Jonas Eika: Nach der Sonne

Buch

Über Dänemarks queeres Literaturwunderkind Jonas Eika wurde in den letzten Monaten so viel geschrieben, dass man mit den Rezensionsversuchen, die surreale Gesellschaftskritik in der Story-Sammlung „Nach der Sonne“ einzuordnen, locker einen eigenen Band füllen könnte, der dreimal so dick wäre wie die 160 Seiten starke Story-Sammlung selbst. Warum eigentlich dieser Hype? Unser Autor Christian Lütjens mit dem Versuch einer sachlichen Betrachtung des Autors und dessen Buches.

 

Literatur der Löcher

von Christian Lütjens

Er schreibt Geschichten über Banken, die infolge von unerklärlichen Explosionen in sich zusammenstürzen, aber im Labyrinth der Trümmer weiteroperieren; über gestaltwandelnde Beach Boys, die am Strand von Cancún Touristen verhätscheln und sich in den raren Momenten ihrer Freizeit zu Garnelen transformieren; über die trügerischen Trips und Hoffnungen innerhalb einer Dreiecksbeziehung in Londons Obdachlosen- und Dealer-Milieu; über einen Sender in der Wüste Nevadas, der die Fauna der Wildnis mit Außerirdischen verbindet; er schreibt über abgrundtiefe Trauer und bodenlose Leere; über schleimigen Nebel, bebendes Wasser und glitschiges Fleisch; über das Leben, den Tod und das, was darüber hinausgeht. Eigentlich schreibt er wie ein Alien – betrachtend, aber unbeteiligt; sachlich, aber paradox; hypersensuell, aber empathielos. Damit trifft er einen Nerv. Jonas Eika ist Hype. Was allerdings nicht nur an seinen Texten liegt, sondern sehr wesentlich mit seiner Person zu tun haben dürfte. Obwohl man über die eigentlich gar nicht so viel weiß.

Dreh- und Angelpunkt des plötzlichen Popularitätsschubs für Jonas Eika war seine Dankesrede bei der Entgegennahme des Literaturpreises des Nordischen Rates im Oktober 2019. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld von 350.000 Dänischen Kronen (rund 47.000 Euro) einer der höchst dotierten Literaturpreise weltweit und gilt als wichtigste Ehrung für skandinavische Schriftsteller. Mit seinen 28 Jahren ist Eika der jüngste Gewinner in der über 50-jährigen Geschichte des Preises und angesichts der oben umrissenen Abstraktheit seines Story-Bandes „Efter Solen“ („Nach der Sonne“) war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass er das Rennen machen würde. Doch die Jury überzeugte das Buch durch seine „globale Perspektive, seine sinnliche und bildhafte Sprache sowie seine Fähigkeit, tagesaktuelle politische Herausforderungen aufzugreifen, ohne dabei auf einen bestimmten Ort abzuzielen“.

Jonas Eika – Foto: Aphinya Jatuparisakul

Nachdem Eika bei der honorigen Preisgala im Stockholmer Konserthus vom schwedischen Dichter Johannes Anyuru als Gewinner verkündet worden war, trat er zum Tusch des Orchesters auf die Bühne, nahm artig Trophäe, Urkunde und Blümchen entgegen, holte einen Zettel aus der Tasche seiner schwarzen Palazzohose, räusperte sich kurz, schniefte zweimal und drückte dann den Menschen seine Dankbarkeit aus, die ihn inspirieren und mit denen er Literatur und politische Aktionen macht. Gut möglich, dass viele der anwesenden Minister und Würdenträger den demütig wirkenden, etwas unsicheren jungen Mann mit den blonden Stoppelhaaren, dem Augenbrauen-Piercing, dem pinken Nagellack und den Perlenohrringen in diesem Moment spontan ins Herz schlossen. Es hatte etwas Rührendes, wie er da am Rednerpult stand, hager, ganz in Schwarz, viel zu schmal für die breitbeinige Veranstaltung, viel zu klein für den riesigen Raum, und mit belegter Stimme die Worte von seinem Zettel ablas.

