Wildhood

TrailerQueerfilmnacht/DVD/VoD

Neben dem schwedischen Liebesfilm „So Damn Easy Going“ läuft diesen Monat auch das kanadische Road Movie „Wildhood“ in der Queerfilmnacht. Bretten Hannam verknüpft darin die Suche eines Jungen nach seiner Mutter mit der Geschichte eines sexuellen Erwachens. „Wildhood“ wurde in der betörenden Landschaft von Nova Scotia gedreht, dem ehemaligen Stammesgebiet der Mi’kmaq, und teilweise auch in der Sprache des indigenen Volks. Nicht nur deswegen erzählt der Film für Noemi Yoko Molitor auch eine indigene Geschichte über das Verlieren und (Wieder-)Finden von Familie und kulturellem Wissen – eine Geschichte also, die im nordamerikanischen Kino noch viel zu selten erzählt wird.

Foto: Salzgeber

Alle meine Verwandten

von Noemi Yoko Molitor

Was genau Link überschreibt, als er sich von seinem kleinen Bruder Travis die Haare blondieren lässt, ahnt er nur entfernt. Der Teenager findet sich im Spiegel kurz sexy, dann suchen seine einfühlsamen Augen schon wieder die Umgebung ab nach Halt, wo es den nicht gibt. Die Halbbrüder navigieren durch ein Zuhause mit einem Vater, der jederzeit ausrasten kann, nur der Onkel, der ab und zu auf Besuch kommt, schaut mit etwas Zuneigung auf die beiden. Links Mi’kmaw Mutter starb, als er klein war – so hat es ihm sein weißer Vater immer erzählt. Als er herausfindet, dass sie noch lebt, schnappt er sich Travis und rennt ihr entgegen, obwohl er keinen blassen Schimmer hat, wo sie wohnt. Sie laufen einfach los.

Der Road Movie als Genre der großen Suche wird in Bretten Hannams Film „Wildhood“ neu besetzt. Das Unterwegssein ist hier zu Beginn vor allem ein Wegrennen, kein selbstgewähltes Statement von Freiheit oder Anti-Establishment und auch keine romantisierte Flucht vor dem Gesetz. Die Reise von Link und Travis spielt sich weniger fahrend, sondern mehr zu Fuß ab, weniger auf Straßen, sondern mehr in Wäldern und am Wasser. Autos gehen in Flammen auf, wie der Truck von Links Vater, oder werden einfach zurückgelassen, weil sie nicht mehr weiterfahren.

An einem Tankstellenladen treffen Link und Travis auf den Fancy Dancer Padmay, selbst erst 18, der sich auf seinen nächsten Auftritt bei einem Pow Pow vorbereitet und ihnen hilft davonzukommen, als der Ladenbesitzer in einem rassistischen Anfall mit der Polizei droht. Link, der instinkthaft niemandem vertraut, lässt sich nur zögerlich auf Padmays Fragen ein, während Travis mit kindlicher Begeisterung und Intuition sofort versteht, dass sie einen neuen Freund gefunden haben. Er fragt ihn darüber aus, was es bedeutet. Mi’kmaq zu sein, und lockt so schließlich auch Link aus der Reserve, der sich für die Sprache seiner Mutter interessiert, ohne es so recht zugeben zu wollen.

„Wildhood“ erzählt eine Geschichte, die queer gelesen werden kann, aber dezidiert in der Two-Spirit-Tradition verwurzelt ist. „Tow Spirit“ ist ein Umbrella-Term, den die unterschiedlichen First Nations auf Turtle Island – wie sie selbst Nordamerika nennen – zwar benutzen, von dem sie aber auch immer wieder betonen, dass er als Überbegriff den jeweiligen Praktiken und Philosophien, die weit über Fragen von Sexualität, Geschlecht und Gender hinaus gehen, kaum gerecht werden kann. Ganz zu schweigen davon, dass die queeren Communities Kanadas und der USA zwar gelegentlich von LGBTIQ2S sprechen, aber zu wenig über die Geschichte des kulturellen Genozids, der in den USA maßgeblich durch die Indian Boarding Schools und in Kanada durch die Residential Schools umgesetzt wurde und auch die Auslöschung der Präsenz von Two Spirits (2S) zum Ziel hatte.

