Synonymes
Trailer • Kino
Yoav kommt aus Israel nach Paris und erwischt keinen guten Start: Als er in einer leer stehenden Wohnung ein Bad nimmt, werden ihm erstmal all seine Sachen gestohlen. Caroline und Emile kommen ihm zu Hilfe und werden seine Freunde, doch ihr Interesse ist nicht ganz selbstlos. Yoavs große Sehnsucht ist es, seine alte Herkunft abzulegen und Franzose zu werden. Das soll vor allem über die Sprache gelingen: Kein hebräisches Wort darf ihm mehr über die Lippen kommen auf seinen ziellosen Streifzügen durch die Stadt… Basierend auf eigenen Erfahrungen erzählt Nadav Lapid mit linguistischer Raffinesse von der Schwierigkeit, neue Wurzeln in einem fremden Land zu schlagen. Im Februar wurde sein rauschhafter Trip durch Paris, der zugleich tragikomische Hommage an das Kino der Nouvelle Vague ist, aber auch einen dezidiert queeren Blick in sich trägt, mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Philipp Stadelmaier über ein (film)sprachliches Meisterwerk, das ab heute bundesweit im Kino zu sehen ist.
Haut gleich Haut
Ein junger Mann mit Rucksack geht eilig durch Pariser Straßen, springt das Treppenhaus eines Altbaus hoch, fischt einen Schlüssel unter dem Teppich hervor und betritt ein riesiges, leerstehendes Apartment. Dann ist es Nacht. Der Mann liegt in seinem Schlafsack auf dem Boden, steht auf und hoppelt ein paar Schritte ins andere Zimmer. Lässt den Schlafsack fallen, geht ins Badezimmer und nimmt eine Dusche. Und was macht er unter der Dusche? Er masturbiert. Zumindest ein bisschen. Als er zurück in den Vorraum kommt, ist der Schlafsack weg, seine anderen Sachen auch, vermutlich geklaut. Er rennt ins Treppenhaus, ruft um Hilfe, niemand antwortet. Er geht zurück, in die Wohnung. Zurück unter die Dusche. Nackt.
Der Mann heißt Yoav und ist gerade aus Israel in Paris angekommen. Und wenn er hier gleich zu Anfang von allem entkleidet in der Fremde ausgesetzt wird, ist das so ziemlich die genialste Einführung, die Nadav Lapid in seinem neuen Film „Synonymes“, mit dem er auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewann, seiner Hauptfigur hätte zuteil werden lassen können: Yoav ist nackt, hat alles verloren, ist bereit, neu anzufangen.
In der materiellen Dimension der Existenz bleibt Yoav, neben seinem Körper, zunächst nur ein Gesicht: ein bisschen dumpf und ein bisschen glotzend, ein bisschen horny und ein bisschen aggressiv. Ein bisschen männlich und ein bisschen blass. Nichts weiter als ein normales Gesicht, bestehend aus Haut, Fleisch, Knochen und allem, was man eben so hat. Dieses Gesicht und den dazugehörigen Körper leiht ihm ein großartiger Tom Mercier. Die Klamotten, die seine Nacktheit bedecken und ihn vor dem Kältetod schützen (es ist Spätherbst in Paris und kühl), erhält Yoav von einem Pärchen, das im selben Haus wohnt und ihn am nächsten Morgen halberfroren in der Badewanne findet. Emile (Quentin Dolmaire) und Caroline (Louise Chevillotte) tragen den nackten Yoav in ihre Wohnung und ihr Bett und stellen das Unvermeidliche fest: Yoav ist beschnitten. Sofort wirft Emile ihm eine Unterhose über den Penis. Später steht Yoav im Zimmer und starrt reglos geradeaus, während ihm Emile Hemden und andere Kleidungsstücke hinhält, um zu sehen, was ihm steht. Der nackte Yoav muss bedeckt und bekleidet werden. Am Ende entscheidet man sich insbesondere für einen gelben Mantel, den Emile an Yoav abtreten und den Yoav für den Rest des Films tragen wird. Wie eine zweite, neue Haut, eine neue Nacktheit. Der Mantel ist ein Synonym für nackte Haut – und für eine neue Sprache.
Denn genau nach der sucht Yoav in Frankreich. Nackt sein heißt, sich nur mit Sprache zu bekleiden, sich mit nichts als Sprache zu bekleiden. Nackt sein heißt auch, eine alte Sprache abzustreifen (das Hebräische), sich zu häuten, um sich eine neue Haut zuzulegen (das Französische). Yoav ist nach Paris gekommen, um nicht mehr Hebräisch zu sprechen. Er hasst seine Heimat, hasst Israel, hasst seine (Mutter)Sprache. Er will nur noch Französisch reden, selbst als er bei einem israelischen Sicherheitsdienst anheuert, um ein bisschen Geld zu verdienen.
Sprachen lernt man am besten mit anderen oder im Bett (also immer noch: nackt), und man könnte annehmen, dass sich Yoav auch deswegen mit Emile und Caroline einlässt. Er und Emile sitzen auf dem Sofa, hören Musik mit Kopfhörern, lächeln sich an, ihre Köpfe nah beieinander. Knutschen sie gleich rum? Alles deutet darauf hin. Aber dann kommt Caroline ins Zimmer und Lapid macht etwas, was vielleicht Godard oder Michael Snow gemacht hätten: Um auf sich aufmerksam zu machen, schaltet Caroline schnell hintereinander das Licht ein und aus, während die Kamera rasch zwischen dem Lichtschalter und der Lampe hin und her schwenkt, eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, Punkt A und Punkt B herstellt – und gleichzeitig unterbricht. Wenn es irgendeine „Liebesgeschichte“ gibt in „Synonyme“, ob nun homo oder hetero, ist diese ebenso da wie nicht da, ebenso an- wie ausgeschaltet, unverlässlich und gestört. Zwar wird Yoav später mit Caroline schlafen, jedoch mit der Leidenschaft eines Lichtschalters.
