The Power of the Dog

TrailerKino

Mit dem Post-Western „The Power of the Dog“, der aktuell im Kino und auf Netflix zu sehen ist, räumt Jane Campion („Das Piano“) seit Wochen einen Kritiker:innen-Preis nach dem anderen ab. Für sieben Golden Globes ist ihr Film, der auf dem gleichnamigen Bestseller von Thomas Savage basiert, bereits nominiert – und wird vermutlich auch bei den Oscars ordentlich mitmischen. Benedict Cumberbatch und Jesse Plemons spielen darin zwei Brüder, die unterschiedliche Männlichkeitstypen repäsentieren: Der eine ist aggressiv und verbirgt sein schwules Begehren hinter hypermaskulinen Posen; der andere ist sanftmütig und bereit für echte Zuneigung. Eine junge Witwe und deren Sohn bringen das toxische Gefüge der beiden drastisch durcheinander. Cosima Lutz über ein meisterhaftes Filmdrama mit hochkomplexen Figuren, das die Queerness im vermeintlich Eindeutigen freilegt.

Foto: Netflix/Kirsty Griffin

Ein Lasso für Peter

von Cosima Lutz

Dicke Luft hängt gleich zu Beginn im Raum zwischen den beiden Männern, um deren Verhältnis es in „The Power of the Dog“ zunächst zu gehen scheint: Der eine, George, liegt in der Badewanne und duftet dampfend vor sich hin. Der andere, Phil, knurrt aus dem Nebenraum stolz, dass er sich noch nie in diese Wanne gelegt habe. Später wird er von sich sagen: „Ich stinke und es gefällt mir“. Zwei Brüder, zwei Welten, und dennoch schlafen sie nachts im selben Bett. Seit einem Vierteljahrhundert führen George und Phil gemeinsam eine Ranch und haben es damit zu Wohlstand gebracht.

Der muskulöse Phil, mit lauernder Aggressivität zwischen Hilflosigkeit und Selbstherrlichkeit von Benedict Cumberbatch verkörpert, gleicht in seinen gewaltigen Überzug-Hosen aus zotteligem Schaffell einer Chimäre aus der Vorzeit: unten Tier, oben Mensch. Der dickliche, geistig etwas behäbig wirkende George, mit verschwiegener Sanftmut gespielt von Jesse Plemons, kleidet sich wie ein Städter, trägt Hut und Anzug, hat Manieren und weiß sich einer Frau wie der Witwe Rose (Kirsten Dunst) mit Anstand, Feingefühl und Respekt zu nähern.

Ein Umbruch, vielleicht ein Bruch kündigt sich in Jane Campions Adaption des gleichnamigen Romans des US-Schriftstellers Thomas Savage an, doch die Annahme, wo genau die Bruchlinie verlaufen wird, verschiebt sich im bislang besten, weil ungezähmtesten und zugleich raffiniertesten Film der Regisseurin immer wieder von Neuem. Im Montana des Jahres 1925 (gedreht wurde allerdings in der neuseeländischen Heimat der Regisseurin) ist der Mythos des Wilden Westens und das dazugehörige Männerbild vom harten, weißen, nach Stall und Leder riechenden heterosexuellen Cowboy bereits zu einer Legende geronnen, zum folkloristischen Massenspaß in Gestalt von Western-Shows und des konkurrierenden, bald dominierenden Kinos. Heute ist nicht mehr nur in forschenden Fachkreisen bekannt: Mit der durchaus auch homosexuellen, indigenen und/oder schwarzen Cowboy-Realität hat dieser „weiß gewaschene“ Ausnahme-Held, auf den im Genre bald alles hinauszulaufen hatte, nur wenig zu tun.

Wenn Campion jetzt also die Unwucht männlichen Selbstumkreisens ins Western-Genre pflanzt und dort ordentlich rumpeln lässt, ist das keineswegs einem allzu bemühten Anschluss an heutige Diskurse geschuldet. Die hochkomplexen Charaktere der Netflix-Produktion – Campion spricht lieber von einem Post-Western oder einem Kammerspiel – sind bereits in der 1967 erschienenen Romanvorlage in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit ausgebreitet. Wer in jenen Zeiten weiterhin an Sattel und Stiefel festhielt – an Utensilien, die damals schon im Katalog zu bestellen waren –,  tat dies nicht mehr unbedingt deshalb, weil es äußere Notwendigkeiten erzwangen. Er entschied sich aktiv für ein bestimmtes Bild vom Mann. Phil hat an einer Elite-Universität Altphilologie studiert, er ist musisch begabt und hätte mehr und anderes auf dem Kasten als mit einem Haufen raubeiniger Gehilfen Rinder zu hüten, zu häuten und mit bloßen Händen zu kastrieren. Er ist nicht deshalb ein dreckstrotzender, Machosprüche klopfender Cowboy, weil er nichts anderes weiß oder kann. Sondern weil er es genau so will.

