Der Fremde im Zug (1951)

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Das Werk von Alfred Hitchcock ist durchzogen von queeren Subtexten und Figuren. Wie viele seiner Filme entstand „Der Fremde im Zug“ (1951) zu einer Zeit, in der Homosexualität in Hollywood-Filmen nicht offen behandelt werden durfte. In dem Suspense-Thriller lernt Tennisspieler Guy Haines auf einer Bahnhfahrt den mysteriösen Bruno Anthony, der ihm einen makaberen Vorschlag macht: das perfekte Doppelverbrechen, Mord überkreuz. Bruno will Guys Ehefrau umbringen, dafür soll Guy Brunos strengen Vater beseitigen. Wer sollte je Verdacht schöpfen, wenn beide mit den jeweiligen Opfern gar nicht in Verbindung gebracht werden könnten? Der unheimliche Fremde führt seinen Mordplan rasch aus. Nun liegt es an Guy, seinen Teil der „Abmachung“ zu erfüllen, und Bruno macht ordentlich Druck – mit unklarer Motivlage. Philipp Stadelmaier hat ein paar Theorien zu Bruno Anthony, der einerseits eine paradigmatische krypto-queere Hitchcock-Figur ist, anderseits aber auch eine Sonderstellung im Œuvre des Regisseurs einnimmt. Geht es hier gar nicht um das perfekte Verbrechen, sondern um die perfekte Tarnung?

Foto: Warner Bros.

Something Queer in Here

von Philipp Stadelmaier

Bevor es gleich um „Der Fremde im Zug“ von 1951 gehen soll, einige kurze Bemerkungen zu jenem Film, bei dem es sich um Alfred Hitchcocks wahrscheinlich „queersten“ Film handelt:  „Cocktail für eine Leiche“, der bereits 1948 herauskam. In diesem Film, der aus einer Reihe langer Einstellungen und nur wenigen sichtbaren Schnitten besteht, begehen zwei junge Männer, die zusammenleben – Brandon, gespielt von John Dall, und Phillip, gespielt von dem bisexuellen Farley Granger –, in ihrem Apartment einen Mord. Dann verstecken sie die Leiche in einer Truhe und veranstalten eine Dinner-Party, bei der ihnen ihr früherer Professor Rupert Cadell, dargestellt von James Stewart, auf die Schliche kommt. Doch ist Rupert auch ihr alter Liebhaber? Die Rollen unter den jungen Männern sind klar verteilt: Brandon ist maskulin und dominant angelegt, Phillip effeminiert und unterwürfig. Im Zentrum steht die Theorie vom sogenannten „Übermenschen“: Einige „überlegene“ Individuen haben das Recht, den „Minderwertigen“ das Leben zu nehmen, wenn es sie danach gelüstet. Der „perfekte Mord“ soll die Theorie beweisen.

Die Intrige des Films und die damit verbundene „Moral“ sind auch eine Verschlüsselung für die Sexualität der Figuren: Die als schwul codierten Männer sind besonders intelligent (oder halten sich dafür), besonders skrupellos, besonders pervers. Dabei entsprechen sie dem Darstellungs-Stereotyp des „queer villain“, also des nicht-heterosexuellen Bösewichts, der im Hollywoodkino unter dem restriktiven Hays-Code eine der wenigen Wege war, Homosexualität auf die Leinwand zu bringen, über Umwege. David (das Opfer) „konnte leben und lieben, wie du es nie konntest“, sagt Rupert Cadell am Ende zu Brandon. Der Subtext ist klar: David war „normal“, er stand auf Frauen. Der mutmaßliche Homosexuelle Brandon ist nicht nur ein Mörder, sondern auch jemand, der seine Identität genauso gut verstecken sollte wie ein Mörder seine Leiche.

„Der Fremde im Zug“ unterhält zu „Cocktail für eine Leiche“ enge Beziehungen. Generell handelt es sich hier um die Phase in Hitchcocks Werk, in der es um das Austesten von Plänen und Theorien geht. „Bei Anruf Mord“ von 1954 ist ein weiteres Beispiel. „Cocktail für eine Leiche“, „Der Fremde im Zug“ und der spätere „Psycho“ (1960) bilden außerdem eine Serie rund um Psychopathen. Im Speziellen taucht Farley Granger in „Der Fremde im Zug“ als Guy Haynes wieder auf, erneut im „Paar“ mit einem anderen Mann und erneut in der „schwächeren“ Rolle, auch wenn seine Figur hier über jeden Zweifel erhaben hetero ist. Der dominante und „queere“ Part fällt dem anderen Herrn namens Bruno Anthony zu, der ebenfalls ein Freund von Theorien ist, und, Brandon und Philip nicht unähnlich, davon überzeugt, dass man „bestimmte Individuen“ durchaus umbringen dürfe. Dabei ist sein Äußeres exzentrischer als jenes der Gentlemen aus „Cocktail für eine Leiche“: Neben Gamaschen trägt Bruno seinen Vornamen in Form einer Anstecknadel auf seiner Krawatte – ein Geschenk seiner Mutter, die Malerin ist und ihm zu Hause die Hände manikürt. Verkörpert wird er vom genialen Robert Walker, der kurz nach dem Erscheinen des Films tragisch starb, vermutlich an einer Kombination aus Alkohol und Amobarbital, im Alter von nur 32 Jahren.

