Irrlicht

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Ein perfekt choreografierter Liebestanz, sexy Feuerwehrmänner in Jockstraps und ein Baum-Penis-Memory gegen den Flächenbrand: In seinem neuen Film erzählt João Pedro Rodrigues („Der Ornithologe“) von der ersten Liebe eines jungen Prinzen im Portugal der nahen Zukunft, von Klimawandel und Postkolonialismus – und mischt dafür Elemente aus Musical, Folklore, Fantasy und Ökomärchen. Seit seiner Weltpremiere in Cannes wird Rodrigues’ filmische Fantasie weltweit auf Festivals gefeiert – und irrlichtert jetzt auch durch die deutschen Kinos. Für Philipp Stadelmaier ist der Film ein geschichts- und künsteübergreifendes performatives Meisterstück, das Realität nicht nur smart spiegelt, sondern im queeren Sinne transzendiert.

Foto: Salzgeber

Mr. Fireman, send me a dream

von Philipp Stadelmaier

João Pedro Rodrigues beginnt seinen neuen Film mit einem Lissaboner Straßenschild und der Jahreszahl 2069, die in großen roten Lettern aufscheint. Und dann ist da dieser dunkle Fleck, der sich über den Straßennamen schiebt. Ist das der Schatten eines geheimen Passanten, der dabei ist, den Film zu betreten? Unser Schatten? Wir sehen ein Fenster, ein Junge schaut hinaus, zum Himmel. Wir hören unheilvolle Geräusche, ohne sehen zu können, worum es sich handelt. Die unsichtbare Bedrohung: Sind das wir Zuschauer:innen des Jahres 2022, die dabei sind – Stichwort Klimawandel – die Welt von Heute und damit auch von Morgen zu ruinieren? Kaum haben wir den Film „betreten“, hebt uns Rodrigues auch schon mit einer sanften Kamerabewegung von der Straße hoch und durch das Fenster hinein in seinen dichten wie phantastischen Film, als würde er uns vor einem Bühnenraum platzieren, vor dem er sechzig Minuten und eine Zeitreise später wieder den Vorhang zuziehen wird. Erste Szene: das leere Sterbezimmer von Alfredo, dem letzten, verarmten König Portugals, der sich seiner Jugend erinnert.

Was wir auf dieser Bühne erblicken, ist ein Märchen, eine Parabel, eine Allegorie, ein Bühnenstück, oder auch eine „musikalische Phantasie“, wie es später im Vorspann heißt. Überblende auf den königlichen Kiefernwald, den der König Alfredo einst, im Jahr 2011, als junger Mann mit seinem Vater besuchte. Auch der Wald ist eine Bühne: eine Gruppe von Kindern singt von wahren Freunden und treuer Freundschaft, von Bäumen, die wie Freunde seien und ebenso gut behandelt und gepflegt werden müssen. Es folgt, einige Jahre später, Szene Nummer drei: Das Esszimmer der königlichen Familie, dem wir wie in einem Zuschauerraum gegenübersetzen. Die schweren Holzschiebetüren, die immer wieder zugezogen werden, entsprechen dem Vorhang. Die Herrschenden geraten unter Beobachtung. Für sie ist ein Albtraum, zumal der von ihnen mitverursachte Klimawandel voll zugeschlagen hat, die königlichen Wälder brennen. Alfredo verliest eine Rede von Greta Thunberg und verkündet seinen Eltern den Wunsch, Feuerwehrmann zu werden. Nach dieser Ouvertüre kann der Film dann richtig beginnen, auf der Wache.

Die erweist sich als vergnügtes queeres Theater, angeleitet von einer energischen Feuerwehrchefin, die sich über den blassen Thronfolger lustig macht („Vielleicht eignet er sich ja wenigstens als Feuerwehrziege!“), während die Feuerwehrmänner in arschfreier Fetisch-Unterwäsche herumlaufen und der Erste-Hilfe-Kurs zum Balzritual wird („Beatme mich gründlich, du Sau!“). Während die Männer Übungen machen, hören wir Mozarts „Zauberflöte“. Später wird die Garage zum Ort einer Tanzszene, in der alle Hautfarben, Geschlechter, Klassen und Körperformen vertreten sind. In diesem verzauberten Milieu trifft der weiße Thronfolger Alfredo auf den Schwarzen Ausbilder Afonso, seine große Liebe, dessen Namen er noch auf dem Sterbebett murmeln wird.

