120 BPM

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Robin Campillos mitreißendes Meisterwerk „120 BPM“ führt uns ins Paris Anfang der 1990er. Seit fast zehn Jahren wütet Aids in Frankreich, doch noch immer wird über die Epidemie in weiten Teilen der Gesellschaft und der Politik geschwiegen. ACT UP, eine Aktivistengruppe von Betroffenen, will auf die Missstände aufmerksam machen und schreckt auch vor spektakulären Protestaktionen nicht zurück. Regisseur Campillo, der sich selbst jahrelang bei ACT UP engagierte, hat dem französischen Aids-Aktivismus mit „120 BPM“ ein längst überfälliges filmisches Denkmal gesetzt. Durch die berührende Liebesgeschichte zwischen Nathan und Sean, zwei Mitgliedern der Gruppe, entfaltet sein Drama eine geradezu revolutionäre Kraft: In einem historischen Moment, in dem für HIV-Positive und deren Freunde das Politische von persönlicher, ja existentieller Bedeutung ist, begegnen die beiden der gesellschaftlichen Ignoranz und der Angst vor dem Tod mit rasendem Widerstand und einem unbändigen Willen zu leben. „120 BPM“ wurde 2017 im Wettbewerb von Cannes uraufgeführt und u.a. mit dem Großen Preis der Jury und der Queer Palm ausgezeichnet. Sascha Westphal hat sich mitreißen lassen.

Foto: Salzgeber

Verantwortung kann man nicht teilen

von Sascha Westphal

Es lohnt sich, etwas weiter auszuholen und den Blick nicht nur in die nähere Vergangenheit schweifen zu lassen, ganz so wie Jérémie in „120 BPM“. Der stille, hoch aufgeschossene und noch außergewöhnlich jungenhaft wirkende Geschichtsstudent erfährt an seinem Körper die Willkür und Unbarmherzigkeit des HI-Virus mit besonderer Härte. Bei ihm entwickelt sich die Infektion wie im Zeitraffer. Innerhalb weniger Wochen ist die Zahl seiner T-Zellen rasant gefallen, und auch andere Symptome ereilen ihn mit einer Heftigkeit, die ihn verzweifeln lassen könnte. Aber anders als Sean, der wie er sehr jung infiziert wurde, läuft Jérémie nicht Sturm gegen die Welt und die Krankheit. Es ist vielmehr so, als ob ihm gerade die Brutalität und Erbarmungslosigkeit, mit der sein Körper angegriffen und zerstört wird, eine besondere Entschlossenheit verleihen. Sein herannahender Tod ist zwar sinnlos, aber er soll nicht umsonst sein. In Jérémies Vorstellung wird er zu einer Waffe, ebenso wie gut 140 Jahre zuvor der sinnlose Tod von 16 Pariser Demonstranten zu einem überaus schlagkräftigen Instrument der Revolution geworden ist.

Aus dem Off erzählt der Student, der seine eigenen Lehren aus den Ereignissen der Vergangenheit gezogen hat, von einer Demonstration im Paris am 23. Februar 1848. Von einem Fackelzug und von Barrikaden ist die Rede, von einem einzelnen Demonstranten, der auf einen Leutnant des 14. Regiments zuging, und von einem Sergeanten, der einfach auf ihn geschossen hat. So begann ein Blutbad, das 16 Menschenleben forderte und 40 Verletzte zurückließ. Die Toten wurden dann, wie Jérémie berichtet, in der darauffolgenden Nacht für einen weiteren Fackelzug auf Karren geladen und durch die Straßen von Paris gefahren. Die Menschen sollten sehen, wozu der Staat, die Monarchie, fähig ist, und sich der revolutionären Masse anschließen. „Wie bei einer Mobilmachung läutet diese Leichenparade das Ende der Monarchie ein.“ Mit dieser Einschätzung beendet der bald schon sterbende junge Mann seinen Exkurs in die französische (Revolutions-)Geschichte.

Im nächsten Moment schlägt er den Bogen in seine Gegenwart: „Das wird mein politisches Begräbnis sein. Das ist es, was ich möchte. Meine Leiche soll mit Trillerpfeifen und Nebelhörnern durch die Stadt getragen werden.“ ‚Politsche Begräbnisse‘ sind ein zentraler Teil der Aktionen, die in den frühen 1990er Jahren von den Aktivisten von ACT UP Paris organisiert wurden. Nach US-amerikanischem Vorbild hatten sich 1989 einige HIV-Infizierte gemeinsam mit Freunden und Verwandten zusammengeschlossen, um gegen das Schweigen der französischen Mehrheit und die Indifferenz der Politik zu kämpfen. Wegsehen, während sich mehr und mehr Menschen mit dem Virus infizieren und schließlich an den Folgen sterben, sollte keine Option mehr sein.