Zu Beginn des Films machen die beiden Männer Bekanntschaft in einem Zug. Bruno erkennt sein Gegenüber im Salonwagen sofort: Guy Haynes, bekannt aus Sportzeitungen und Klatschspalten, ist ein erfolgreicher Tennisspieler mit politischen Ambitionen und liiert mit der Tochter eines Senators. Die beiden würden gerne heiraten, es gibt nur ein Problem: Guy ist noch mit der lebenslustigen Marion verheiratet, die von einem anderen schwanger ist, aber keinerlei Anstalten macht, in eine Scheidung einzuwilligen.

Nun findet sich unter Brunos Theorien auch die Theorie des perfekten Mordes: Einmal angenommen, zwei Fremde begegneten sich zufällig und machten den Deal, für den jeweils anderen eine Person umzubringen. Überkreuz, sozusagen. Wer sollte auf diese Weise je Verdacht schöpfen, wenn beide mit den jeweiligen Opfern gar nicht in Verbindung gebracht werden könnten? Anthony behauptet, er wolle tatsächlich jemanden loswerden: seinen Vater, der ihn für einen Versager hält und von ihm verlangt, sich eine richtige Arbeit zu suchen. Weswegen er Bruno anbietet,  seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Wenn nun Bruno Guys scheidungsunwillige Frau beseitigte, und Guy Brunos alten Herrn? Sind sie, Bruno und Guy, nicht das perfekte Paar für den perfekten Mord „überkreuz“?

Schon bald darauf lässt Bruno auf Worte Taten folgen und ermordet Miriam. Guy, der sein Angebot zunächst für einen Scherz gehalten hat, ist schockiert. Fortan wird Bruno Guy verfolgen, um von diesem die entsprechende „Gegenleistung“ zu verlangen. Die Besessenheit, die er dabei an den Tag legt, lässt erahnen, dass es ihm weniger um die Umsetzung seines Planes geht, als um jenen, den er sich als seinen Partner auserkoren hat. Als sei in Brunos Augen der zweite Mord weniger ein notwendiger Akt an einem „lebensunwürdigen“ Individuum, als ein Akt der Freundschaft, vielleicht sogar der Zuneigung, nach der er sich sehnt. Berühmt geworden ist jene Einstellung, in der Bruno im Tennispublikum sitzt, das mit seinen Kopfbewegungen dem Hin- und Her eines Ballwechsels folgt. Brunos Blick jedoch bleibt starr auf Guy gerichtet. Als dieser später zum Schein einwilligt und sich ins Anwesen der Anthonys schleicht, um Brunos Vater vor seinem Sohn zu warnen, ist es Bruno, der ihn an Stelle seines Vaters im Bett erwartet.

Vor allem kleiden sich die Zeichen für Brunos Homosexualität aber in Zeichen für sein mangelndes Interesse an Frauen, die (abgesehen von seiner Mutter) in seinem Leben keine Rolle spielen und deren einzige Funktion darin besteht, als Mordopfer zu dienen. Die Schwester von Brunos Verlobter gerät im Laufe des Films ebenso ins Visier wie eine ältere Dame auf einem Empfang. Als Bruno Miriam durch einen Vergnügungspark folgt, vermutet diese in ihrem Verfolger zunächst einen Verehrer. Es ist dieser vielsagende Irrtum, der in die Strangulationsszene mündet, gefilmt als Spiegelung in Miriams zu Boden gefallener Brille, in der sich das Bild vom (Hetero-)Mann, der hinter ihr her war, um sie rumzukriegen, verzerrt und auflöst: Der Ladykiller killt Ladys, ohne das Bedürfnis zu haben, mit ihnen zu schlafen. Letztlich killt er wegen eines Mannes, den er nach dem Mord nicht mehr in Frieden lassen wird.

