Für immer dein

TrailerDVD/VoD

„Schick mir ein Ticket und ich gehöre dir!“ So bietet sich der junge Argentinier Lucas auf schwulen Webcam-Seiten an. Ein einsamer und nicht mehr ganz so junger Bäcker aus Belgien beißt an. Und so landet der Südamerikaner in der tiefsten europäischen Provinz, wo Arbeit wartet und die Hälfte eines Doppelbetts. David Lamberts „Für immer dein“ mit Nahuel Pérez Biscayart („120 BPM“, „Glue“) in der Hauptrolle ist jetzt im Salzgeber Club zu sehen. Lambert erkundet darin mit Witz und scharfem Blick für Details die Abgründe und Doppelbödigkeiten einer Paarbeziehung. Unser Autor Stefan Hochgesand über einen widerspenstigen Film, der an unserem Weltbild kratzt.

Foto: Salzgeber

Butter-Daddy trifft Höllenbengel

von Stefan Hochgesand

„Money, Money, Money“ sind die ersten, ansatzweise gesungenen Worte im Film, die wir hören. Von der bittersüßen Sozialkritik im gleichlautenden ABBA-Song sind wir schon weit entfernt. Lucas in Argentinien schiebt sich eine zu imaginierende Zahnbürste (oder wahlweise: einen zu imaginierenden Kolben) in den Mund und täuscht einen Blowjob vor, wenn auch keinen Orgasmus. Der Ventilator, diese Windmaschine, ist sein Mikrophon, und Lucas, im spärlichen Zimmer, ist ein Star – für den, der ihn hier rausholt. Ein Bein hoch, und dann noch die Strangulation faken. Was tut man nicht alles für ein paar Silberlinge?

Man fliegt sogar nach Belgien, kofferlos, alles ist im Rucksack. Viel mehr als einen Pass hat Lucas ja auch nicht dabei. Bloß große Erwartungen. Hier ist zwar nicht Buenos Aires, aber es gibt eine Dorfkneipe. Das kann ja heiter werden. Turbulenzen gab’s auf dem Flug wohl keine, wie Lucas in neckischer Ganzkörper-Pantomime seinem Gönner Henry, der die Reise sponserte, vorführt. Aber, kleiner Spoiler: Turbulenzen werden reichlich folgen, zu Boden. Wer hätte nicht gern manchmal einen Suggar-Daddy? Doch Henry ist zugleich auch Butter-Daddy, Hefe- und Mehl-Daddy. Er ist Bäckermeister. Die Küche ist sein Königreich. Die Einrichtung ist „gutbürgerlich“ rustikal. Henry hat eigens Schnittblumen auf den Wohnzimmertisch drapiert für die freudige Ankunft des erhofften Toyboys, doch so joyful fällt die Ankunft dann nicht aus. Schnell stellt sich heraus, dass hier kein eigenes Zimmer für Lucas bereitsteht, sondern dieser im denkbar prunklosesten Himmelbett mit Henry nächtigen soll. So hat Lucas nicht gewettet! Es geht ihm gehörig gegen den Strich und gegen seine Stricherehre.

Nahuel Pérez Biscayart, Jahrgang 1986, der den Lucas spielt, ist einer der spannendsten Schauspieler der Gegenwart. Manchmal braucht er nur eine kleine Pupillenverschiebung, um seinen Figuren eine neue Dimension hinzuzufügen, von Hoffnung bis Wut. Er ist aber auch ein Meister seiner Stimmnuancen, die nie aufgesetzt wirken, niemals. Am meisten gefeiert wird Nahuel Pérez Biscayart sicher für seine Rolle als Act-Up-Aktivist Sean im Pariser Aids-Drama „120 BPM“ (2017) – inmitten vieler interessanter Figuren ist er gleichwohl das Highlight des Films. Schon längst verbietet sich der Ausdruck Shootingstar: Von seinem Durchbruch mit der sommerflirrenden, kleberschnüffelnden ménage-à-trois in „Glue“ (2006) bis zum Mystery-Drama „The Intruder“, der 2020 auf der Berlinale lief, hat Nahuel Pérez Biscayart einen beeindruckenden Katalog an Rollen vorgelegt, über anderthalb Jahrzehnte hinweg. Die Sternschnuppe möchte man erst mal sehen, die so lange glimmt. Denk man an „Glue“, wo die Figur von Biscayart ebenfalls (kann das Zufall sein?) Lucas heißt, so ist das doch ein Riesensprung zu „Für immer dein“ (2014): Damals hat sich jener Lucas, der wohl ein anderer ist (aber wer weiß das schon genau?) gerade mal so getraut, zu sagen, ob er den Kakao mit zwei oder drei Löffeln Kakaopulver in der Milch trinkt. Der Lucas diesmal weiß nicht nur, worauf er aus ist – er wagt es auch frank auszusprechen.

