nicht den prophetischen Charakter des Motivs. Michael wird dem Meister für den Brutus mehr als nur Modell stehen…
Als die schöne, aber verarmte Gräfin Zamikow Claude um ein Gemälde bittet, ist es nicht der Meister, sondern Michael, dem es gelingt, ihren Blick auf der Leinwand zu bannen und das Bild damit vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Ihr Blick, Spiegel ihrer Seele, ist Claude fremd, hat er doch nur Augen für seinen Schüler, in dem das Erscheinen der Gräfin ein unerwartetes Begehren auslöst. Von diesem Zeitpunkt an nutzt Michael den Vorwand, Stillleben zu malen, um zu ihr aufs Land zu fahren und eine heimliche Liebesbeziehung mit der Gräfin zu führen. Zur Finanzierung des Doppellebens bestiehlt er seinen Ziehvater, was dieser bemerkt, jedoch unkommentiert lässt. Schließlich sagt sich Michael endgültig vom Meister los. Der Verlust ihrer innigen Zweisamkeit treibt Claude in eine tiefe Depression und das sonst so lebhafte Haus wird still, während der große Maler von seiner Einsamkeit auf der Leinwand ein Abbild schafft.
Die Beziehung zwischen Meister und Schüler wird im Film nie explizit als schwul bezeichnet. Als Claudes eifersüchtiger Freund Charles Switt dem Maler rät, den Knaben doch endlich gehen zu lassen, um sich damit größeren Schmerz zu ersparen, antwortet Claude: „Nein Charles, ich will nicht kinderlos sterben!“ In der Struktur der Beziehung zwischen Claude und Michael lässt sich somit ein tradiertes Narrativ über homosexuelle Männer erkennen, das dem medienkompetenten Publikum der Weimarer Republik nicht zuletzt wegen des breit rezipierten Oscar Wilde und dessen Beziehung zum jungen Lord Alfred „Bosie“ Douglas bekannt gewesen sein sollte: Claude ist, wie Wilde, ein wohlhabendes älteres Genie, dessen Herz im Angesicht eines im Leben unerfahrenen jungen Mannes erweicht. Ein neoklassizistisches Ideal also, das Wilde als Basis der Philosophie Platos, den Sonetten von Michelangelo und Shakespeare verstand. In „Michael“ drücken sich diese historischen Referenzen in den marmor-weißen griechischen Statuen, die Claudes und Michaels Heim zieren, ebenso aus wie in den legendären Helden, als die Michael posiert. Bosies Gedicht „Two Loves“ (1894) und dessen letzte Zeile „I am the love that dare not speak its name“ wirken knapp 30 Jahre nach der Verurteilung Wildes im Jahre 1895 in Dreyers Film fort.

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Während das zugrundeliegende homosexuelle Begehren in „Michael“ in zeithistorischen Rezensionen ebenfalls kaum angesprochen wird – zumindest Mordaunt Hall, erster Filmkritiker der New York Times, liest die Figur Claudes in einem Artikel von 1926 als Anspielung auf den homosexuellen Bildhauer Auguste Rodin – wird „Michael“ heute allgemein als früher Beitrag der queeren Filmgeschichte gewertet. Dies mag unter anderem an der Persona Herman Bang liegen, Autor der Romanvorlage, die 1904 zuerst auf Dänisch, zwischen 1906 und 1926 aber auch fünf Mal in deutscher Sprache verlegt wurde. Bang, der sich als bekennender Homosexueller öffentlichen Angriffen ausgesetzt sah, emigrierte von Dänemark nach Frankreich und später nach Deutschland. Im autobiographisch angehauchten „Michael“ verarbeitet er die größten Liebesenttäuschungen seines Lebens, überträgt das schwule Begehren aber in impressionistische Metaphern.
Bereits 1916 gab es unter dem Titel „Ikarus“ eine erste Adaption des „Michael“-Stoffs, die heute als erster Spielfilm mit homosexueller Thematik gilt. Das Drehbuch schrieben dabei die homo- bzw. bisexuellen schwedischen Filmschaffenden Axel Esbensen und Mauritz Stiller; Stiller führte zudem Regie. In „Ikarus“ ist Claude Zoret nicht Maler, sondern Bildhauer, für dessen Statue des mythischen Jünglings Michael Modell steht. Im Gegensatz zu Dreyers Adaption wartet „Ikarus“ sogar mit freizügigen Schauwerten auf: Michael posiert für den zeichnenden Claude mit freiem Oberkörper!

