Gotteskinder

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Hannah und ihr Bruder Timotheus leben mit ihren streng gläubigen Eltern in einer hessischen Vorstadtsiedlung und sind Mitglieder einer evangelikalen Freikirche. Hannah hat ein Keuschheitsgelübde abgelegt, doch als sie sich in den neuen, coolen Nachbarsjungen Max verliebt, geraten ihre Überzeugungen ins Wanken. Derweil ringt Timotheus mit seiner sexuellen Identität: Nachdem er sich in seinen besten Freund Jonas verliebt hat, sucht er verzweifelt nach „Heilung“, weil er glaubt, dass Homosexualität Sünde sei. Regisseurin Frauke Lodders hat für ihren Film „Gotteskinder“ intensiv auf Jesus-Feiern und zum Thema „Konversionstherapien“ recherchiert. Fabian Schäfer über ein schockierendes (Not-)Coming-of-Age-Drama, das die verherenden Folgen von religiösem Fundamentalismus in Deutschland beleuchtet.

Foto: W-Film

Im Namen des Vaters

von Fabian Schäfer

Die Menge jubelt, junge Menschen hüpfen wild herum, singen laut mit, die Scheinwerfer leuchten die Bühne perfekt aus. Dort steht ein charismatischer Mann, der die Teenager mitnimmt. Nein, das ist kein Popkonzert. Das ist ein Gottesdienst. Neben dem Pastor steht ein großes weißes Kreuz.

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass evangelikale Christen auch in Deutschland seit Jahren mehr und mehr Zulauf haben. Ihre Form der Spiritualität wirkt auf den ersten Blick modern und zugewandt: Die Gemeinde singt Jesus-Popsongs mit eingängiger Melodie, von der Gitarre begleitet, statt verstaubten Gotteslob-Kanon mit Orgeluntermalung. Das Gottesbild ist scheinbar weniger streng und abstrakt. Es geht um Jesus – den Freund, mit dem man wachsen kann, jeden Tag. Sein „Wort“ ist wörtlich zu nehmen.

„Gotteskinder“ beginnt mit so einer enthusiastischen Jesus-Feier. Doch was hier zunächst cool, jung und hip aussieht, hat natürlich noch eine ganz andere Seite, wie der Film im Folgenden aufzeigen wird. Obwohl die evangelikale und freikirchliche Szene vielfältig ist und nicht alle Mitglieder fundamentalistische Einstellungen teilen, bestehen doch gemeinsame Überzeugungen, die sie aus der Bibel herleiten: Pornografie ist schlecht, Sex vor der Ehe auch, Homosexualität ist eine Sünde, das Patriarchat dafür ganz gut. Die Bibel wird nicht angezweifelt. Und es ist wichtig, mehr Menschen von diesen Wahrheiten zu überzeugen – Evangelikale haben ein ausgeprägtes Streben zu missionieren.

Die 17-jährige Hannah und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Timotheus leben in einer unscheinbaren Vorstadtsiedlung. Einfamilienhäuser, man kennt die Nachbarschaft. Susanne, die gerade ihren Mann verloren hat, zieht mit ihrem Sohn Max ins Haus direkt gegenüber. Hannahs Eltern David und Esther laden Susanne sofort zu ihrem Hauskreis ein. Die neue Nachbarin kann damit zwar wenig anfangen, aber lässt sich erstmal darauf ein.

Max ist dann auch der Neue in Hannahs Klasse an der evangelikalen Privatschule. Der (oder die) Neue ist eine archetypische Figur im Coming-of-Age-Film: Sie bringt neue Erfahrungen in die Welt der Protagonist:innen und sorgt gerne für Chaos. Und auch Hannahs Welt sowie ihr ganzes Wertesystem werden durch Max gehörig durcheinander gebracht. Es ist eine spannungsvolle gegenseitige Anziehung: Hannah, die gerade ein Keuschheitsgelübde vor der Gemeinde abgelegt hat, entwickelt Gefühle für ihren Klassenkameraden. Die sind aber eigentlich nur gestattet, wenn Max ihrem Glauben folgt und in die Gemeinde eintritt. Hannah stellt sich gerne dieser Herausforderung, hat es ihre Mutter früher schließlich genauso gemacht: Auch David war zunächst „gottlos“, bis Esther ihn zu Jesus führte. Ihr mütterlicher Rat an die Tochter: Ein Date gegen einen Gottesdienstbesuch! Und der coole Max, der ursprünglich aus Frankfurt kommt, schon Freundinnen hatte, Bandshirts und Lederjacke trägt, lässt sich darauf ein.

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Nicht nur Hannah, auch ihr Bruder Timotheus, den alle nur Timo nennen, kämpft mit seinen Gefühlen: Der 15-Jährige ist verliebt in seinen besten Freund Jonas. Sie spielen im selben Verein Fußball, Jonas berührt ihn nach dem Training. Zuhause streichelt sich Timo selbst weiter, hört aber plötzlich auf und schlägt sich selbst. Er fängt an zu beten und faltet seine Hände so fest, dass sie sich verkrampfen. Timo ist davon überzeugt, dass seine Gedanken sündhaft sind. In einer Szene zuvor sah man, wie rigoros in der Familie mit dem Thema Homosexualität umgegangen: wird: Timos kleine Schwester kommt nach Hause und erzählt dem Vater fröhlich, sie hätte im Kindergarten ihre Freundin Sabrina geheiratet. Der gibt ihr eine Ohrfeige und schickt sie auf ihr Zimmer. Die Mutter verspricht, sie kläre das mit der Erzieherin. Und Widerrede ist natürlich ausgeschlossen. Spätestens in diesem Moment wird klar, dass es sich um eine nicht ganz so heile Familie handelt. Die Tragik ist: Die Kinder sind so vom Weg der Eltern überzeugt, dass sie ihn gar nicht anzweifeln würden.