Also setzen die Aktivisten, die Robin Campillo in „120 BPM“ aus nächster Nähe porträtiert, auf Aufklärung, auch an Schulen, und auf ein Ende des Schweigens. Sie gehen gegen Pharmalabore und -konzerne vor, die Studien zurückhalten und Engpässe bei Medikamenten schaffen. Und sie protestieren immer wieder öffentlich gegen die Haltung von Präsident Mitterand und seiner Regierung. Also ein ‚politisches Begräbnis‘. Hinter dem im Schritttempo durch die Straßen fahrenden Leichenwagen mit Jérémies Sarg, um den eine schwarze Schleife mit dem Schriftzug „Silence = Mort“, Schweigen gleich Tod, drapiert ist, gehen seine ACT UP-Mitstreiter her, in ihren Händen Plakate mit Bildern des Toten, „Jérémie est mort du Sida“, und wiederholen immer wieder den Slogan „Aids! Wir sterben! Die Gleichgültigkeit bleibt!“ Und es ist dieser letzte Ausruf, der einen direkt ins Herz trifft.

Foto: Salzgeber

Eine Revolution wie die, die im Februar 1848 begann, bleibt nun aus. Nicht einmal eine Leichenparade kann in den Jahren, als die Aids-Epidemie auf ihrem Höhepunkt war, einen Wandel einläuten. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Homosexuellen, der Junkies, der Prostituierten, der Inhaftierten und der Fremden ist zu groß. Eine Gleichgültigkeit, die nicht selten, wie etwa in den Schriften Jean Baudrillards, in kaum noch verhohlene Verachtung umschlägt. Auch das blendet Campillo nicht aus. Die Kämpfe jener Jahre verliefen nicht entlang der klassischen politischen Frontlinien. Homophobie und Zynismus sind nicht nur in konservativen und christlichen Milieus zu Hause.

Ein gerechter Zorn schwingt in „120 BPM“ mit. Aber nicht er ist es, der zu der erhöhten Herzschlagfrequenz führt. Wut alleine wäre letzten Endes auch zu wenig. Irgendwann verliert jeder die Kraft, die sie erfordert. Eine unbändige, sich gegen den Tod und das Schweigen stemmende Hoffnung auf Veränderung durchpulst den autobiographisch grundierten Film, und die versiegt nicht so schnell. Regisseur und Drehbuchautor Robin Campillo war in den 1990er Jahren selbst Teil der ACT UP-Bewegung. Er kennt die Aktionen genauso gut wie die Debatten, die sie Woche für Woche bei ihren Treffen geführt hat. Und er weiß genau, wie diese beiden Aspekte der Bewegung ineinander gegriffen und sich gegenseitig befeuert haben. Also löst er, der den Film auch noch selbst geschnitten hat, immer wieder die Chronologie der Ereignisse auf.

Foto: Salzgeber

Mal dehnt sich die Zeit, wenn Campillo ansatzlos von einer Aktion zu ihren Nachwirkungen und wieder zurück springt, mal scheint sie regelrecht zu verfliegen. In einer Einstellung sieht man Jérémie noch bei einem Treffen der Gruppe. In der nächsten liegt er im Krankenhaus und beginnt, im Voice-over von der Revolution des Jahres 1848 zu berichten. Schon wechselt erneut die Ebene. Dokumentarische Originalaufnahmen von ACT UP-Aktionen aus den frühen 1990er Jahren werden zum neuen Resonanzraum. Die Nähe zwischen den Aktivsten und den revoltierenden Parisern wird greifbar, und doch bleibt eine Differenz. Das Vergangene lässt sich nur zitieren, aber nicht wiederholen. Also wagt Campillo das eigentlich Unmögliche: Er löst Grenzen auf und ignoriert dennoch nicht ihre Macht. In seiner von Gefühlen und Ideen zugleich geprägten Bild- und Tonmontage verschmelzen Gegenwart und Geschichte, heute und morgen, und bewahren doch ihre Eigenständigkeit. Zudem kann sich das Private ins Politische mischen und das Politische eine ganz private Dimension erhalten. Diese Wechselwirkungen gehen weit über das längst zu einem Klischee gewordene Diktum vom Privaten, das immer politisch sei, hinaus.

So wie eine Kamera den Fokus verändern und damit die Schärfenunterschiede zwischen Vorder- und Hintergrund verflüssigen kann, erlöst Campillos Kino die Verhältnisse aus ihrer Erstarrung. Mal fokussiert er die Gruppe und betont dabei deren nicht-hierarchische Strukturen, in denen jeder die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten hat. Mal fokussiert er den Einzelnen, der seine Strategien zum Leben und Überleben finden muss. Dieses mühelose, niemals forciert wirkende Hin und Her zwischen den gemeinsamen Kämpfen und den individuellen Bedürfnissen verleiht dem Film eine enorme Tiefe. Auch sein Herz schlägt mit dieser Frequenz, die nur für Neugeborene normal ist. Und vielleicht liegt genau darin sein eigentliches Geheimnis: Er umarmt das Leben wie ein Säugling instinktiv und saugt es ganz in sich auf, ohne Angst und Vorbehalte.