Nun sind krypto-queere Figuren wie Bruno Anthony oder Brandon und Phillip in „Cocktail für eine Leiche“ in Hitchcocks Werk keine Ausnahme, sondern durchziehen die gesamte Filmographie des Regisseurs. Einen Vorgänger von Bruno Anthony finden wir schon in „Geheimagent“ von 1936, wo ein von Peter Lorre gespielter mexikanischer „General“ als „Ladykiller“ vorgestellt wird – mit der spitzen Bemerkung, er kille nicht nur Ladys. Die Anspielung auf seine Fähigkeiten als Mörder verbirgt einen ironischen Hinweis darauf, dass es der notorische Schürzenjäger auch sexuell auf Männer abgesehen haben könnte. Im Zentrum des Films steht ein englisches Agenten-Pärchen, mit Lorre als drittem Rad am Wagen, wobei der „General“ so stark an dem Typen klebt, dass er zum regelrechten Problem für die Beziehung zwischen Agent und Agentin wird. Am Ende muss Lorre sterben.

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In „Sabotage“, ebenfalls aus dem Jahr 1936, begegnen wir für einen kurzen Moment einem durchs Bild laufenden Paar, das ein Aquarium besucht und dessen „männlicher“ Part auffallend androgyn wirkt. Die beiden verständigen sich darüber, dass die „female oyster“ nach dem Eierlegen ihr Geschlecht wechselt, gefolgt von der Punchline: „I don’t blame her.“ In „Sabotage“ wird die Wandelbarkeit von Geschlecht salonfähig – so wie das Schlafen zweier Männer im selben Bett in „Eine Dame verschwindet“ (1938). Als Nebenfiguren trugen Charters und Caldicott wesentlich zum Erfolg der „Dame“ bei: zwei Cricket-besessene „Englishmen“, die sich anfangs in einer überfüllten Bergpension dasselbe Zimmer und sogar denselben Pyjama teilen – einer trägt das Ober-, der andere das Unterteil. Später, als im Zug die titelgebende Lady verschwindet, sagt jemand: „We’re gonna’ search this train, there is something definitely queer in here.“

Natürlich scheint sich Hitchcock über diese Figuren lustig zu machen. Aber obwohl Charters und Caldicott zunächst lächerlich, versnobt und unsympathisch erscheinen – sie weigern sich, den Held:innen des Films bei der Aufklärung des Rätsels zu helfen, weil sie schnellstmöglich nach Hause zum Cricket wollen –, erweisen sie sich bei der Schießerei am Ende als mutig und vertrauenswürdig. Als Beweis für eine vermeintliche Misanthropie oder Homophobie Hitchcocks taugen sie daher nicht. Die Filme aus den Dreißigerjahren, die Hitchcock noch in Großbritannien drehte, schließen vielmehr auf mehr oder weniger selbstverständliche Weise queere oder queer lesbare Figuren mit ein. Das Kino von Hitchcock, dessen Held:innen oftmals gerade durch soziale Konventionen und Gepflogenheiten in Gefahr geraten, erscheint in diesen Jahren wie eine wahrhaft „populäre“ Kunstform, die das „Volk“ in seiner sozialen und sexuellen Vielfalt abbildet.

In Hitchcocks amerikanischer Periode werden die queeren Figuren latent böser und die bösen Figuren latent queerer. In „Rebecca“ (1940), Hitchcocks erstem Film in Hollywood, der noch immer sehr britisch anmutet, hat die Butch-Lesbe ihr Revival: in Gestalt der fiesen Mrs. Danvers (Judith Anderson), die ihre verstorbene Herrin Rebecca de Winter verehrte „wie eine Göttin“, ihr nach ihrem Ableben durch einen fanatischen Totenkult die Treue hält und, als formvollendete Domina, der neuen Mrs. de Winter (Joan Fontaine) im Flüsterton empfiehlt, sich besser aus dem Fenster zu stürzen. Und in „Saboteure“ (1942) treffen wir zwar auf die sanfte und bärtige Esmeralda, die sich als Angehörige einer Zirkustruppe dafür einsetzt, den zwei von der Polizei gejagten Liebenden Zuflucht zu gewähren, aber auch auf den Agenten im Dienst einer feindlichen Macht, der sich überlegt, seinen Sohn als Mädchen zu erziehen und der, wie er sagt, früher selbst lange blonde Haare trug.

Queere Aspekte werden bei Hitchcock nun vor allem in der Figur des Dandys kondensiert, durch den der britische Regisseur eine Brücke zum amerikanischen Publikum schlagen will, indem er eine gewisse Vorstellung von „Britishness“ bedient. Bei den Figuren in „Cocktail für eine Leiche“ und „Der Fremde im Zug“ handelt es sich um eben solche Dandys: Sie sind kultiviert, reich, raffiniert und skrupellos. Ähnliches trifft auf die Charaktere von James Mason und Martin Landau in „Der unsichtbare Dritte“ (1959) zu. Wenn Leonard am Ende seinen Boss (Mason), einen russischen Spion, davon überzeugen will, dass dessen Geliebte (Eve Marie Saint) eine amerikanische Agentin ist, dann auch, weil Leonard auf sie eifersüchtig ist: Er ist in seinen Boss verliebt.

