Die Rolle meines Lebens

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Nach seinen herrlich campen Nebenrollen in „Begegnungen nach Mitternacht“ (2013), „Messer im Herz“ (2018) und der wunderbar prägnanten Filmbranchen-Satire „Call My Agent!“ (seit 2015) macht Nicolas Maury in seinem Regiedebüt „Die Rolle meines Lebens“ die neurotische Sissy zur herrlich überdrehten Hauptfigur. Darin geht der ewige Nachwuchsdarsteller Jérémie, von Maury selbst gespielt, mal wieder durch eine existentielle Krise: Sein Freund schenkt ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit, und auch mit der großen Kinorolle will es einfach nicht klappen. Nervlich am Ende verlässt er Paris, um sich bei seiner Mutter neu zu finden. Die romantische Komödie der Sonderklasse gibt es jetzt im Salzgeber Club. Axel Schock über absurd-komische, zärtlich-poetische und dann wieder zutiefst dramatischen Szenen.

Foto: Salzgeber

Junge aus Chiffon

von Axel Schock

Jérémies Leben ist ein Scherbenhaufen. Weil er seine krankhafte Eifersucht nicht in den Griff bekommt, hat ihn sein Freund vor die Tür gesetzt. Und auch beruflich läuft es für den Mittdreißiger nicht gut. Seine Schauspielkarriere kommt einfach nicht in Gang. Von einem Besuch bei der fürsorglichen Mutter auf dem Land verspricht sich der Übersensible Ruhe, um sich aufs nächste Vorsprechen vorbereiten zu können und sein Leben zu sortieren. Aber das Wiedersehen fällt ganz anders aus, als erhofft.

Für sein Regiedebüt hat sich Nicolas Maury, bekannt aus Yann Gonzalez‘ „Begegnungen nach Mitternacht“ (2013) und „Messer im Herz“ (2018) und der Hit-Satire „Call My Agent!“ (seit 2015), eine Rolle auf den Leib geschrieben. Jérémie ist eine Sissy par excellence, Maury macht ihn dennoch nicht zum lächerlichen Clown, sondern zu einem brüchigen Charakter mit Ecken und Kanten mit entsprechender Familienvergangenheit. Seine Mutter hat ihm den Kosenamen garçon chiffon (so auch der Originaltitel des Films) gegeben. Für die deutschen Untertitel fand man die sehr treffende Bezeichnung „Mein Waschläppchen“. Auch als erwachsenen Mann spricht sie ihn noch so an. Es ist ein verletzender und zugleich ehrlicher Spitzname, aus dem auch Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit spricht. Denn Jérémie wirkt in der Tat auch mit Mitte 30 immer noch fragil und sanft wie Chiffonstoff. Jérémie wehrt sich nur wenig gegen diese Anrede, denn irgendwie trifft sie einen wesentlichen Kern seines Wesens: Er ist ein schwuler Mann, den seine Übersensibilität sowie sein Hang zur Exzentrik und Dramatisierung weich, tuckig und ja auch als Paradebeispiel einer Sissy wirken lassen. Es wäre ein leichtes, diese zutiefst verunsicherte Figur zur Karikatur und damit zu einem großen Lacher zu machen, eine hysterische Drama Queen wie einst etwa Michel Serrault den Albin in „Ein Käfig voller Narren“ (1978).

Albin hatte in dieser legendären Travestie-Komödie noch verzweifelt versucht, seinen schwebenden Gang zu korrigieren und stattdessen wie John Wayne mit festem Tritt einen Raum zu durchqueren. Maurys Jérémie hingegen versucht gar nicht erst, sich gesellschaftlichen Erwartungen an Männlichkeit zu beugen und sich damit zu verbiegen. Als bei der Beisetzung seines Vaters in der französischen Provinz der Schützenverein ein Salut abfeuert und ein letztes Halali ertönen lässt, durchzuckt es Jérémie angesichts dieses rituellen Machtgehabes für alle sichtbar. Leichter macht das das Leben für ihn aber nicht. Und tatsächlich macht es dieser garçon chiffon den Zuschauer:innen zunächst gar nicht so einfach, ihn zu lieben.

Aber von vorn. Gleich die erste Szene bringt Jérémies Persönlichkeit auf den Punkt: Mit dem Smartphone in der Hand steht er vor einer Weggabelung in der Pariser Innenstadt, traut jedoch der Ansage seiner GPS-Navigation nicht. Unentschlossen wagt er mal einen Schritt nach links, dann nach rechts, und tänzelt zuletzt auf der Stelle. Dazu macht er ein Gesicht, in dem mit geringem mimischem Aufwand Komik, Verzweiflung, Unsicherheit und Trotz zum Ausdruck kommen. Wer da hier an Buster Keaton und Jacques Tati denkt, liegt nicht ganz falsch.

