Odd Klippenvåg: Ein liebenswerter Mensch

Buch

Norwegen ist 2019 Gastland der Frankfurter Buchmesse, und so erscheint endlich ein weiterer Roman von Odd Klippenvåg auf Deutsch. Unser Rezensent Tilman Krause erklärt, weshalb es tatsächlich Sinn ergibt, Literatur nach regionalen Zusammenhängen zu betrachten: Norweger erzählen oft anders als Deutsche, Franzosen oder Amerikaner. Odd Klippenvåg zum Beispiel spricht nicht gern über Gefühle; stattdessen dringt er mit seiner entschleunigten Schreibweise tief ins Innenleben seiner Figuren und in die Strukturen ihrer Beziehungen ein und lässt die Fakten sprechen.

Eindrucksvoll unpathetisch

von Tilman Krause

Mein Gott, wie betulich, dachte ich nach den ersten fünfzig Seiten. Und überlegte ernsthaft, ob ich das Buch weiterlesen soll. Dieses fotorealistische Protokollieren von Handlungen und Gesprächen! Diese Pedanterie bei der Beschreibung von Mahlzeiten, von denen man bis ins Detail erfährt, was auf den Tisch kommt! Und dazu dieser immergleiche nüchterne, fast emotionslose Ton, obwohl doch eine Liebesgeschichte erzählt werden soll! Nein, dieser Norweger Odd Klippenvåg ist wahrlich kein Temperamentsbolzen. Das muss ich auch nach Beendigung der Lektüre eingestehen. Aber dann fiel mir beim Lesen ein, dass ich ja im Umgang mit Skandinaviern immer schon das Gefühl hatte, sie seien einfach langsamer getaktet. Und in Sachen Zwischentöne, Ironie, Witz, Verspieltheit herrschen bei ihnen andere Maßstäbe als bei uns. Aber wenn man das akzeptiert und sich auf die Eigenheiten dieses Buches einlässt, kann es einen durchaus fesseln und sogar als Spiegel dienen für Fragen der eigenen Existenz.

Odd Klippenvåg lässt hier zwei Schwule ein großes Abenteuer miteinander erleben, die Mitte sechzig sind. Das ist an sich schon bemerkenswert. Möglicherweise hat es mit einer gewissen Selbstverpflichtung zur Aufrichtigkeit zu tun, die auch aus den Büchern von Klippenvågs Landsmann Knausgard spricht, die ja viele Leser faszinierend finden. Und zur Aufrichtigkeit gehört auch, Geschichten aus dem „wahren Leben“ zu erzählen. Zum „wahren Leben“ unserer Tage gehört aber, dass eine ganz bestimmte Gruppe in der Gay Community eine nicht unbedeutende Rolle spielt, obwohl sie in kulturellen Hervorbringungen meist unterrepräsentiert ist: die Älteren.

Die aber, folgt man Klippenvåg, in ihren Lebensgewohnheiten von jungen Schwulen heute gar nicht mehr so verschieden sind. Sie haben die gleichen kleinen oder großen Probleme, sofern sie in Beziehungen leben, und ganz ähnliche Sehnsüchte, Ängste, Glücksmomente, falls das mit den Beziehungen nicht so klappt. Ihre Experimentierfreude mag sich ein bisschen gelegt haben, ihr Komfortbedürfnis ein wenig gestiegen sein, aber sonst werden sie von den gleichen Wünschen nach Liebe, Sex und Abenteuer gesteuert, von denen sie schon immer gesteuert wurden. „Das Ich altert nicht“, hat Hannah Ahrendt mal geschrieben. Das Ich leidet ein Leben lang unter denselben Defiziten (oder was es dafür hält). Und es richtet sich ein Leben lang an denselben einmal als erfolgsversprechend erkannten Strategien wieder auf.