Foto: Salzgeber

Immer wieder kehrt Jeanne Lapoiries Kamera zu den Gesichtern und Körpern von zwei der Aktivisten zurück. Es ist fast so, als könnte sie den Blick nicht von ihnen lassen, und den beiden geht es selbst auch nicht anders. Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, sucht Nathan, der sich der Bewegung gerade erst angeschlossen hat, den Blick von Sean, einem der Gründungsmitglieder der Gruppe. Nathan, dem von vielen anderen bei ACT UP unterscheidet, dass er HIV-negativ ist, kriegt Sean nicht mehr aus seinen Kopf. Vielleicht am meisten fasziniert ihn dessen kompromisslose Haltung, dessen zügellose Energie. Eine fast schon greifbare Spannung liegt in den Blicken, die zwischen ihnen hin und her wechseln. Sean fordert den älteren, aber auch deutlich unsichereren Nathan heraus. Den scheint es wiederum innerlich fast zu zerreißen.

Erst ein spontaner Kuss während einer ACT UP-Aktion, mit dem Sean eigentlich eine homophobe Teenagerin provozieren will, bringt Bewegung in die Beziehung der beiden. Schon in diesem Augenblick ist es unmöglich, zwischen privatem Begehren und politischem Handeln zu trennen. Das eine fließt ins andere. Campillo kann in den Szenen zwischen Sean und Nathan den Fokus des Films verengen, aus dem großen Zeitpanorama wird eine intime Liebesgeschichte. Zugleich erweitert diese Fokussierung den Film aber auch.

Die Kämpfe, von denen Campillo erzählt, finden eben nicht nur auf der Straße und den Büros der Pharma-Firmen statt. Sie bestimmen auch die privaten Leben der Infizierten und der Menschen, die sie lieben. Nur nehmen sie dort eine andere Form an. Gemeinsam trotzen Sean und Nathan der Krankheit eine Normalität ab, die der Virus ebenso angreift wie die eigentlichen Körper. Die Selbstverständlichkeit, mit der Nathan und Sean ihr Begehren ausleben, wirkt ebenso befreiend wie jener Moment, in dem die Aktivisten die Wände eines Pharmalabors mit Theaterblut sanieren.

Foto: Salzgeber

Als Sean und Nathan das erste Mal miteinander schlafen, sprechen sie auch über ihre Geschichte mit dem Virus. Sean erinnert sich an seinen Mathelehrer, der ihn, er war gerade 16, infiziert hat; und Nathan erzählt von einem jungen Mann, der ohne Kondom mit ihm schlafen wollte, obwohl seine Infektion offensichtlich war. In Lapoiries Bildern, in denen hier Licht und Schatten geradezu miteinander zu tanzen scheinen, nehmen die Erinnerungen Gestalt an. Seans Lehrer und Nathans One-Night-Stand materialisieren sich aus den Schatten und sind plötzlich Teil der Beziehung der beiden. Der Virus verändert die Verhältnisse. Das Vergangene wird Gegenwart und strahlt weiter in die Zukunft aus.

In dieser ungeheuer zarten und intimen Szene von symbolischer Kraft fällt der zentrale Satz des Films: „Verantwortung kann man nicht teilen“, verkündet Sean dem verunsicherten, von tief sitzenden Schuldgefühlen geplagten Nathan. „Wenn du jemanden infizierst, bist du zu 100% verantwortlich. Und wenn du infiziert wirst, auch.“ Das ist eben kein Widerspruch. Jeder hat die ungeteilte Verantwortung für all seine Taten wie auch für seine Versäumnisse. Und dieser Gedanke geht weit über Sex und Aids hinaus. Er erfüllt jede Einstellung, jeden Schnitt des Films. Mitterand ist, wie die „Mitterand coupable“-Plakate der Aktivisten unterstreichen, für die Toten der Epidemie verantwortlich. Und die schweigende Mehrheit genauso. Zugleich sind aber auch die Aktivisten zu 100% dafür verantwortlich, ob und was sich verändert. Leben heißt Verantwortung tragen. Darin liegen der Schrecken und die Hoffnung, mit denen Robin Campillos Vergegenwärtigung des Vergangenen einen infiziert.




120 BPM
von Robin Campillo
FR 2017, 144 Minuten, FSK 16,
französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln,
Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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