Glue

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Für sein Drehbuch zur radikalen Jugendfabel „Monos“ (2019) erhielt Alexis Dos Santos höchstes Kritikerlob. Nun gibt es im Salzgeber Club den Film zu sehen, mit dem die Karriere des argentinischen Filmemachers 2006 begann: „Glue“. In der Coming-of-Age-Odyssee ist der damals 20-jährige Nahuel Pérez Biscayart in seiner ersten großen Kinorolle zu sehen – heute gilt er nach Filmen wie „120 BPM“ (2017) und „Persischstunden“ (2020) als Star des europäischen Arthouse-Kinos. Unseren Autor Christian Lütjens macht „Glue“ auch 14 Jahre nach seiner Uraufführung noch immer high.

Foto: Salzgeber

L’amour à Trois im Klebstoffrausch

von Christian Lütjens

Hypnotisch-orgiastische sechs Minuten dauert die Szene, der dieser Film seinen Namen verdankt. Lucas und Nacho sind aus ihrem patagonischen Heimatdorf in die Provinzhauptstadt Neuquén getürmt und haben sich heimlich bei Lucas’ Vater einquartiert. Der lebt nach einem Seitensprung getrennt von seiner Frau und den drei Kindern. Allerdings besucht er die Familie regelmäßig. Auch dieses Wochenende. Lucas hat die Gelegenheit genutzt, um Papas Schlüssel zu klauen und dessen sturmfreie Wohnung zu entern. Mit seinem besten Freund Nacho. Eigentlich sollte auch Andrea vorbeikommen, auf die Lucas und Nacho beide ein bisschen scharf sind. Doch Andrea hat von ihrer cholerischen Mutter Stubenarrest bekommen. So wird nichts aus dem erhofften ersten Sex mit ihr.

Stattdessen wenden sich die Jungs dem „Glue“-Leim zu, mit dem der Vater seine Architekturmodelle zusammenbaut. Erst schnuppert Nacho vorsichtig daran, dann klebt Lucas sich einen Pappstreifen an die Nase, schließlich hängen die Freunde mit Plastiktüten vor dem Fernseher und schnüffeln die berauschenden Klebstoffaerosole wie Schnupftabak in sich hinein. Ein Trip beginnt, in den der Zuschauer mittels nahezu mikroskopischer Close-ups von Gesichtern, Mündern und fliegenden Händen sowie eines überscharfen Sound-Designs hineingezogen wird, das jedes Knistern, jedes Kichern und jeden Atemzug nicht nur hörbar, sondern körperlich spürbar macht. Zwischendurch wird das Geschehen von immer schneller aufeinanderfolgenden Schwarzblenden zerteilt. Plötzlich läuft im Fernseher ein Porno. Die Jungs schieben sich gegenseitig die Hände in die Hosen. Verwischte Bilder, orgiastisches Stöhnen, lüsternes Gelächter, erneute Schwarzblende, dann Stille. Die Jungs schlafen. Der Trip ist vorbei. Nacho wacht auf, zieht sich an und will auf einmal schleunigst weg. „Meine Mama wird ausflippen“, begründet er den hastigen Aufbruch, als Lucas die Augen aufschlägt. Dann klappt auch schon die Wohnungstür. Lucas bleibt mit dem Klebstoff allein zurück.

Es gibt zahllose queere Filme, in denen an dieser Stelle das große Drama beginnt – das Geschrei und die Tränen, das Wegstoßen und die Schuldzuweisungen, die Zerstörung einer Innigkeit, deren sexuelle Komponente sich nur einer der beiden Freunde eingestehen will. In „Glue“ ist das nicht so. Zehn Minuten nach dem überstürzten Abgang hängen Lucas und Nacho wieder gemeinsam an den Bahngleisen ihres Dorfes herum. Etwas sprachlos zwar, aber sie müssen gar nicht reden. Sie synchronisieren ihre durch die Grenzüberschreitung im Klebstoffrausch ins Wanken geratene Vertrautheit einfach neu, indem sie mit Glasscherben auf den Schienen herumtrommeln. Ähnlich machen sie es ja auch, wenn sie bei den Proben mit ihrer gemeinsamen Band aus dem Takt geraten.

