Liberté

Trailer Kino

Nachdem er sich in seinem Film „Der Tod von Louis XIV“ (2016) dem Sterben des Sonnenkönigs gewidmet hatte, befasste sich Albert Serra in seinem selbstgeschriebenen Stück „Liberté“ mit einer Gruppe von Libertins wenige Jahre vor der Französischen Revolution. Im Frühjahr 2018 feierte es an der Berliner Volksbühne seine Premiere, u.a. mit Helmut Berger und Ingrid Caven. Nun kommt die gleichnamige Verfilmung, die in Cannes uraufgeführt wurde, in die Kinos – montiert aus 300 Stunden Material, das mit drei Kameras aufgenommen wurde. Unser Autor Dennis Vetter hat den Film für uns gesehen und sich auf die Logik des Verspielten eingelassen.

Foto: Filmgalerie 451

Der Wille zur Entgleisung

von Dennis Vetter

„Sie ist eine der größten Schauspielerinnen aller Zeiten. Sie lehrt Sie, Akteur und gleichzeitig geduldig zu sein. Sie können viel von ihr lernen.“ Zwei Männer im Wald, kurz vor der Französischen Revolution: Einer sitzt in der aufwendig verzierten Holzsänfte, einer steht zwischen den Bäumen. Ein Gespräch, das sich halb wie ein Monolog anfühlt. Thesenhaft. Rätselhaft. Wenige Meter weiter schleichen noch andere herum, manche vergnügen sich miteinander. (Lust-)Schreie dringen durch das Dickicht und kitzeln von außen am Bildrand. Der katalanische Autorenfilmer Albert Serra lässt seine Figuren in der Filmadaption seines Volksbühnen-Stücks „Liberté“ ruhelos und selbstvergessen durch die Nacht cruisen, immer auf der Suche nach neuen Reizen und extremen Gedankenbildern. Zwischen mehreren Kameras, Schauspielprofis und Laien, Dialogfetzen und viel Gestöhne entspinnt sich eine geisterhafte Meditation über Freiheit und das Utopische.

Beinahe wirkt es, als würden die Bilder hier nicht nur etwas zeigen wollen, sondern ebenso etwas verbergen. Der Film verfolgt die Logik der Nacht, des Träumens, des Uneindeutigen und Verspielten. Einer der Adligen wird im Liebesrausch umgebracht. Ein Stich in die Brust, aber nicht ins Herz. Das wäre zu gut. Dann röchelt er. All das ist Serra keinen weiteren Kommentar wert. Eine Randnotiz. Mit einer Spannungsdramaturgie hat sein Film nichts am Hut. Wichtig ist dagegen der Ausgangspunkt, die Grundidee, aus der sich dann lose die Ideen und Begegnungen entspinnen: Nach dem Tod von Louis XV. sind einige Adlige vom Hof vertrieben worden, suchen Zuflucht in Deutschland. Irgendwo in der Nähe von Berlin wollen sie den Kontakt zum Duc de Walchen (verkörpert von Helmut Berger) und machen ihm den Hof. Denn sie hoffen, im Preußen unter Friedrich dem Großen weiter ihren Exzessen nachgehen zu dürfen. Die Philosophie der Libertinage soll exportiert werden – so hieß es im Theaterstück.

„Wir brauchen diese Salbe, diese Salbe aus Scheiße und aus Dreck.“ Die französischen Libertins nahmen zu ihrer Zeit kein Blatt vor den Mund – das wird schnell klar und verwundert angesichts von Zeitgenossen wie dem Marquis de Sade wenig. Ihre Sprache war entfesselt und betont vulgär. Serra setzt den Ton des Films entsprechend, steigt förmlich mit einem Gemetzel aus Worten ein. Schon in den ersten Momenten, in einer Art Prolog und Vorgeplänkel, während letzte Sonnenstrahlen die Waldlichtung in warme Farben tauchen. Durch Worte die Fantasie zu wecken und den Horizont zu erweitern, darum ging es damals und darum geht es auch hier – wenn auch anders als vermutet. Serra lässt den überbordenden Willen seiner Figuren zur Entgleisung immer wieder ins Leere laufen und macht sich ein Spiel daraus, ihnen seinen eigenen Freiheitsbegriff um die Ohren zu hauen.

