Baby

TrailerQueerfilmnacht

In der Tradition von komplexen Szenefilmen wie „My Private Idaho“ und „Sauvage“ erzählt „Baby“ die mitreißende Geschichte eines queeren Erwachsenwerdens auf den Straßen von São Paulo: Nach seiner Entlassung aus dem Jugendknast lernt der 18-jährige Wellington den 42-jährigen Sexworker Ronaldo kennen. Der erfahrene Escort nimmt den jungen Mann unter seine Fittiche und zeigt ihm das Rotlichtmilieu, in dem auch Wellington unter dem Namen „Baby“ zu arbeiten beginnt. Regisseur Marcelo Caetano („Body Electric“) nähert sich den Figuren und Schauplätzen seines Films ohne Vorurteile und mit großer Empathie an und feiert die Solidarität zwischen Außenseiter:innen, ohne die Schattenseiten des Milieus zu kaschieren. Im Februar ist „Baby“ in der Queerfilmnacht auf der großen Leinwand zu sehen. Christian Lütjens über eine packende Coming-of-Age-Reise zwischen Glück und Abgrund, Halt-Finden und Abstürzen.

Foto: Salzgeber

Atemlos durch die Stadt

von Christian Lütjens

Es beginnt ein bisschen wie ein Musical. Junge Männer mit Trommeln und Trompeten marschieren in einem Gefängnisinnenhof auf. Sie schlagen Pauken und blasen Posaunen, gleichzeitig postieren sich um sie herum immer mehr Knastbrüder, die teils skeptisch, teils lauernd das Geschehen beobachten, während der Rhythmus immer treibender wird. Es müsste nur irgendwer zu singen und zu tanzen beginnen und schon befänden wir uns mittendrin im Opening einer Häftlings-Revue, die die Härten des Knastalltags als ironische Nummernrevue darbietet. Völlig abwegig ist dieser Gedanke nicht mal, wenn man bedenkt, dass eins der filmischen Vorbilder, die Regisseur Marcelo Caetano für „Baby“ angibt, das bonbonbunte französische Sixties-Filmmusical „Die Regenschirme von Cherbourg“ (1964) ist.

Aber genug geträumt! Denn es fängt bei der Kapellen-Show im Gefängnishof niemand zu singen an. Sie ist lediglich eine Ouvertüre, eine durchchoreografierte Metapher für die aufgeladene Statik eines Gefängnisalltags, mit dessen Härte das Leben in den Straßen São Paulos locker mithalten kann. Dorthin geht es nun für den Protagonisten des Films, einem der Trommler aus der Eröffnungssequenz, nach seiner Entlassung aus dem Knast.


Bei der Rückkehr zum Wohnblock seiner Eltern muss Wellington, ein 18-Jähriger Schlaks, feststellen, dass diese unbekannt verzogen sind. Die Nachbarin bietet ihm noch an, eine Nacht bei ihr zu bleiben, aber den jungen Mann treibt es weiter: „Ich muss meine Eltern finden“, sagt er und rennt kopflos hinein in den Großstadtdschungel São Paulos, dessen unerbittliche Rastlosigkeit ihn nun 90 rasante Filmminuten lang vor sich hertreiben wird. Es geht durch zwielichtige Dealer-Höhlen, durch Box-Ringe, Schwulensaunen, Nachtclubs, Luxusapartments, durch staubige Sackgassen, nächtliche Parks und nicht zuletzt: in die Arme von Ronaldo. Der ist das genaue Gegenteil des verzagten, bei aller Impulsivität stets gefährdeten Wellington: ein betont maskuliner Senior-Stricher Anfang 40, der die Sexarbeit gleichermaßen abgeklärt wie diszipliniert als Fulltime-Job macht.

Die beiden lernen sich in einem schummirgen Pornokino kennen. Dort landet Wellington nach einer Nacht im Freien und einem Tag im Ungewissen mit seinen alten Freund:innen von der Familia Close Certo, eine queere Straßen-Gang, die sich mit Gelegenheitsdiebstählen und Voguing-Shows in öffentlichen Parks und Verkehrsmitteln durchschlägt. In den spitzzüngigen Schlagabtäuschen der Truppe klingt nebenbei an, warum Wellington im Knast saß: Angeblich hat er in seiner ehemaligen Schule ein Feuer gelegt, bei dem Menschen ums Leben kamen. Ob das so stimmt, bleibt offen. Es tut auch nichts zur Sache in der Gemeinschaft der Ausgestoßenen. Sie leben von Augenblick zu Augenblick, von Aktion zu Aktion. Und die Aktion der folgenden Nacht ist eben Handys-Zocken im Pornokino.

Foto: Salzgeber

Wellington jedoch flirtet anstatt zu zocken – mit dem attraktiven Ronaldo. Der erteilt ihm erst mal eine Abfuhr, als er erfährt, dass der Junge kein Geld hat. Nach Ladenschluss lädt er ihn dann aber doch auf einen Imbiss ein und nimmt ihn schließlich mit zu sich nach Hause. Dort findet trotz aller erotischen Spannung statt Sex eine bemerkenswert zarte und erzählerisch geniale Annäherung zwischen den beiden statt, bei der Wellington dem Älteren den Verlauf seines bisherigen Lebens anhand der Narben skizziert, die dieses Leben ihm zugefügt hat: eine auf der Brust, verursacht durch seinen Bruder, der in der Kindheit Flaschen nach ihm geworfen hat; eine am Rücken von einem Mitschüler, der ihn als „Schwuchtel“ gehänselt und mit einem Kompass attackiert hat; und eine am Hinterkopf, die im Gefängnis entstanden ist. Lakonischer lässt sich eine von familiärer und homophober Gewalt überschattete Jugend kaum resümieren.