Doch die Rührung blieb vielen im Publikum nach anderthalb Minuten im Halse stecken. Erst bezeichnete Eika den Nordischen Rat als Instrument einer weißen Oberschicht, die ihre Privilegien dem Kolonialismus und der Unterdrückung verdanke, dann ging er zum Frontalangriff auf die Flüchtlings- und Wohnungspolitik der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen über, forderte die Schließung aller dänischen Abschiebezentren und beschuldigte seine Heimat des Staatsrassismus. Am Ende forderte er: „Es ist unser aller Aufgabe, die beschränkte, uniforme Selbstwahrnehmung zu durchbrechen, die Staat und Kapital uns eingepflanzt haben, und wieder zu lernen, gemeinsam zu handeln. Kraft unserer Unterschiede und über sie hinweg, müssen wir zueinander finden.“

Das war er also: der Kracher, der Jonas Eika auf einen Schlag zum Mittelpunkt erhitzter Social-Media- und Pressedebatten machte und den Run auf die Übersetzungsrechte von „Efter Solen“ eröffnete. Im August 2020 erschien „Nach der Sonne“ bei Hanser Berlin auf Deutsch. Mit einem Gemälde des schwulen Künstler Kris Knight auf dem Cover, dessen intensive Farben und androgyne Ästhetik wie eine Eins-zu-Eins-Illustration der Garnelen-Beach-Boy-Geschichte anmuten, in einer sprachlich beeindruckenden Übersetzung der preisgekrönten Skandinavien-Spezialistin Ursel Allenstein. Seither feiern deutsche Kritiker den „flirrenden Realismus“ (Die Zeit) und die „originäre Kraft“ (Der Spiegel) von Eikas Prosa und weisen immer wieder explizit darauf hin, dass die Texte „durch und durch queer“ (F.A.Z.), beziehungsweise „so queer wie ihr Autor“ (Süddeutsche Zeitung) seien.

Will man darüber hinaus etwas über Eika erfahren, wird das Bild allerdings ähnlich verschwommen wie die flackernde Hyperrealität seiner Texte. Eine offizielle Website, Twitter-, Facebook- oder Instagram-Accounts sucht man bei ihm vergeblich. Eika ist keiner dieser 29-Jährigen, die sich in den sozialen Medien in Pose schmeißen und permanent ihre Meinungen kundtun. Er nutzt seinen plötzlichen Ruhm auch nicht, um von Interview zu Interview zu hüpfen. Wenn man das Netz durchforstet, findet man ihn vor allem bei Veranstaltungen, die ein Anliegen jenseits der Selbstvermarktung haben – als Redner bei einer „Close the Camps“-Demo, auf dem Podest einer #FrikendBitten-Kundgebung für die Freilassung der dänischen Whistleblowerin Bitten Vivi Jensen, bei einer Diskussion über Visionen der Bioökonomie im Rahmen des Berliner Literaturfestivals, bei einer Soli-Aktion für durch Corona gefährdete Kleinverlage, bei der er Gedichte vorliest, die er aus Politikerreden montiert hatte.

Gräbt man etwas tiefer, erfährt man, dass er in Aarhus aufwuchs, früher mit einer Band namens Zeitgeist und für das Nonprofit-Musik-Label Rakkerpak als Rapper unterwegs war, dass sein vor „Efter Solen“ erschienener (und bislang nicht auf Deutsch vorliegender) Debütroman „Lageret Huset Marie“ von entfremdeter Arbeit, Immobilienspekulation und einer heterosexuellen Liebe handelt, dass er schlechtes Wetter, Winterluft und die letzten drei Romane von William S. Burroughs liebt, Männerbünde, Alkohol und das an Scham grenzende Unbehagen, wenn er in der Öffentlichkeit sprechen muss, dagegen verabscheut.