Foto: Filmgalerie 451

Seinen Ruf als visionärer Agitator des Kinos hat sich Serra durch eine Formsprache und Produktionsweise erarbeitet, die im heutigen Filmbetrieb kaum Entsprechungen findet: Er setzt drei gleichwertig wichtige Kameras ein und bietet den Mitgliedern seines Ensembles – meist Laien – selten mehr als chaotische Zurufe, um sich in ihren Rollen und am Set zu orientieren. Vorgefertigte Skripts sind im Kino des Katalanen eine Seltenheit, stattdessen umarmt er das Chaos seiner Drehs als Hoffnung auf unerwartete Eindrücke. So filmte für „Liberté“ also jede Kamera autonom und mit minimaler Abstimmung, stellte eine eigene Blickachse her. Wer dazwischen stand, Profi oder nicht, verlor naturgemäß die Orientierung und fand sich in einem sonderbaren Zustand wieder. So verwundert es kaum, dass selbst ein Filmveteran wie Helmut Berger sich in Serras Film nach Aussage des Regisseurs im Nachgang kaum wiedererkannte. Wer bei Serra auftritt, erfährt sich im Spiegel der Kamera selbst ganz neu – ebenso wie das experimentierfreudige Kinopublikum beim Sehen der Welt und ihren Geschichten auf neue Weise gegenübertritt. Serra liebt es, große Figuren und Gesichter wie Don Quixote, die Heiligen Drei Könige oder zuletzt Louis XIV. zu entleeren und neu zu erfinden.

Foto: Filmgalerie 451

Zu „Liberté“ entstanden rund 300 Stunden Material. Serra schnitt daraus gemeinsam mit Ariadna Ribas und Artur Tort die Videoinstallation „Personalien“ für das Museo Reina Sofía in Madrid – begleitend dazu fand sich die Filmfassung als Verdichtung. Einigen wird auffallen, dass Fassbinder-Ikone Ingrid Caven es von der Volksbühne nicht ins Kino geschafft hat. Aufnahmen wurden gemacht, doch Serra entschied sich, sie im Film nicht zu verwenden. Eine Figur mehr oder weniger, das spielt keine Rolle, großer Name hin oder her. Wie ein Bild hier auf das andere folgt, das gehorchte keiner übergeordneten Logik, sondern einem Sinn für den Fluss und das Zufällige. Bedeutungen entstehen – im Schnitt ebenso wie beim Sehen – weil das Gehirn sie sich sucht.

Und weil Sätze, wie der eingangs zitierte, natürlich suggestiv sind. „Seien Sie nicht lächerlicher als ich. Geben Sie’s mir“, meint einer, während er mit rotem Arsch auf dem Boden liegt. Der Peitschenknecht ist Armin, verkörpert von Lluís Serrat. Müde schlurft er um den Wimmernden herum. Eigentlich will er nicht mehr. Serrat ist Serras Stammschauspieler seit 2006 und immer wieder wirkt es, als wundere er sich mit skeptischen Blicken über die Geschehnisse des Films. Die Menschen im Bild sind Handelnde und gleichermaßen Beobachtende. Dann richtet Serrat ein Fernglas auf die Kamera. Voyeurismus gehört zum Kino, ebenso wie die Möglichkeit zur Erwiderung des Publikumsblicks. Momente später kippt die Stimmung wieder ins Ernste und Düstere. „Nur mit Ironie lässt sich kein Film machen“, meint Serra im Gespräch.

Foto: Filmgalerie 451

„Liberté“ versucht weder, rein erotisch zu sein, noch historisch genau. Jede Erotik scheint aus dem Gedanken geboren, zu regieren oder regiert zu werden. Erektionen bleiben aus, fast wie bei Jack Smiths Underground-Klassiker „Flaming Creatures“, wo die Orgie nie ganz Orgie ist, sondern stets die Karikatur einer Orgie zeigt. Die Utopie vom völligen Genuss scheitert an den Grenzen der Einzelnen, und ist doch da, hinter den Bildern, im Machen: im Drehprozess selbst als Spiel mit den Grenzen der Gruppe. Das Cruisen im Bild wird zur entrückten Farce. Und doch steht die Waldlichtung als verruchter Ort den brutalen Machträumen am französischen Hof als anarchistischer Spielplatz entgegen. Serras neuer Filmversuch zeigt die Möglichkeiten der Kunst im Hier und Jetzt, ist keinen Deut mehr Vergangenheit als Peter Greenaways „Der Kontrakt des Zeichners“ oder Yorgos Lanthimos’ „The Favourite“. Ein Film, der die Gegenwart liebt und sich von der Zeit befreien will.



Liberté
von Albert Serra
F/P/E 2019, 132 Minuten, FSK k.A.,
französisch-deutsch-italienische OF mit deutschen UT,

Filmgalerie 451

Ab 12. September hier im Kino.

 

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