Foto: Netflix/Kirsty Griffin

Und er ist noch etwas anderes, zu dem er aber nicht offen stehen kann und das er vor den anderen hinter homophoben Sprüchen versteckt: Seine Liebe und seine Bewunderung, aber eben auch sein Begehren galten und gelten seinem verstorbenen Mentor und Freund Bronco Henry, den er postum regelrecht vergöttert. Wie bei einem Religionsstifter duldet Phil keine andere Instanz als Bronco Henry. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, streichelt er Henrys Sattel und schnuppert an seinem Halstuch.

Als George Rose heiratet und damit den brüderlichen Bund vollends asymmetrisch werden lässt, beginnt Phil einen Vernichtungskrieg gegen diese Frau und ihren 18-jährigen, dünn und zart wirkenden Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee), der seine Semesterferien auf der Ranch verbringt. Campion gelingt eine Szene, die das Western-Duell genial konterkariert: Phil äfft auf seinem Banjo die auf dem Stutzflügel unbeholfen klimpernde Rose nach, spielt sie mit Verzierungen und Improvisationen regelrecht nieder, bis sie verstummt. Der rehäugige Peter wiederum wird von Phils Männern als „Schwuchtel“ verspottet. Scheinbar zur Aufheiterung seiner zunehmend dem Alkohol verfallenden Mutter fängt der vermeintlich so Weiche aber einmal ein Kaninchen, zerlegt das Tier fachgerecht auf seinem Schreibtisch und fertigt anatomische Zeichnungen an. Er will Chirurg werden. Ob er schwul ist, bleibt offen. Beiläufig erwähnt er seiner Mutter gegenüber einen Freund, den er im Studium kennengelernt habe. „Bring ihn doch mal mit“, freut sich Rose, doch Peter winkt ab. Er will nicht, dass der Freund auf „eine bestimmte Person“ trifft – Phil.

„The Power of the Dog“ gilt als Savages bester Roman. Er schrieb ihn, nachdem er für eine Beziehung mit einem Mann Frau und Kinder verlassen hatte und zwei Jahren später wieder zu seiner Familie zurückgekehrt war. Über Zerrissenheit wusste Savage Bescheid. Campion erzählt davon in knappen Dialogen, vor allem über Dinge und Gesten. Ohne die alten Western-Kinobilder zu zerstören, führen sie und ihre Kamerafrau Ari Wegner diese aufs Prachtvollste vor. Einmal füllt eine einschüchternd schöne Gestalt fast das ganze Bild: Im Gegenlicht, aus einer dunklen Scheune ins Grelle gefilmt, als käme gleich John Wayne um die Ecke, scheint eine große, königliche Frau von uns weg hinaus ins Freie zu schreiten. Es sieht aus, als schöbe sich ihr schweres, bodenlanges Gewand mit jedem ihrer wiegenden Schritte rauschend über den Boden. Die Illusion dauert nur wenige Sekunden und endet jäh: Die Kamera fährt von der vermeintlichen Taille nach oben, und wir sehen plötzlich statt einer majestätischen Frau einen muskulösen Mann mit nacktem Oberkörper, der eine frisch abgezogene Rinderhaut hinter sich her nach draußen zerrt.

Foto: Netflix/Kirsty Griffin

Immer wieder legt der Film solche Queerness im scheinbar Eindeutigen frei und verweist dabei auf Widersprüche zwischen Vorstellung und Körper, zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wirklich da ist. Phils Bruder George ist schon stolz, wenn er das Naheliegende entziffern kann, etwa den Serviertipp von einer Ketchup-Flasche. Phils Machtanspruch hingegen gründet auf der großspurig verkündeten These, sehen zu können, was sich anderen verschließt. Wie jener Schatten eines bellenden oder zuschnappenden Hundes, der sich bei einem bestimmten Lichteinfall auf der Bergkette gegenüber der Ranch abzeichnet: Phil glaubt, neben dem großen Bronco Henry der einzige zu sein, der diesen Hund sieht. Doch auch Peter erkennt das Bild auf Anhieb, was Phil verblüfft und verstört.