„Gotteskinder“ ist nach „Morpheus“ der zweite Spielfilm der Kasseler Regisseurin und Drehbuchautorin Frauke Lodders. Im Fokus stehen die Geschichten der Geschwister Hannah und Timo. Die Unsicherheiten mit ihrer Selbstfindung, die sie an die Grenzen ihres Glaubens führt, werden parallel erzählt. Hannahs Ringen mit den strengen Regeln ihres Glaubens nimmt dabei mehr Raum ein. Es gibt Einschränkungen, die fast schon absurd anmuten: Mit Max geht sie zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt ins Kino. Filme sind zwar nicht prinzipiell in der Gemeinschaft verboten, aber wegen der vielen Versuchungen, die geweckt werden könnten, eher nicht erwünscht. Deshalb dürfen ihre Eltern auch nichts von dem Kinobesuch erfahren. Doch mit Max bekommt Hannah nach und nach ein besseres Gefühl für ihre Bedürfnisse, denen sie, wenn auch nur zaghaft, folgt. Die Konsequenzen für diesen vorsichtigen Befreiungsversuch bekommt sie hart zu spüren.

Foto: W-Film

Timos Geschichte nimmt im zweiten Teil des Films Fahrt auf. „Gotteskinder“ macht klar, dass Timos Auseinandersetzung mit sich selbst elementarer ist, denn das erwachende sexuelle Begehren stellt die Identität des 15-Jährigen auf eine noch grundsätzlichere Art in Frage. In seinen Selbstzweifeln erklärt er sich sogar bereit, ein Seelsorge-Camp zu besuchen, um sich von seinen sündigen Gedanken „heilen“ zu lassen. Dass dort ausgerechnet Jonas mit demselben Anliegen wartet, macht das unmögliche Anliegen noch ein wenig unmöglicher. Was sogenannte „Therapeuten“ den Jugendlichen dort erzählen und wie sie die Jugendlichen „behandeln“, ist teilweise schwer erträglich, aber wohl leider authentisch. Immer wieder ist Timo am Rand der Verzweiflung.

Zum Umgang von konservativen Glaubensgemeinschaften mit Queerness und darüber, welches unermessliche Leid diese betroffenen Menschen zufügen, gibt es bereits einige Filme. Das gilt insbesondere für die sogenannten Konversionstherapien, die queere Menschen von ihrer Sexualität zu „heilen“ versuchen. Viele Betroffene haben ihre Geschichten aufgeschrieben, die wiederum dokumentarisch oder fiktionalisiert verarbeitet wurden. Zu den bekanntesten Spielfilmen gehören „Prayers for Bobby“ (2009) über die wahre Geschichte von Bobby Griffith, der mit 20 wegen seines homofeindlichen religiösen Umfeldes Suizid beging, sowie „Der verlorene Sohn“ (2018) über die ebenfalls authentische Geschichte des schwulen Teenagers Garrard Conley und dessen Odysee in einem „Ex-Gay-Programm“. Bei den dokumentarischen Arbeiten stechen der Netflix-Film „Pray Away“ (2021) über die Geschichte von Konversionstherapien in den USA sowie die NDR-Reportage „Die Schwulenheiler“ (2014) über die Situation in Deutschland hervor.

Foto: W-Film

Insofern ist es doch überraschend – und etwas bedauerlich –, dass „Gotteskinder“ weder frische erzählerische noch neue inhaltliche Ansätze findet. Dazu fällt der Film, der anfangs noch dicht erzählt wird, im Verlauf zunehmend auseinander. Die Geschichte von Hannah ist konsequent entwickelt, aber auch recht vorhersehbar. Timos Geschichte ist demgegenüber voller Wendungen, die wenig glaubwürdig und teilweise überzogen daherkommen. Vor allem aber steht am Ende eine bedrückendes Auflösung, die wenig Raum für Hoffnung bietet.

Eine vertane Chance ist darüber hinaus, dass „Gotteskinder“ aktuellere Entwicklungen nur wenig berücksichtigt. Nur an einer kurzen Stelle zeigt Hannah das Video einer Bloggerin, die gegen Abtreibung wettert. Dabei sind die sozialen Medien voll von religiösen Influencer:innen, die ihren teils Hunderttausenden Follower:innen ein bibelgerechtes Leben vorleben. Gerade in Zeiten der großen Verunsicherung scheinen sie vielen Menschen mit ihren einfachen Botschaften Halt zu geben. Diesen Aspekt jedoch berücksichtigt „Gotteskinder“ kaum.




Gotteskinder
von Frauke Lodders
DE 2023, 117 Minuten, FSK 12,
deutsche OF,
W-Film

Ab 30. Januar im Kino