Odd Klippenvåg – Foto: Lillian Hjellum

So verhält es sich auch bei den beiden Protagonisten dieses Buches. Da ist auf der einen Seite der Ich-Erzähler Birger Mostul. Ein erfolgreicher Galerist in Oslo, der das Dasein des urbanen Schwulen von heute führt, seinen kulturellen Interessen nachgeht, gern verreist, gern gut isst sowie, seelisch ein bisschen unterfordert, mal hier Sex hat, mal dort eine Affäre. Im Übrigen kommt er auch gut mit sich alleine klar. Ganz anders Kjerand Lie. Der hat die schwulen Doktorspiele seiner Jugend früh ad acta gelegt, geheiratet, wurde Vater. Er blieb in jenem Dorf hängen, aus dem er stammt, bewirtschaftet seinen Hof und züchtet Schafe. Das wäre wahrscheinlich noch lange so weitergegangen, wäre da nicht das aufgetaucht, was heutzutage meist das einzige ist, was einen gesettelten Europäer dazu bringt, das Ruder der eigenen Existenz noch einmal rumzureißen: eine lebensbedrohliche Krankheit. Krebs.

Bei Kjerand handelt es sich um den inzwischen relativ gut heilbaren Prostatakrebs. Um sich behandeln zu lassen, muss er in die Hauptstadt. Und so schneit er eines Tages bei Birger Mostul vorbei. Der erkennt ihn gar nicht. Sie haben sich über dreißig Jahre nicht gesehen. Aber ein Funke Hingezogensein zu dem schlank gebliebenen, offenbar in seiner naturbelassenen Umgebung gut gealterten Kjerand hat sich bei Birger erhalten. Obwohl das erste Treffen in einem indischen Restaurant, wohin es Kjerand noch nie verschlagen hat, zunächst vor allem Unterschiede offenbart – hier der weltläufige Schwule, dort das heterosexuell lebende Landei –, entsteht rasch eine neue Sympathie, und Birger bietet Kjerand aus einem plötzlichen Impuls der Fürsorglichkeit heraus an, während der Krebsbehandlung in Oslo bei ihm zu wohnen. Weshalb ihn seine Assistentin Alice einen „liebenswerten Menschen“ nennt.

Was nun beginnt, ist eine anrührende Liebesgeschichte, die sich von Etappe zu Etappe steigert – bis zu welchem Punkt, soll hier nicht verraten werden. Nur soviel sei gesagt, dass sich der heruntergedimmte Ton Klippenvågs sehr bewährt, wenn es zur Beschreibung von Sex zwischen seinen beiden Hauptfiguren kommt, gerade, weil der natürlich nicht mehr so reibungslos verläuft, als wären beide 30. Das liegt vor allem am (zeitweisen) Verlust der Libido, den die Bestrahlungen bei Kjerand auslösen. Doch der weiß sich zu helfen. Und nach einer Weile treiben es die beiden Herren ganz munter – und eben auf eine Weise innig, was dann eindrucksvoll unpathetisch folgendermaßen klingen kann: „Alles war so anders als das, was ich in den letzten Jahren erlebt hatte. Auf eine seltsame Weise hatten wir immer noch eine jugendliche Neugier auf den Leib des anderen, aber verschwunden waren die Eile, die Gier nach dem raschen Genuss. Wir standen da als Erwachsene und tauschten Zärtlichkeiten aus, jeder mit seiner Lebenserfahrung. Und dennoch, als wir beide nackt waren, kam ich spontan in seiner Hand, sowie er nach mir gegriffen hatte.“

Die Schnörkellosigkeit, die auch diese Passage kennzeichnet, sollte nicht dazu verleiten anzunehmen, der Roman sei plan erzählt. Er arbeitet vielmehr mit allerhand subtilen Verweisen auf eine zunehmende Bedeutung des Todes hin, baut andererseits mit Alice, Birgers engster Freundin und Mitarbeiterin, auch eine Figur ein, die für die aufsteigende Linie des Lebens steht. Das ist sehr dicht und sorgfältig komponiert, bleibt dabei jedoch auf angenehme Weise diskret und wirkt nie effekthascherisch. So bietet „Ein liebenswerter Mensch“ beiden Gruppen etwas: den stofflich Interessierten spannendes Lesefutter. Und den literarischen Connaisseurs eine auch ästhetisch überzeugende solide Arbeit.


Ein liebenswerter Mensch
von Odd Klippenvåg
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Gebunden mit Schutzumschlag
, 236 Seiten, 20 €,
Albino Verlag

 

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