Jérémie ist auf dem Weg zu seiner ersten Sitzung bei den „Anonymen Eifersüchtigen“ (Was für ein toller Einfall!), aber lange hält er es bei diesem Selbsterfahrungstreffen nicht aus. Seine Eifersucht nimmt paranoide Züge an, etwa wenn er seinen Geliebten, den Tierarzt Albert (Arnaud Valois aus „120 BPM“), mitten in einer Operation eine Szene macht oder er ihm wegen eines vollgewichsten T-Shirts in der Schmutzwäsche eine Standpauke hält. „Pass auf, ich habe dich im Blick“, droht ihm Jérémie, und da weiß Albert noch nicht, dass der Kontrollfreak tatsächlich eine Überwachungskamera in der Wohnung installiert hat. Wen wundert’s, dass Albert die Beziehung erst einmal auf Eis legt.

Foto: Salzgeber

Auch beruflich läuft es für Jérémie nicht wirklich prickelnd. Ein Filmregisseur erklärt ihm lang und breit, wie toll er als Schauspieler sei – und warum es ihn daher so sehr schmerzt, ihm die versprochene Rolle wieder wegzunehmen, voilà! Immerhin kann ihm sein Agent ein neues Engagement in Aussicht stellen: Jérémie soll für eine Theaterproduktion von Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ vorsprechen. Die Rolle des unangepassten, von Todessehnsucht getriebenen Schülers Moriz Stiefel, der von seiner ersten sexuellen Gefühlsregungen überfordert ist, scheint für Jérémie wie geschaffen.

Um den Kopf von der Beziehungskatastrophe freizubekommen und um sich in Ruhe auf diese Karrierechance vorbereiten zu können, reist Jérémie in seine Heimatregion, das Limousin, zu seiner Mutter Bernadette. Doch die Rückkehr ins wohlbehütete, wärmende Nest der Kindheit verläuft natürlich nicht spannungsfrei. Sowohl die Gedenkfeier für Jérémies Vater, der die Mutter für eine andere verließ und vor einem halbes Jahr Suizid begangen hat, als auch der attraktive, überaus patente und ziemlich heterosexuelle junge Mann, den Bernadette offenbar als eine Art Ersatzsohn in ihr Leben aufgenommen hat, sorgen für Unmut.

Ob nun dieser sportliche Poolboy, Jérémies bodenständiger Ex-Partner oder die selbstverliebten, satirisch zugespitzt gezeichneten Vertreter:innen des Pariser Filmbusiness – sie alle sind letztlich nur Stationen und Stichwortgeber in Nicolas Maurys Porträt eines neurotischen, aber liebenswerten Sonderlings. Ausgerechnet eine Nonnengruppe (so viel Absurdität muss sein) verhilft Jérémie zu der Selbsterkenntnis, dass Selbsthass, Rachedurst und das Bedürfnis nach Liebe und Trost ihn zu einem Mann haben werden lassen, der sich allzu oft wie ein launisches Kind verhält.

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Nicolas Maury hat sich – gemeinsam mit seinen Co-Autorinnen Sophie Fillières und Maud Ameline – die Rolle seines Lebens auf den Leib geschrieben. Lange Jahre hat er sich mit zumeist queeren Nebenrollen in allerdings stets markanten Produktionen zufriedengeben müssen, etwa in Patrice Chéreaus „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ (1998). Die verdiente Anerkennung erhielt er erst mit einer der Hauptrollen in „Call My Agent!“ als schwuler Assistent eines Schauspielagenten. Erst letztes Jahr, im zarten Alter von 40 Jahren, wurde er als einer von zehn „European Shooting Stars“ auf der Berlinale geehrt.

Sein Regiedebüt, eine Mischung aus Farce, Dramödie und Melodram, mag es an manchen Stellen an dramaturgischer Schärfe fehlen, auf 110 Minuten Länge erlahmt die Energie unweigerlich stellenweise zwischen den so unterschiedlichen absurd-komischen, zärtlich-poetischen und dann wieder zutiefst dramatischen Szenen. Aber die Studie dieses so widersprüchlichen Charakters ist so berührend und betörend, dass man diese Schwächen gerne verzeiht. Vor allem sind einige Bilder und Dialoge so originell, dass sie sich unweigerlich ins Gedächtnis einbrennen. Etwa die Szene, in der sich Jérémie nur in Unterhose und mit einem roten Flauschpulli mit Schäfchenmotiv (!) bekleidet auf seinem Jugendbett räkelt, um den Text für seine neue Rolle zu lernen. Oder die Rückblende in seine Kindheit, in der er im lila Hemd unterm weißen Strickpulli und mit kinnlangen Haaren tief melancholisch in den Spiegel blickt, das Gesicht dabei gedankenverloren in die Hände gestützt, um die Lippen zu Vanessa Paradis‘ Hit „Marily et John“ zu bewegen. Mit der Wahl dieses Songs ehrt Maury seine ganz persönliche Ikone – und seine Filmpartnerin in „Messer im Herz“, in dem Paradis eine lesbische Produzentin von schwulen Hardcore-Pornos spielt. Auch die Schlussszene von „Die Rolle meines Lebens“ ist eine wunderbare Hommage an die französische Sängerin und Schauspielerin, aber die soll hier natürlich nicht vorweggenommen werden.




Die Rolle meines Lebens
von Nicolas Maury
FR 2020, 110 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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