Mit Afonso, dem späteren muslimischen Präsidenten der Republik Portugal, antwortet der Film auf jenes Gemälde, das im Film eine zentrale Rolle einnimmt: „La Mascarade nuptiale“ („Die Hochzeitsmaskerade“) von José Conrado Roza aus dem Jahr 1788. Zu sehen ist eine Gruppe Schwarzer Personen am Hofe Marias I. von Portugal, eine davon mit Pigmentstörung. Das vermeintliche „Hochzeitsporträt“ ist in Wahrheit eine Maskerade für die Darstellung rassistischer Stereotype. Das Bild hängt im Sterbezimmer des Königs und im Speisezimmer der königlichen Familie, wie ein Auge im Hintergrund des Films, das die Zeit überdauert hat, von 1788 bis 2069. Von der Zukunft aus, wo wir es zum ersten Mal entdecken, schaut es zurück in der Zeit – auf uns.

Foto: Salzgeber

Die Dargestellten verkörpern damit jene „future generations“, von denen Thunberg spricht, die aus der Zukunft ihren verurteilenden Blick auf die Vergangenheit richten. Und indem dieses Bild uns anschaut, fordert es uns auf, uns nicht umzudrehen, sondern hinzuschauen. Uns nicht abzuwenden vom Klimawandel uns seinen Folgen, und auch nicht vom Rassismus in dieser Darstellung. Frontal vor der Szene zu bleiben. Ein Publikum zu werden. Das Einzige, was das Recht hat, sich umzudrehen, im Namen der Dargestellten und Verspotteten, um von der Zukunft aus über die Vergangenheit zu richten, ist eben dieses Bild selbst.

Es hat in letzter Zeit selten einen Film gegeben, der auf derart genaue Art den Zuschauer:innen einen Platz zuweist gegenüber dem, was sie betrachten. Nicht nur „dreht“ sich das Gemälde „um“; es selbst wird, und hier kommt Afonso ins Spiel, umgedreht. Die geniale Operation von Rodrigues’ Film besteht darin, sein Publikum aufzufordern, hinter der rassistischen Maskerade des Roza-Bildes wieder die Hochzeit zu erkennen, also die Liebe zwischen Afonso und Alfredo. Ebenso, wie hinter den Bäumen die Freunde erkannt werden wollen, die zu pflegen sind. Oder Penisse, die gerieben werden möchten. Die Analogie wird bald explizit: Bei einer Sexszene im Wald, sowie beim Penis-Memory, wenn Afonso dem Prinzen Penis-Dias zeigt und ihn auffordert, die von den Penissen dargestellten Wälder zu identifizieren. Das Retten der Wälder, des Klimas und des Planeten und das Begehren von Penissen fallen in Eins.

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Derartige Transformationen zwischen queerem und ökologischem Begehren sind bei Rodrigues nicht neu, bei dem die körperlichen und figurativen Grenzen zwischen den Geschlechtern, katholischer Ikonographie und BDSM-Kultur, Mensch und Tier permanent überschritten werden – zuletzt im „Ornithologen“. Neu ist jedoch die Erweiterung seiner Metamorphosen ins Postkoloniale. Wenn sich Afonso und Alfredo im Wald befriedigen, und sich dabei an einer Sprache des Rassismus und Kolonialismus aufgeilen („Schwarzer Speer“, „dunkle Schokolade“, „Siedler“, „Aufständischer“, „Imperialist“, „Kannibale“, etc.), dann wendet Rodrigues diese Sprache in eine Sprache des Verlangens und der Zärtlichkeit (bis zum Orgasmus und darüber hinaus).

Diese Umwendung geschieht nicht von allein oder durch eine Kaprize des Drehbuchs. Sie verdankt sich einer performativen Kraft, die Rodrigues’ Kino und vor allem dieser Szene mit ihren vor Lust keuchenden Körpern innewohnt. Was die Figuren sind, ihre „Identität“, ist immer schon „das Schaufenster dessen, was sie sind“: so sagt es einmal Alfredos Vater zu seinem Sohn. Die Figuren sind ihre eigenen Bühnen, ihre eigenen Szenen, durch die hindurch geschaut werden muss auf das, was sie hervorbringen, in Szene setzen.