Warum er sich trotzdem zur streitbaren Rede beim Literaturpreis des Nordischen Rates aufschwang, verriet er im August im „weiter lesen“-Podcast von rbb Kultur, wo er erklärte, dass ihm der Frontalangriff bei einer derart großen Gala als das einzig Sinnvolle erschien, weil er sich mit Freunden ja auch sonst gegen Abschiebung einsetze und Menschen kenne, die unter den prekären Umständen in Flüchtlings-Camps leiden. Inwiefern sein politisches Engagement mit seiner Tätigkeit als Schriftsteller zusammenhängt, drückte er im Interview mit Hanser so aus: „Literatur kann dazu beitragen, uns eine eigene Sprache für die Welt und für unsere Erfahrungen zu geben, eine Sprache, die uns nicht verlogen oder unzureichend vorkommt; und wenn man eine eigene Sprache hat, fällt es leichter, sich zu organisieren und zu kämpfen. Literatur kann Energie zu politischer Veränderung freisetzen.“

Ob der Rummel um „Nach der Sonne“ der Beweis dafür ist, dass das Buch diese Energie bereits freigesetzt hat, kann man diskutieren, dass es seine eigene Sprache hat, steht außer Frage. Sie ist düster, aber voller Farben, expressiv, aber distanziert, schwebend, aber äußerst physisch. Der gezielte Einsatz von Wörtern wie „Gliedmaßen“, „Garnelenskelett“ oder „Knorpelspangen“ verleiht den Szenarien der Ausbeutung, die die Storys skizzieren, eine hohe Körperlichkeit, während die Queerness nicht nur durch überhöhte Settings entsteht, sondern auch durch die Diversität der Figuren und Erzählperspektiven. Erst ist Eikas Ich-Erzähler ein geschiedener Hetero, der sich auf eine Affäre mit einem jungen Mann einlässt, dann ein stockschwuler Beach Boy, dann eine dänische Hetero-Touristin, schließlich ein pansexuelles Straßenmädchen. Symbolisch kristallisiert sich in jeder der fünf Geschichten das Leitmotiv des Loches heraus – in „Alvin“ jenes, das anstelle der zerstörten Bank im Boden klafft, in der Dealer-Ballade „Ich, Rory und Aurora“ das imaginäre „Einstichloch“, das das Abflauen von Drogentrips der Erzählerin in den Bauch stößt, in „Rachel, Nevada“ das Loch, das der Tod zweier Töchter ins Dasein eines alternden Ehepaars gerissen hat, in der zweiteiligen Beach-Boy-Novelle „Bad Mexican Dog“ sind es Arschlöcher und „die Kälte, die sie nicht sehen konnte, durch meinen Rücken in mich hineingedrungen und zu einem Loch in meinem Inneren geworden“.

All diese Löcher stehen mal mehr, mal weniger verschlüsselt für das Gefühl von Leere in unserer spätkapitalistischen Gegenwart. Eika sagt, dass Realismus für ihn nicht ausreiche, um die heutige Welt zu beschreiben, und er sich deshalb der ganzen Bandbreite von Genres bis hin zu Horror und Sci-Fi bedienen musste. Das hat er getan und sich weiterhin von so unterschiedlichen geistigen Größen wie dem chilenischen Schriftsteller Roberto Bolano, der französischen Philosophin Simone Weil, der „Virginia Woolf Brasiliens“, Clarice Lispector, sowie Apostel Paulus inspirieren lassen. Ganz schön viel auf einmal. Vielleicht etwas zu viel für 160 Seiten. Ketzerisch könnte man sagen, es fällt leichter, über „Nach der Sonne“ zu diskutieren und zu schreiben, als das Buch zu lesen. Das wäre sogar eine beinahe logische Erklärung für den Hype. Allerdings würde sie Eika nicht gerecht werden. Denn nicht zuletzt bietet die Vielzahl von Einflüssen in den „Nach der Sonne“-Storys auch eine Unmenge von Anknüpfungs- und Identifikationspunkten für unterschiedlichste Leser. Will sagen: Man muss das Buch wohl selbst lesen, um den Hype zu begreifen. Betrachtung abgeschlossen.




Nach der Sonne
von Jonas Eika
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Gebunden, 160 Seiten, 20,00 €
Hanser Berlin

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