Doch Henry wird übergriffig: Er streichelt Lucas die Ohrmuschel, während der schläft. Er bittet ihn zu sich ins Bett, da er sonst nicht schlafen könne. Angeblich. Man fragt sich, was er in der Zeit vor Lucas wohl gemacht hat, schlaflos in Belgien. Ach ja, er war bei Lucas im Sexchat. In der Bäckerei lutscht Henry dem Lucas einen vor dem Backrohr. Dazwischen gibt’s Kalenderweisheiten für angehende Bäcker-Gay-Gesellen: „Brot ist wie Liebe, universell.“ Doch Lucas spielt die Harfe wie ein Höllenbengel. Er kämpft mit einer widerspenstigen Teigmenge breitbeinig wie ein Kind mit einer gigantomanischen Knetfigur. Er schrubbt der Backstube die ochsenblutroten Fliesen und wirbelt das Mehl auf. Derweil läuft der lüsterne Tanz namens Can-can im Streicher-Arrangement in der Backstuben-Beschallung. Als wäre man im Moulin Rouge. Henry gibt nämlich gern die Operetten-Diva. Dann mimt er den Soprangesang der Großherzogin von Gerolstein: „Ich liebe die Soldaten.“ Was wie ein kinky Spleen wirkt, der ihn allerdings ins sympathische Licht rückt – wenn gerade Halbzeitpause bei den Streitereien ist.

Foto: Salzgeber

Denn die Machtkämpfe haben es in sich: Lucas will beim Dorf-Shopping eine Bomberjacke in Bordeauxrot, die ihm auch sehr gut steht. Henry beharrt auf Khakifarben. Scheiße, was macht man jetzt? Nun, es ist nicht so lustig, wie es klingt, denn: Money, Money, Money – das hat allenfalls Henry, also bestimmt der das Aussehen von Lucas. Twist: Nachträglich holt sich Lucas doch die rote Jacke. Bordeaux, chapeau!

„Für immer dein“ ist widerspenstiger als die anderen Filme mit Nahuel Pérez Biscayart. Sommerschwül surreale Kamerafahrten à la „Glue“? Forget it, wir sind hart auf dem sozialrealistischen Boden geerdet, noch dazu im tristgrauen Belgien. „Für immer dein“ macht uns auch keine einfachen Identifikationsangebote: Die Figuren haben alle ihre Sympathieblockaden um sich herum errichtet. „Für immer dein“ ist der kratzbürstige mittlere Bruder in Bascayarts Filmografie. Nicht der, den eh schon alle heiß und spannend finden – aber der, der auf den zweiten Blick doch viel zu bieten hat: Er zeigt uns Sex jenseits des genormten, normierten Begehrens, abseits der Beautykratie. Henrys Body-Mass-Index liegt eindeutig über Lucas’ Lebensalter.

Wenn Lucas die Gleitgeltube zückt, um Henry glitschig zu machen – dann ist das nicht heiß im Hollywoodsinne. Kommt Ekel in uns auf? Vielleicht müssen wir dann unser Weltbild neustarten. Denn ist Henry ein Monster? Mitnichten. „Du bist fett und hässlich“, schmettert der schneidige Lucas dem dicken Henry entgegen. Und: „Niemand will dich. Wenn du nicht 20 Kilo abnimmst, ficken wir nicht mehr.“ Henry weint bitterlich. Nichts ist mehr zu spüren von den Momenten der Zweisamkeit im Feinripp in der Backstube. Es ist eine bemerkenswerte Leistung des Henry-Schauspielers Jean-Michel Balthazar, trotz allem, wie sich Henry immer wieder danebenbenimmt, ihn mal bemitleidenswert, mal witzig, mal liebenswert, mal abstoßend zu zeigen.

Henry ist etwas grobschlächtig, aber er ist ein Mensch, der sich nach Liebe sehnt, die ihm verwehrt wird. Auch von Lucas, der nur auf den schnöden Zaster aus ist. Doch kann man es Lucas verdenken? Nein, er ist im runtergerockten Präkariat aufgewachsen, bis sein Bruder und er bei einer Escort-Agentur anheuerten. Hat Lucas das Geld aus der Registrierkasse der Bäckerei stibitzt? Und wenn schon, er kriegt ja nicht mal eine monatliche Lohntüte – nur Gelegenheitspräsente von Henry, wenn der gerade mal Bock darauf hat, ihm eine Antidepressionslampe in Zeitungspapier zu wickeln. „Für immer dein“ ist kein High wie „Glue“, sondern ein tragikomisches Panorama der Zwischentöne.

Foto: Salzgeber

Lucas spielt auf einer Kaimauer mit einer Katze, im Licht der Straßenlaternen. Er fühlt sich offensichtlich artverwandt, verstanden. Auch er ist sozusagen eine streunende Katze. „Für immer dein“ kreist um Fragen der Zugehörigkeit. Und auch darum, Familie neu zu denken: Im Bäckerladen arbeitet auch Audrey. Der hat Lucas etwas mit Pfirsich gebacken – dabei ist er für 3.000 Pesos mit einem Chinesen verheiratet. Sagt er ihr jedenfalls. Und er zeigt ihr auch die Schwulenpornos, in denen er mitgespielt hat. „Das macht dir keinen Spaß“, sagt Audrey. Lucas sehnt sich nach einem Zuhause, das ihn nicht benutzt. Doch kann er das bei Audrey und ihrem Sohn finden? Man würde es fast glauben, wenn die drei im zuckerwattewarmen Licht des Jahrmarkts „Wir sind reich!“ schreien – und ein Eisbärbaby mit nach Hause nehmen wollen.




Für immer dein
von David Lambert
BE/CA 2014, 103 Minuten, FSK 16,

französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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