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In dieser Performativität besteht der Unterschied von Rodrigues zu anderen großen portugiesischen Filmemacher:innen wie Manoel de Oliveira oder Rita Azevedo Gomes, denen er dennoch ähnelt. Wie sie verdichtet Rodrigues Theater, Musik, Malerei, Literatur und Kino zur barocken Gesamtkunstform; wie sie demonstriert er diese unglaubliche Kraft des portugiesischen Kinos, stets die ganze Geschichte und alle Künste gleichzeitig bespielen zu können, einen Welt-Raum zu öffnen, der nichts ist als Spiel, Illusion und Chimäre – hier etwa: eine verblassende Erinnerung im Kopf eines sterbenden Königs.

Gleichzeitig aber erfindet sich der queere Künstler seine eigene Tradition, entlang einer Serie extravaganter Tableaux vivants. Für ihren Jahreskalender stellen die Feuerwehrmänner „berühmte Gemälde“ nach, wie Caravaggios „Blowjob des Feuerwehrmanns“ oder Francis Bacons „Mr. Fireman, send me a dream“, von denen noch nie jemand gehört haben dürfte. Es gibt keinen Filmemacher im Gegenwartskino, der wie einst Pasolini (in „La ricotta“, 1963) oder Godard (in „Passion“, 1982) die Malerei so effizient für seine eigenen filmischen Zwecke, seine eigenen Diskurse einsetzt. Schon für die ikonische Schlussszene von „To Die Like a Man“ – Tonias Gesang bei ihrer eigenen Beerdigung – hatte sich Rodrigues von Titians „Mariä Himmelfahrt“ inspirieren lassen, Sublimes und Drag grandios synthetisiert. In „Irrlicht“ ist der von Alfredo und Afonso inszenierte „Raub des Ganymed“ von Rubens in der Reihe der nachgespielten Gemälde jedoch die einzig reale Referenz, da die Entführung des trojanischen Königsohnes (Alfredo) durch einen hingerissenen Zeus/Jupiter (Afonso) ohnehin schon eine schwule Urszene ist. In diesem Moment fällt der Groschen: Im schwulen Feuerwehruniversum des Films können die vorangegangenen Gemälde von Caravaggio und Bacon ja ebenso „real“ sein. Natürlich hat es seine eigene Kunst, seine eigene Geschichte.

Foto: Salzgeber

Denn Rodrigues spiegelt die Realität nicht einfach – er transzendiert sie. Er bastelt nicht einfach mit der Kunstgeschichte – er erfindet sie. Nichts ist „echt“ im Sinne von „einfach gegeben“ und alles immer schon transformiert an diesem Film, der sich weit weg von unserer Gegenwart positioniert, in der Zukunft eben sowie in einem Märchen, in dem Portugal noch von Königen regiert wird. Allein dadurch erweist sich Rodrigues als wahrer „Realist“, gerade im Sinne der Krone („real“ heißt königlich auf portugiesisch), die der arme König längst verloren hat – ebenso wie der Cineast die Wirklichkeit. Der Realismus ist verloren und immer noch zu gewinnen – in anderer, verwandelter, verzauberter Form.

Als königlicher Realist glaubt Rodrigues – wie vor ihm Pasolini, Godard oder Fassbinder – in die Kraft der Fiktion und daran, dass das Kino noch heute eine kollektive, mythische Erzählung hervorbringen kann. Doch diese Mythen, die uns im 21. Jahrhundert einen Platz in der Welt zuweisen und einen Platz im Film, von dem aus wir mit ihm interagieren, sind nicht mehr die alten. Sie sind ökologisch, queer und postkolonial. Sie brechen mit der Vergangenheit, schreiben sie neu. Ihre Bilder schauen uns an, lassen uns in sie eintreten und verbinden uns miteinander. Nachdem sie uns unsere Körper rauben und in Schatten verwandeln, die über dunkle Lissaboner Gassen huschen.




Irrlicht
von João Pedro Rodrigues
PT/FR 2022, 67 Minuten, FSK 16,
portugiesische OF mit deutschen UT

Ab 8. Dezember im Kino.

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