Peter entdeckt sogar noch mehr: Er findet die Kiste mit den schwulen Pornoheftchen Bronco Henrys, in deren Nähe Phil tagträumend mit Broncos altem Halstuch schmust. Die eigene Homosexualität, über die Phil seine Umwelt im Unklaren lässt, wird durch den Bronco-Henry-Kult zu mehr als nur zum furchtsam abgespaltenen Begehren, sie wird auch zum exklusiven Element der eigenen, für andere undurchschaubaren Identität. Zu dieser Identität gehört für Phil auch die Ablehnung alles Weiblichen, was bestens mit dem Machokult der Ranch-Mitarbeiter kompatibel ist. Das musikalische Duell zwischen Rose und Phil ist deshalb auch lesbar als eine verklausulierte Herabwürdigung weiblicher Sexualität. Campion erschafft hier sogar einen Gegenentwurf zu ihrem Erfolgsfilm „Das Piano“ (1993): Zwar erzählt sie auch hier von weiblicher Unterwerfung und Selbstbehauptung über das Verhältnis einer Frau zu ihrem Klavier. Während jedoch in „Das Piano“ eine Verstummte durch das heftig begehrte und virtuos bespielte Instrument zum Selbstausdruck findet, führt Roses stümperhaftes Klavierspiel – auf einem Flügel, der ihr aufgedrängt wurde – geradezu zu ihrem Verstummen.

Foto: Netflix/Kirsty Griffin

Queere Sinnlichkeit stellt Campion zwar aus, doch ist diese bei ihr noch weniger als im Buch als eindeutiges, in eine bestimmte Richtung drängendes Begehren zu haben. Es bleibt stets verzwirbelt und verflochten mit den Wertesystemen der Figuren, wandelt sich in spannungsgeladene Mixturen aus Konkurrenzdenken und Vernichtungswillen, Beharrungsvermögen und Loyalität. Dadurch ist der Film auch weit entfernt von ordentlichen Dichotomien wie etwa in Ang Lees „Brokeback Mountain“ (2005): Während sich dort eine schwule Liebe an den äußeren und verinnerlichten Widerständen einer intoleranten Gesellschaft abkämpfen muss, liefern sich Eros und Thanatos in „The Power of the Dog“ einen flimmernden, schattenspielenden, schwer zu greifenden, in die Landschaft hinüberspukenden Schabernack.

Den eigentlichen Kampf, den zwischen dem starken Phil und dem zerbrechlichen Peter, erzählt Campion vollständig über die Männerleiber und Tierkörper, über Häute und über Blicke, die akribisch Oberflächen perforieren oder verdeckte Zusammenhänge erfassen. Rinderhäute werden zugerichtet und angespannt, zerschnitten und umeinander verdreht. Und sie werden weich. Weich und verletzlich wie die warmen Flanken der Pferde, auf die die Lassos knallen. Auch der anfangs gefällig dahingeplänkelte, bald dissonant sich verspannende und verschraubende Score von Radiohead-Mitglied Jonny Greenwood spiegelt das Animalische und Körperhafte: Ein zunehmend krampfhaft-kränkliches Gezupfe auf Saiten aus Tiergedärm voller angeschmutzter Harmonien verbindet sich auf der Bildebene mit jenen Rohhautstreifen, aus denen Phil für Peter ein Lasso flechten will.

Greenwood komponierte auch die Musik für „There Will Be Blood“ (2007), ein Männerdrama wiederum, das sich um Konkurrenz dreht: Bohrturm hier, Kirchturm dort. Oder, wie Regisseur Paul Thomas Anderson zusammenfasste: „Wer hat den Längeren?“. Blut wird auch in „The Power of the Dog“ fließen, doch die Wunde ist selbst verursacht, und da draußen gibt es keine Instanz, der eindeutig Schuld zu geben wäre. Wo Konkurrenz herrschen könnte, ist Begehren. Wo Begehren sein könnte, ist Gegnerschaft, bei der es darum geht, die Frau, die Mutter, vor dem Fanatiker zu retten. Und sich selbst Frieden zu verschaffen.




The Power of the Dog
von Jane Campion
2021, 126 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT und DF,
Netflix

Seit 1. Dezember in ausgewählten Kinos und auf Netflix.

↑ nach oben