Im Schatten der Träume
Trailer • Kino
Komponist Michael Jary und Texter Bruno Balz waren über 40 Jahre lang das erfolgreichste Duo des deutschsprachigen Schlagers und Kinos. Ihre Lieder wie „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ oder „Davon geht die Welt nicht unter“ machten Zarah Leander musikalisch zum Weltstar. Die 250 Kinofilme, zu denen sie die Musik beisteuerten, reichen von eleganten Komödien der Weimarer Zeit über ambivalente Melodramen im Dritten Reich bis zu Filmen in den Wirtschaftswunderjahren. „Im Schatten der Träume“ erzählt das bewegte Leben der beiden Künstlerfreunde – zwei Biographien, die selbst das Drehbuch für ein Melodram liefern könnten. Balz war als schwuler Mann ein Verfolgter des NS-Regimes und entging dem Konzentrationslager nur durch die Intervention von Jary, der angab, ohne seinen Texter die vom Propagandaministerium geforderten Lieder für den Film „Die große Liebe“ (1942) nicht liefern zu können. Regisseur Martin Witz kombiniert Szenen aus bekannten Spielfilmen mit privaten Fotografien, seltenen Interviews und Erinnerungen von Zeitzeugen. Experten wie der Musikhistoriker und Unterhaltungskünstler Götz Alsmann erklären die Entstehungsgeschichten der weltberühmten Lieder und Filme – und denken dabei auch kritisch über „Unterhaltung“ und Ideologie nach. Andreas Wilink über eine auf vielen Ebenen erhellende und klug kommentierende Zeitreise, der sich ab Donnerstag im Kino folgen lässt.

Foto: Salzgeber/Picture Alliance
Kann denn Liebe Sünde sein?
von Andreas Wilink
In Edgar Reitz’ Chronik „Heimat“ über ein Dorf im Hunsrück und seine Bewohner:innen, die das 20. Jahrhundert deutscher (Mentalitäts-)Geschichte im Verkleinerungsformat erzählt und den kleinen Ort Schabbach als geistige Lebensform entwirft, sitzen 1937 Maria Simon und ihre Schwägerin Pauline im Kino und sehen „La Habanera“, den Douglas Sirk gedreht hat, als er noch Detlev Sierck hieß. Zarah Leander ist die romantische Hauptfigur, die in einer folkloristisch kostümierten Karibik das Glück zunächst verfehlt. Als sie wehmütig „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“ singt, hören die beiden Frauen in „Heimat“ selbstvergessen zu, um später daheim Leanders Frisur mit den in die Schläfe und Wange gelegten Haarkringeln und die Posen der Diva vor dem Spiegel nachzuahmen und sich den Abglanz des Exotischen herbeizuzaubern. Auch sie leben und halten aus im „Im Schatten der Träume“.
Impressionen von Gestern und Heute: ein Aufnahmestudio, ein Mann am Flügel, alte Ausgaben des illustrierten „Filmecho“, die Berliner S-Bahn und Bilder der Hauptstadt aus der Epoche vor dem Zweiten Weltkrieg. Eine junge Frau singt „Mein ganzes Glück ist Liebe“, wobei die Montage in der Zeit zurückspringt zu der ursprünglichen Interpretin: der Leander in blonder Lockenfrisur, die das Lied von Michael Jary (Komposition) und Bruno Balz (Textdichtung) vorträgt. Regisseur Martin Witz begibt sich mit seinem erhellenden, klug kommentierenden Dokumentarfilm „Im Schatten der Träume“ auf Recherche. Er besucht etwa in Berlin-Mitte das Bruno Balz Archiv, wo die Schreibmaschine ihren Ort hat, auf der Balz seine mehr als tausend Lieder schrieb. Archiv-Leiter Claudio Maniscalco blättert für uns die vergilbten Seiten der Ordner durch, in denen die Texte abgelegt und aufgehoben sind.