Gleichzeitig wird der Charakter der Hauptfigur in dieser Szene erstmals vollends greifbar – in all seiner Verletzlichkeit und Unbedarftheit, aber auch in seiner Unerschrockenheit und Stärke. Wellington-Darsteller João Pedro Mariano spielt die Szene mit entwaffnender Offenheit halb kindlich, halb trotzig. Es ist einer dieser Momente, in denen beim Zuschauen nicht mehr klar ist, ob man sich nun in die Filmfigur oder die Person, die sie darstellt, verliebt. Was ja letztendlich auch egal ist. Man verliebt sich halt. Und versteht deshalb auch ohne weitere Dialoge und Erklärungen, warum es Ronaldo im gleichen Moment genauso geht.

Foto: Aline Arruda/ Salzgeber

Die beiden werden zum Team. Sie gehen zusammen anschaffen, leben zusammen, testen ihre jeweiligen Limits und Stärken aus. Ihr erstes gemeinsames Profi-Date geht allerdings gründlich schief. Entgegen Ronaldos vorherigen Beteuerungen wird der Freier dermaßen zudringlich, dass Wellington gedemütigt wegrennt. Danach sagt Ronaldo zu ihm den Satz, der zum Ausgangspunkt für einen weiteren erzählerischen Coup wird: „Hör auf, ein Baby zu sein!“ Diese Aussage nimmt Wellington Ronaldo erst sehr übel, verwandelt sie nach der Versöhnung aber in jenes Symbol der Selbstermächtigung, dem der Film seinen Titel verdankt. Als Ronaldo ihn bei einem gemeinsamen Beutezug in der Schwulensauna einem Kunden vorstellen will, fällt Wellington ihm kurzerhand ins Wort und sagt hoch erhobenen Hauptes selbst, wie er heißt: „Baby!“ Danach ist der Spitzname gesetzt. Er wird zum Sinnbild der folgenden Coming-of-Age-Reise, die die beiden erst fest zusammenschweißt und dann (beinah) entzweit.

All das erzählt und inszeniert Marcelo Caetano genauso atemlos und schnell, wie es sich in diesem radikal verknappten Abriss liest. Es passiert eigentlich viel zu viel in diesem Film, der nicht nur für die Protagonisten, sondern auch für die Zuschauenden ein gnadenloses Auf und Ab zwischen Glück und Abgrund, Halt-Finden und Abstürzen ist. Es gibt wunderbar harmonische Szenen, die die Geborgenheit von Wahlfamilien nicht nur illustrieren, sondern wirklich spürbar werden lassen, aber auch umso härtere Szenen, die die Dysfunktionalität leiblicher Familien und des Großstadtmolochs São Paulo vor Augen führen. Letzterer ist in „Baby“ gewissermaßen ein Protagonist für sich. Nachdem schon Caetanos erster Spielfilm „Body Electric“ eine durchaus ambivalente Hommage an seine Wahlheimatstadt war, lotet er diesmal die brüchige Essenz der 12-Millionen-Einwohner-Metropole aus: Obdachlosigkeit, Drogenkriminalität, Homophobie, soziale Ungleichheit, Alltags- und Polizeigewalt.

Foto: Arthur Costa/Salzgeber

Dass „Baby“ diese Vielzahl an Themen verhandelt, ohne dass es didaktisch sozialkritisch rüberkommt, ist Caetanos genauem Studium des Milieus, über das er erzählt, zu verdanken. Das Zuviel an Handlung ist bei ihm nicht der Tatsache geschuldet, dass er als Drehbuchautor und Regisseur zu viel will. Es ist schlicht von der Lebensrealität seiner Figuren abgeschaut. Da Baby und Ronaldo ständig mit den Herausforderungen ihres vom Überlebenskampf gezeichneten Alltags Schritt halten müssen, muss es auch die Handlung des Films. Dabei zuzuschauen fühlt sich so elektrisierend und erschöpfend an wie der Alltag in São Paulo selbst.

Wer schon mal dort war, wird den Rhythmus der Stadt wiedererkennen in diesem Film – ihre Energie und ihre Tristesse, ihr Funkeln und ihre Kaputtheit, das Aufputschende und Uferlose, die Kontraste, den Lärm, die Schönheit der Menschen, die dort leben, und die Hässlichkeit der Umstände, denen sie ausgesetzt sind. Die letzten fünf Minuten des Films sind dann der große kleine Frieden, den es nach anderthalb Stunden Rennerei braucht, um nicht völlig verstört hinauszuwanken aus der filmischen Berg- und Talfahrt. Zum ersten Mal bleibt genug Ruhe, um den Tränen freien Lauf zu lassen – bei einer Begegnung von Ronaldo und Baby, denen Caetano und die wunderbaren Darsteller ein so herzzerreißend versöhnliches Finale bereiten, dass selbst São Paulo für einen Moment den Atem anzuhalten scheint. In einem Musical käme jetzt eine Fanfare. Hier jedoch erklingt der „Valse“ von Bossanova-Urvater Antônio Carlos Jobim. Ein Traum ist vielleicht aus, aber die Hoffnung lebt und die Zukunft ruft. Und die Verliebtheit? Die bleibt.




Baby
von Marcelo Caetano
BR/FR/NL 2024, 106 Minuten, FSK 16,
portugiesische OF mit deutschen UT

Im Februar in der Queerfilmnacht