Foto: Salzgeber

Die Kolonialgeschichte – oder besser gesagt: die koloniale Gegenwart der heutigen Siedlerkolonie Kanada – blitzt im Film an einigen Stellen auf, ohne ihr das Zentrum der Erzählung zu überlassen. Etwa in einer Szene in einem christlichen Rehab-Zentrum, zu dem die erste Spur von Links Mutter führt, und dessen Leiterin ihre Ablehnung der Mi’kmaw Kultur nicht einmal versteckt. Was hier als institutioneller Versuch der Auslöschung durch die christliche Kirche anklingt, wird im Film auf individueller Ebene in Links Vater, der dessen Mutter für tot erklärt hat, gespiegelt.

Hannam schrieb das Drehbuch zum Film und führte, wie bereits beim Kurzfilm „Wildfire“ (2019), auf dem „Wildhood“ basiert, Regie. Hannam drehte das Projekt, in das auch Hannams persönlicher Weg eingeflossen ist, bewusst auf Mi’kmaq und Englisch – und hat damit ein Zeichen im englischsprachigen Film gesetzt. Die Linguistin Mary Rebecca „Becky“ Julian, selbst Überlebende der Residential Schools und heute Mi’kmaq-Lehrerin, tritt in „Wildhood“ in ihrer ersten Filmrolle als Elder Elspet auf. Ihre Figur erlaubt Link und Padmay, der selbst von seiner Familie abgeschnitten ist, ein Homecoming in die Community.

Foto: Salzgeber

So gewaltvoll der Film beginnt, so einfühlsam und vorsichtig geht das Trio im Laufe ihrer gemeinsamen Reise miteinander um. „Wildhood“ ist ein Coming of Age-Film, getragen von einem Gefühl der Zärtlichkeit. Sie ist zwischen den Figuren spürbar, in der Körpersprache der Darsteller:innen, in Links Kümmern um den kleinen Bruder, obwohl er selbst erst gerade erwachsen wird. Ebenso deutlich spricht diese Zärtlichkeit aus der Haltung von Bretten Hannam – gegenüber den Schauspieler:innen und dem gesamten Projekt, das mehr noch als eine jugendliche Liebesgeschichte eine indigene Geschichte über das Verlieren und (Wieder-)Finden von Familie und kulturellem Wissen ist.

Hannam gehört der L’nu First Nation an und ist selbst Two Spirit. Für die Arbeit mit den Schauspieler:innen kooperierte er mit der Wabanaki Two Spirit Alliance, deren Vorsitzende:r John Sylliboy im Film in der grandiosen Rolle von Mother Mary auftritt, Inhaberin der berüchtigten Tiger Lily Bar, in der das Trio – inzwischen unter der Fittiche des Konditors Smokey – aufschlägt, um eine weitere Spur zu Links Mutter ausfindig zu machen.

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Was den Film ebenfalls auszeichnet: Link wird für seinen fehlenden Kontakt zur Mi’kmaw Sprache und Community nicht geshamed, sondern eher scherzhaft auf den Arm genommen wird. Die Figur Desna, gespielt von dem Mi’kmaw trans* Schauspieler Desna Michael Thomas, konfrontiert Link in einer wunderbaren Szene mit indigiqueerem Pride. Die Präsenz von Desna Michael Thomas lässt in jedem Fall auf größere Filmrollen hoffen. So erweitert sich das Trio unterwegs immer wieder.

Ein weiterer Weggefährte der Drei ist dabei sicherlich das Wasser. Padmay trägt einen „Water is Sacred“-Aufnäher auf seiner Jeansweste. Die „Recht auf Wasser“-Kämpfe der First Nations in Kanada, die größtenteils keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, sind somit auf seiner Kleidung präsent – aber auch die North-Dakota-Pipeline-Proteste aus dem Jahr 2016, als Jugendliche als „Water Protectors“ auftraten. Padmay betrachtet als Two Spirit andere Lebewesen als Verwandte, und das Wasser gehört dabei dezidiert dazu.

Mit Link und Travis bewegt er sich auf ihrem Trip durch die bildstarke Landschaft des Annapolis Valley entlang der Bay of Fundy in Mi’kma’ki, wie Nova Scotia auf Mi’kmaq heißt. Sie laufen an Stränden und Flussläufen entlang. Link und Padmay tanzen am Meer und finden schließlich unter einem Wasserfall noch ganz anders zueinander. Travis hat das vorausgesehen – vielleicht weil er eine der besten Geschwisterfiguren der Filmgeschichte ist.




Wildhood
von Bretten Hannam
CA 2021, 100 Minuten, FSK 12,
OF in Englisch und Mi’gmaq mit deutschen UT

Im Dezember in der Queerfilmnacht.

Zur DVD im Salzgeber.Shop

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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