Sie waren das Dream-Team für den Ufa-Star aus Schweden mit dem Vornamen, den in seiner deutschen Version alle Jüdinnen in ihren Ausweisen, von den Nazis verordnet, tragen mussten. Jary, 1906 geboren in der Provinz Schlesien, kam 1929 in die Hauptstadt der Weimarer Republik, um an der Staatlichen Musikhochschule (der heutigen UdK) zu studieren. Der Bewunderer von Hindemith, Schönberg, Schreker und Strawinsky verdiente sich nebenher Geld als Barpianist, wurde, als die Nazis der als „internationalistisch“, „kulturbolschewistisch“ und „verjudet“ diffamierten Kunst den Garaus bereiteten, ausgebuht. Er tauchte unter und kehrte wieder als Film- und Schlager-Komponist, der – auch in seinem während des Krieges gegründeten Orchesters – die Konterbande Jazz und Swing ins Repertoire schmuggelte.
Der vier Jahre ältere Berliner Balz hatte sich schon vor 1918 als homosexuell geoutet – „ohne Angst und ohne Zweifel“, wie der Historiker Manfred Herzer schreibt. 1936 wurde Balz erstmals verhaftet und nach Paragraph 175 zu Gefängnis verurteilt, heiratete anschließend seine Cousine Selma, mit der er eine Scheinehe führte, und textete und lebte schwul weiter: „Kann denn Liebe Sünde sein?“, fragt zweideutig Leanders Bariton 1938 in „Der Blaufuchs“ mit einer kaum verschlüsselten Botschaft des Lied-Autors. Leander sei „eine Mutter-Figur“ gewesen – „darin steckte eigentlich ein Kerl“. So analysiert es der betagte Douglas Sirk in einem Fernsehinterview, spricht von Zarahs „Nonchalance“ und ihrem „in einer Moll-Tonart komponierten Gesicht“. Zu dem Zeitpunkt war Sirk bereits aus den USA ins schweizerische Lugano gezogen, wo er auch von Rainer Werner Fassbinder besucht wurde, den Sirks kritische Hollywood-Melodramen („All That Heaven Allows“, 1955; „Imitation of Life“, 1959) stark beeinflussen.

Foto: Salzgeber/Bruno Balz Archiv
Jary und Balz haben vor, während und nach der NS-Diktatur an Tonfilm-Operetten, Revuen und Lustspielen mitgewirkt und das populäre Genre entscheidend geprägt, obgleich Joseph Goebbels und seine Handlanger es verpönten, weil seine kreative Kraft und der spielerlisch ironische Unterton sich zumeist mit jüdischen Künstlern verband. Aber der Erfolg der raffinierten Geschlechterkomödie „Viktor und Viktoria“ von Reinhold Schünzel im Jahr 1933 ließ die braunen „Volksaufklärer“ wenn nicht umdenken, so doch stillhalten. Die Goebbels-Ufa machte Propaganda, doch meistens verhüllte sie sie: Illusionserzeugung und beschwingende Glücks- und Scheinproduktion im Dienst von Ablenkung und Entlastung.
Martin Witz lässt Experten einordnen und kommentieren: Immer wieder präpariert der Musikhistoriker und Unterhaltungskünstler Götz Alsmann das Changierende, Mehrdeutige, hypnotisch Düstere und Trotzige aus Jary-Balz-Schlagern wie „Keep Smiling“ heraus. Wie bei einem Palimpsest lässt sich eine unsichtbare Schrift unter der Oberfläche des Noten- und Textblatts entziffern.
In „Die große Liebe“ (1942), wiederum mit der Leander, verschmelzen als ein seltenes Beispiel, so erläutert Rainer Rother, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek, beide Aspekte: der der Unterhaltung mit dem akut Wirklichen von Bombenkrieg, Lebensmittelzuteilung und dem durch Warten, Angst und Tod bestimmten Alltag. In Summa: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“, in dessen Akkorden Götz Alsmann Gershwins „Rhapsody in Blue“ heraushört. Aber welches Wunder wird projiziert: das des Sieges oder das der erlösenden Niederlage? Sirk zufolge – und Alsmann greift diese Theorie auf – seien in der in märchenhaftem Weiß gehaltenen Szene des Films, wenn Zarah Leander das Wunder-Lied singt, nicht etwa 50 weibliche Statisten als chorische Dekoration für die Solistin zu sehen; vielmehr hätten in den Kostümen geschminkte SS-Männer im Gardemaß gesteckt. Eine Farce kurz vor dem finalen Feuersturm und der Götterdämmerung.