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Was uns zu Bruno Anthony zurückbringt. Wie Leonard in „Der unsichtbare Dritte“ und das Pärchen aus „Cocktail für eine Leiche“ muss Anthony in erster Linie anderen etwas demonstrieren. Bruno sagt, er bewundere „Menschen, die etwas leisten“, und will selbst etwas „Großes“ vollbringen – so wie Guy, der es in die Endrunde eines Tennisturniers geschafft hat. Gleichzeitig mangelt es ihm an jeglicher Ambition. Ist er einfach nur wahnsinnig, wie Guy oft sagt? Aber warum sagt dieser dann am Ende von Bruno, er sei ein „very clever fellow“ gewesen? Es ist also vielleicht etwas komplizierter mit Herrn Anthony und den Theorien von ihm und über ihn.

Bruno, der von sich selbst sagt, er rede zu viel, hat zu viele Ideen, als dass eine mehr Gewicht hätte als eine andere: Mal nimmt er sich vor, das Weiße Haus in die Luft zu sprengen, mal schwadroniert er über die „Nutzbarmachung natürlicher Kräfte“ und die Ausdehnung seines Geruchsinns über Millionen von Kilometern, bis zum „Duft einer Rose auf dem Mars“. Er dehnt seine Theorien und Ideen entlang der Eisenbahngleise bis an die Ränder des Universums aus, wo sie sich in Luft auflösen. Jeder spätere Rekurs auf die ursprüngliche Theorie des „perfekten Mordes“, jede spätere rhetorische Rechtfertigung der Taten wird ausgespart. Der kalte, zynische Intellektualismus aus „Cocktail für eine Leiche“ ist verschwunden. Weil die eigentliche Theorie von oder über Bruno Anthony gänzlich fremdartig und subtil bleiben muss, fern und stumm, jenseits jeglicher Demonstrierbarkeit. Keine Theorie darf stimmen – damit die „Theorie dahinter“ nie formuliert werden muss. Im Amerika des Jahres 1951 darf sie unter keinen Umständen bestätigt oder auch nur benannt werden.

„Queerness“ kann bei Hitchcock Menschenliebe signalisieren, aber auch Gemeinheit oder eine Perversion, die die Gesellschaft bedroht und der sie entgegenwirken muss. Sie kann die Guten auszeichnen und die Bösen. Man kann sie ebenso dem Spanner andichten, der einen Mord verhindern will (James Stewart in „Das Fenster zum Hof“, 1954) wie dem mörderischen Crossdresser (Anthony Perkins in „Psycho“). Man kann sie sogar in dem komplett beiläufigen, wunderbaren „Leg-Shot“ aus „Über den Dächern von Nizza“ (1955) finden: Cary Grant am Strand von Nizza, gefilmt durch zwei gespreizte braungebrannte muskulöse Männerbeine hindurch, den Blick nach oben gerichtet (zum Geschlecht?) – zwei Beine, in denen ein wertschätzender und verzückter Kommentator auf Facebook einmal glaubte, die „schönsten männlichen Beine der Filmgeschichte“ entdeckt zu haben.

Letztlich aber bleibt das Queere ein in Hitchcocks Filmographie omnipräsentes und gleichsam „unintegrierbares“ Element – ein Überschuss, ein Surplus mit unklarem moralischem Wert. In „Der Fremde im Zug“ wird es getarnt als eine Form von Wahnsinn, die Guy in Bedrängnis bringt, ihn zum Mord treibt und dazu, einen anderen dazu zu treiben, ebenfalls einen Mord zu begehen: Homosexualität als gemeinsames Verbrechen, wie schon in „Cocktail für eine Leiche“. Wir sind unzweifelhaft in den Fünfzigerjahren. Dieses Verbrechen – und darin besteht das Geheimnis und Genie dieses Films – muss getarnt und versteckt werden, und zwar besser als die am Ende dann doch wiederauftauchende Leiche von Brandon und Philip. Es darf niemals offensichtlich hervortreten. Für Hitchcock, den „Master of Suspense“, war Suspense die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen, die Dehnung und Akkumulation von leerer und gespannter Zeit. In „Der Fremde im Zug“ hat er das wahre „Verbrechen“ selbst suspendiert und in der Schwebe gehalten. Man muss schon ein Meister sein, um so etwas hinzukriegen. Und vielleicht selbst ein bisschen queer.




Der Fremde im Zug
von Alfred Hitchcock
US 1951, 93 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Als BluRay, DVD und VoD