So folgt statt Drama ein Discobesuch mit Andrea, bei dem augenzwinkernd orakelhaft Stereo Totals „L’amour à Trois“ aus den Boxen dröhnt, und wenig später ein umjubelter erster Auftritt mit besagter Band, der im zweiten Sechs-Minuten-Rausch des Films mündet: einer fiebrig erotischen Kneipen-Sequenz, in der Lucas, Nacho und Andrea trunken von Fernet Branca die Amour à Trois auf dem Männerklo in der Praxis ausprobieren. Und das so behutsam, zärtlich und gleichberechtigt, dass keiner der Drei sich dabei oder danach benutzt fühlen muss. Liebe, Freundschaft, Lust und Zuneigung fließen so organisch ineinander wie die Körper der Jugendlichen. Und die heimlichen Sehnsüchte von Lucas und Andrea, über die der Zuschauer zuvor in kurzen, von verwackelten Handkameraaufnahmen illustrierten Einschüben mit Off-Text aufgeklärt wurde, erfahren in einem selbstverlorenen Glückstaumel ihre Erfüllung.

Foto: Salzgeber

Schluss aus, Happy End also? Das würde genauso wenig zu dem wundervoll unkonventionellen Spielfilmdebüt von Alexis Dos Santos passen, wie es Streit und Geschrei nach dem Klebstoffrausch getan hätten. Dem Regisseur gelingt es, den Überschwang der Jugend optimistisch abzubilden, ohne dabei seine destruktiven Seiten zu beschönigen. Beim Zuschauen wird sehr deutlich, dass die obsessiven Rauscherfahrungen, mit denen der vom jungen Nahuel Pérez Biscayart („120 BPM“) grandios rastlos verkörperte Lucas der Enge seines Daseins entflieht, die eigentlich gefährlichen Grenzüberschreitungen sind, während in den sexuellen Eskapaden seine Erlösung schlummert.

Trotzdem werden Lucas’ Suchttendenzen nicht mit übermäßiger Bedeutung aufgeladen. Vielmehr werden sie als unumgänglicher Nebeneffekt einer Lebensphase dargestellt, in der man echtes Verständnis nur bei Freunden findet, während die Vertrautheit familiärer Bande die freie Entfaltung wie Fesseln einzuschränken scheint. Letzteres symbolisiert Dos Santos zu Beginn des Films in einer slapstickartigen Sequenz, in der Lucas mit seinen Geschwistern und der Mutter auf einem viel zu kleinen Bett vorm Fernseher herumlümmelt, wobei die Anwesenden einander ständig gegenseitig die Sicht auf den Bildschirm verstellen und ihre Gliedmaßen sich immer mehr verknoten. Ein ähnlich charmantes Bild folgt am Schluss, wenn der verstoßene Vater die Familie zum Camping an den Strand mitschleppt und die familiären Spannungen im chaotischen Aufbau eines wackeligen Zeltes gespiegelt werden, das irgendwann vollends in sich zusammenkracht.

Foto: Salzgeber

„Glue“ fackelt wie eine Grunge-gepowerte Symbiose aus „La Boum“ und „Die Träumer“ über den Screen. Der lebenshungrige, melancholische Erfahrungskosmos der Teenager steht der Welt der Erwachsenen gegenüber, ohne dass sich die beiden Sphären je berühren – eine Unerreichbarkeit, die Nacho am Ende mit der lakonischen Bemerkung „Mit Freunden verhält man sich anders als mit der Familie“ auf den Punkt bringt. Danach rollt die vollendet unvollendete Coming-of-Age-Odyssee im Rhythmus des Violent-Femmes-Klassikers „Blister in the Sun“ ihrem konsequent offenen Ende entgegen und man weiß wieder, warum „Glue“ der Türöffner für den internationalen Durchbruch von Alexis Dos Santos war. Ein großartiger Film, der ganz ohne Klebstoff high macht.




Glue
von Alexis Dos Santos
AR 2006, 110 Minuten, FSK 16,

spanische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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