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Aber Stiller gelingt es nicht, die emotionale Nähe der Figuren so zu vermitteln, wie es Dreyer vermag. In der Adaption von 1924 bleiben die Figuren voll bekleidet, im Fokus stehen vielmehr ihre Blicke und Gesten, in denen sich ihre tiefen Gefühle füreinander und deren Komplexität ausdrücken. So kommt „Michael“ auch mit deutlich kürzeren Zwischentiteln als „Ikarus“ aus. Um diese emotionale Nähe und psychologische Tiefe zu erreichen, wird die Handlung in das Korsett des Kammerspiels gekleidet. Die Atmosphäre wird durch die expressionistische Mise-en-scène unterstützt, durch dramatische Setbauten und Chiaroscuro-Beleuchtung. Weiterhin lösen sich Dreyer und Kameramann Karl Freund, der im Film auch in der Rolle des Kunsthändlers auftritt, von der statischen Totalen, der Grundeinstellung des frühen Films, und fokussieren die Gesichter der Figuren – insbesondere, wenn sich diese in emotionalen Ausnahmesituationen befinden.
Während „Ikarus“ insbesondere die Beziehung zwischen Michael und Gräfin Zamikow zeigt, blickt Dreyer vor allem auf die tragische Figur Claudes und dessen Unfähigkeit, den geliebten Menschen zu halten. Ähnlich wie Dreyers wohl berühmteste Filmfigur Jeanne d’Arc aus „Die Passion der Jungfrau von Orléans“ (1929), die Folter und Todesangst trotzt und ihrer innigen Beziehung zu Gott nicht entsagt, kann auch Claude Michael bis zum Schluss nicht loslassen. Obwohl Michael den Meister bestiehlt, seine Geschenke verkauft und sogar die Skizzen aus ihrem Sommerurlaub zu Geld macht, die an diesem Zeitpunkt 60.000 US-Dollar (heute knapp 1 Million Euro) wert sind, kauft Claude jedes Werk zurück, stellt Michael immer weitere Checks aus und schützt das Ansehen seines Angebeteten in der Öffentlichkeit. Das Thema der Transzendenz irdischen Leids durch Liebe, das Dreyer 1928 durch Jeanne d’Arc meisterhaft erkundet, deutet sich bereits in Claudes Hingabe für seinen Schüler an.

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Als Claude schließlich sein letztes Werk der Öffentlichkeit präsentiert, ist es nicht das ursprünglich geplante tragische Duett aus Caesar und Brutus. Es ist ein Tryptichon, links ein frohlockender Jüngling, rechts eine Frau, die ihm erwartungsvoll entgegenschaut, und in der Mitte Hiob. Der von Gott Verlassene, dessen Glaube auf eine harte Probe gestellt wird, liegt am Sandstrand, während über ihm der Himmel aufbricht – der gleiche Himmel wie schon in den algerischen Skizzen, in Claudes schönsten Erinnerungen. Dieser Himmel, so die Besucher:innen der Vernissage, ist das Beste, was Claude je geschaffen hat. Im Reigen der jubelnden Gesichter jedoch fehlt: Michael.
Nach einem letzten Aufeinandertreffen zwischen Claude und Michael erliegt der Meister seinem gebrochenen Herzen. Auf dem Sterbebett schickt er nach dem Geliebten, doch vergebens. Der einzige, der bei ihm ist, ist Charles. Und doch lächelt der Meister. Das Close-Up auf sein Gesicht, mit dem Blick starr zur Decke gerichtet, erinnert an eine ähnliche Einstellung auf Jeanne d’Arc, die am Ende von Dreyers späterem Film auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Auf die Frage, weshalb er lächle antwortet Claude: „Jetzt kann ich ruhig sterben, denn ich habe eine große Liebe gesehen!“. Um welche Liebe es sich handelt, bleibt offen. Ist es die Liebe Michaels für die Gräfin? Charles Liebe für den großen Künstler? Erkennt Claude seine eigene große Liebe für Michael zum Schluss offen an – auch als Hinweis für das Publikum? Oder ist es doch die Liebe Gottes, die noch allumfassender ist als seine Liebe für Michael?
Michael
von Carl Theodor Dreyer
DE 1924, 95 Minuten, FSK 0,
stumm mit eingespielter Musik von Pierre Oser
Als DVD und VoD