Foto: Salzgeber/Till Vielrose
Ähnlich ambivalent mutet das von der Leander im Dreivierteltakt geschmetterte „Davon geht die Welt nicht unter“ an, bei dem auf der Leinwand Soldaten der Wehrmacht schunkeln. Aber die Zeile lässt sich auch anders deuten, zumal wenn man weiß, was zuvor geschehen ist und Balz nur dank seines Talents vor Schlimmem gerettet wurde: Balz war von der Gestapo verhaftet und in die Prinz-Albrecht-Straße verbracht worden; per Erlass von Goebbels kam er in Freiheit, nachdem Jary seine künstlerische Mitarbeit als unbedingt notwendig eingefordert hatte.
Die Ehepaare Jary und Balz lebten auf der Charlottenburger Fasanenstraße 60 in zwei übereinander liegenden Wohnungen von 1938 bis etwa 1950. So konnten die Freunde auf Zuruf miteinander arbeiten. Von hier aus richteten sie u.a. das „Paradies der Junggesellen“ (1939) ein, in dem Rühmann und Co. wussten, dass einen Seemann nichts erschüttern kann. Oder sie brachten „Roter Mohn“ für Rosita Serrano im Film „Schwarzfahrt ins Glück“ (1938) zum Blühen.
Nach der Stunde Null hatte sich Balz den Alliierten gegenüber zu rechtfertigen, weil seine Lieder das System stabilisiert hätten. Er als Gefährdeter wusste zu antworten. Doch die Frage bleibt offen, auch wenn sie in den Fällen Gründgens, Furtwängler, Richard Strauss, Heinrich George und vieler weiterer Künstler vielleicht mehr Dringlichkeit hat.

Foto: Salzgeber/Till Vielrose
In der Bundesrepublik mit seinem traumatisierten, um Vergessen bemühten Volk setzte sich die Karriere fort. Jary/Balz haben „Die Beine von Dolores“ (1957) mitgeformt, das Wirtschaftswunder instrumentiert, Komödien wie Bernhard Wickis „Die Zürcher Verlobung“ (1957) und die Caterina Valente zum Tanzen gebracht oder dem Backfisch Heidi Brühl den Walzer „Wir wollen niemals auseinandergehn“ (1960) geschenkt. Sehr zum Ärger von Zarah Leander – sie hätte den Song gern für sich gehabt. Ab 1950 schuf das symbiotische Paar musikalische Blütenträume, Ersatzfantasien und erotische Frivolitäten, beschwieg die Vergangenheit oder beleuchtete Ratlosigkeit melancholisch matt: „Unter den tausend Laternen“ (1952) bis zum lebensbejahenden Schluss. „Zwei Herzen im Mai“ (1958) besang Bibi Johns. Oder es hieß in „Wie werde ich Filmstar“ aus dem Jahr 1955: „Wir leben heute“. Götz Alsmann spricht von „Durchlüftung“ der Gesellschaft. Es ließe sich auch mit Strindberg sagen: „Durchstreichen und weitergehen“.
Vielleicht ging es ja nur so: Jary/Balz waren dabei frecher, frischer, vergnügter – und begabter als andere. Die Workaholics genossen den Luxus und feierten ihr eigenes Wirtschaftswunder. „Ein herrschaftliches Leben“ sagt Jarys Tochter Micaela. Balz legte seine DM-Millionen gut an – besser als der Kollege. Zuletzt öffnete Balz noch einmal seine Schublade und zog in den Sechzigern, als das Fernsehen seine bunten Abende veranstaltet, für den niederländischen Buben Heintje das herzschmachtende „Mama“ (1967) hervor. Es mag Ohrentäuschung sein, darin auch einen Aufschrei zu hören.
Im Schatten der Träume
von Martin Witz
CH/DE 2024, 90 Minuten, FSK 12,
deutsche OF
Salzgeber
Ab 6. Februar im Kino