Dementsprechend „gestört“ ist Yoavs Verbindung mit der französischen Sprache. Denn Yoav kann nicht einfach eine Haut gegen eine andere ersetzen. Haut ist gleich Haut, nackt ist gleich nackt, Sprache ist gleich Sprache. „Synonyme“ meinen nicht nur andere Wörter, sie meinen auch Wörter für ein Selbes. Sprache ist immer zuerst Muttersprache, und die kann man nicht einfach verlieren, wie es einem passt. In diesem Sinne legt Yoav Hand an etwas, was nicht zu ändern ist. Und was ist dieses „Handanlegen“ anderes als – erinnern wir uns an den Anfang – Masturbieren?
Wenn Yoav zu einem französischen Wort zig Synonyme aufzählt, um zu zeigen, dass er sie kann („böse, obszön, ignorant, abscheulich, niederträchtig“), ist das wie Wortwichsen: noch ein Wort rauswichsen und noch eins und noch eins. Man spricht mit der Vorstellung einer anderen Sprache, so wie man zum Bild von jemand anderem onaniert. Aber gleichzeitig bleibt dieses Auswichsen von Worten ein Handanlegen an den eigenen – beschnittenen – Penis, an dasjenige, was ihm jüdische Identität verleiht und ihn mit dem Hebräischen verbindet, mit seiner Muttersprache, der er nicht entkommen kann. Wie sehr man sich auch anstrengend mag, beim Wichsen bleibt man immer bei sich selbst.
Diese fatale Grenze von Yoavs Sprechen-Masturbieren zeigt Lapid in einer großartigen Szene gegen Ende des Films. Yoav gerät an einen dubiosen Model-Job: Ein Typ filmt ihn mit einem Tablet, während er sich ausziehen und an sich rumspielen muss. „Sag Deinen Namen.“ – „Yoav.“ – „Mit mehr Begehren!“ – „Yoav!“ – „Jetzt zieh die Hose aus.“ Yoav zieht brav die Hose aus, dann den Slip, bis er nackt ist. „Jetzt sag: Ich brenne, ich kann mich nicht zurückhalten!“ Der Typ verlangt von ihm, er soll seinen Schwanz anfassen, sich einen Finger in den Arsch stecken. Was Yoav mit einem großartig ironischen Satz kommentiert: „Ich masturbiere nie.“
Stimmt das oder nicht? Hat Yoav anfangs unter der Dusche masturbiert, oder nicht? Beides stimmt. Yoav masturbiert nie, schön – denn für ihn ist Masturbieren Sprechen. Und nun, in dieser Szene, kommt beides zusammen. „Sag: Du machst mich geil. Sag es auf Hebräisch!“, befiehlt ihm sein Kunde. Also nimmt Yoav seinen Penis in die Hand und beginnt, zum ersten Mal in diesem Film, Hebräisch zu sprechen. Egal, was er versucht, am Ende steht er doch wieder da mit seinem Penis und der Muttersprache in der Hand. Und was sagt er? Lesen wir die Untertitel: „Schwanz. Geil. Schwanz, was mache ich hier? Schwanz! Ficken! Fickgerät. Fick dich. Schwanz, lauf weg!“
Schwanz, lauf weg. In Lukas Dhonts großartigem Film „Girl“ ging es um ein (Trans)Mädchen, eine Balletttänzerin, die ihren Penis loswerden wollte. Yoav hat ein ähnliches Problem: Seinen Penis verlieren, das wäre schön. Wird aber nichts. Denn im Gegensatz zu Dhonts Balletttänzerin kann Yoav sich sein Ding nicht einfach abschneiden, selbst wenn er es wollte oder gar tatsächlich täte. Und zwar deswegen, weil sein Schwanz nicht einfach sein fleischliches „Fickgerät“ ist, sondern ein immaterieller, symbolischer Phallus, ein Zeichen für seine Sprache. Und ohne Sprache, die immer auch Muttersprache ist, kann man nun mal nicht sein.
Somit wird klar, warum „Synonymes“ ein großartiger, vitaler, vor Kraft strotzender Film ist. Bei vielen Filmen weiß man längst nicht mehr, warum sie Filme überhaupt sein sollen, wozu sie Mise-en-scène brauchen, Montage. Bei „Synonymes“ weiß man das sofort. Der Film ist seiner Cutterin gewidmet, Era Lapid, der Mutter von Nadiv. Die Muttersprache, aus der man raus will, aber der man nie entkommen kann, ist in Lapids Film also nicht (nur) das Hebräische, sondern vor allem die Sprache des Films, die filmische Montage. Egal, was man abschneidet, es wird wieder angefügt. Egal, was man unterscheidet, es ist dasselbe. Die Sprache dieser Unterscheidung und dieses Zusammenfügens, vor jeder Trennung in Nationen, Geschlechter und Sprachen, heißt Montage. Dieser Film muss ein Film sein, kann nur ein Film sein. Es gibt kein Synonym für ihn.
Synonymes
von Nadav Lapid
ES 2019, 112 Minuten, FSK 6,
deutsche SF & französisch-hebräische OF mit deutschen UT,
Grandfilm
Ab 5. September hier im Kino.