Jenseits der Mauern

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Jetzt im Salzgeber Club: Als sich Kellner Ilir den betrunkenen Kneipengast Paulo ins Bett legt, weiß er noch nicht, wen er sich da in sein Leben geholt hat. Schon wenig später gibt der anhängliche Paulo Freundin und früheres Leben auf und steht bei Ilir auf der Matte. Eine Romanze beginnt, zärtlich, leidenschaftlich und verspielt. Aber an dem Tag, an dem sie beschließen, für immer zusammen zu bleiben, verlässt Ilir die Stadt und kehrt nicht mehr zurück. David Lamberts Debütspielfilm „Jenseits der Mauern“ zog bei seiner Uraufführung 2012 in der Semaine de la Critique in Cannes viel Aufmerksamkeit auf sich und steht in einer Reihe mit weitere Vertretern des New-Wave Queer Cinema wie „Weekend“ oder „Keep the Lights On“. Andreas Wilink hat sich vom Unbedingten und Fatalen der Beziehungsgeschichte mitreißen lassen.

Foto: Salzgeber

ZugeHörigkeit

von Andreas Wilink

Vor der Umarmung liegt der Blick, der aber ist autonom. Ist kein Präludium, sondern enthält das voll instrumentierte Thema. Der Blick und der ihn annehmende und auf ihn reagierende Gegenblick – als das Vor- und Nicht-Sprachliche – besitzen nicht selten eine drängendere Intensität und verheißungsvollere Intimität gegenüber dem, was auf den ersten Augenblick in einem nächsten oder übernächsten folgen kann. „Augen, Körper, Sex – sind die schönsten Dinge des Lebens“, hat Patrice Chéreau zu Protokoll gegeben.

Abgeschleppt, wortwörtlich zu verstehen. Ilir, er lebt in Belgien, stammt aus Albanien, sein Name bedeutet „Freiheit“, wuchtet den sturzbetrunkenen Paulo die Treppen hoch in seine Wohnung und in sein Bett, wo er ihn halb entkleidet und ihm behutsam den Reißverschluss vom Hosenschlitz öffnet, dann jedoch seine Hand zurückzieht, weil er alles weitere als Übergriff gegenüber dem wehrlos Schlafenden empfindet. Frühstück am folgenden Morgen. Ilir ist überlegen, souverän, fürsorglich, etwas belustigt und lässt es gut sein, dass sein Besucher sich an nichts mehr erinnert, auch nicht an seine sexuellen Avancen des Vorabends. Paulo hatte in dem Lokal, in dem Ilir an der Bar kellnert, mit einer Gruppe gefeiert.

Dabei war auch seine Freundin, die Paulo in ihrer Wohnung an der langen Leine hält, weil sie es in ihrem begründeten Misstrauen zu müssen glaubt, und weil er, der Antriebsschwache, Gängelung wohl auch braucht. Wenn sie Paulo Tage später sieht, wie er in ihrer Boutique übermütig herumtollt und mit seinen Kopfhörern versunken wild tanzt, ahnt sie, dass der Anlass seines Ausgelassen-Seins nicht sie ist. Ihre Frage, ob er sie liebe, bejaht er. Aber die Antwort ist in ihrer Belanglosigkeit kränkender und quälender, als ein „Nein“ es wäre. Paulo ist anwesend, aber nicht da. Sie wirft ihn raus.

Ilir spielt E-Gitarre in einer Band und lädt Paulo zu seinem Konzert ein. Eine Szene weiter sitzen sie im Kino und sehen einen Slapstick-Stummfilm. Danach geht es wieder die Treppen hoch, diesmal stürmen sie hinauf, gewissermaßen entlastet und in Erwartung ihrer Körper und ihrer Lust. Paulo zieht kurze Zeit darauf zu seinem Liebhaber Ilir, aber die Art der Beziehung, die er mit seiner Freundin geführt hat, scheint er auch hier fortzusetzen.

Foto: Salzgeber

Paulo klammert – raumgreifend, verspielt und anhänglich wie ein Kind oder wie ein junger Hund. „Kümmer’ dich um mich“, ist seine Aufforderung, und er versucht sich mit seinem langen blonden Haar an Ilir festzubinden. Noch wehrt der wenig Ältere ihn freundlich amüsiert, aber bestimmt ab – mit den Hinweisen, er führe keine „Jugendherberge“ und Paulo möge „artig“ sein.

Dann dreht sich das Abhängigkeitsverhältnis. Ilir beginnt seine Macht über Paulo zu genießen, zu benutzen, zu benötigen. Er fesselt ihn buchstäblich an sich, indem er ihn mit einem Sexwerkzeug, zu dem er wie bei einem klassischen Keuschheitsgürtel den einzigen Schlüssel behält, umschließt und dann für ein paar Tage wegfährt. Aber es wird eine andere Reise, als beide ahnen – und als wir erwarten. Ilir wird wegen Drogenbesitzes erwischt, hat gegen seine Verhaftung Widerstand geleistet und muss für 18 Monate ins Gefängnis.

Foto: Salzgeber

Es gibt kein Gleichgewicht im Begehren, im Gefühlsvolumen, im Wunsch nach Nähe, in der Verteilung von Stärke und Schwäche, beständig muss das Verhältnis neu ausbalanciert werden, damit zwei Menschen es miteinander aushalten. In einer weiteren Kino-Szene schauen wir zu, wie Stan Laurel und Oliver Hardy auf einem schwindelerregend hohen Baugerüst die Balance zu halten und den Sturz in die Tiefe zu vermeiden suchen. In „Jenseits der Mauern“ geht es um den Gegensatz von Liebe (nicht zu verwechseln mit den Flausen und dem Rausch einer Romanze) als soziales Konzept und der asozialen erotischen Begierde.

David Lamberts Debütfilm, der 2012 in der Reihe Semaine de la Critique des Filmfestivals von Cannes uraufgeführt wurde, nimmt die Witterung nach der erbarmungslosen Poesie des frühen Jean-Luc Godard auf, die den Geruch der Straße und des kalten Schweißes der Verlustangst verströmt, und lässt sie eindringen in seine Geschichte. Drehbuch und Dialoge haben dabei ebenso wie das Spiel der Darsteller Guillaume Gouix und Matila Malliarakis – jeder für sich und in ihrem Miteinander – eine überzeugend konkrete und unkonstruiert scheinende, schmerzempfindliche Direktheit.

Zugehörigkeit kann zu Hörigkeit werden. Man denkt beim Unbedingten und Fatalen der Beziehung von Ilir und Paulo an „Der verführte Mann – L’Homme blessé“. Anders aber als bei Patrice Chéreaus filmischer Amour-fou-Erzählung aus dem Jahr 1983, anders auch als in dessen späterem Drama „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ (1998) mit seinen beschleunigten Körpern, beginnt die Liebesbeziehung bei David Lambert eher beiläufig und mit ruhigem Atem.

Foto: Salzgeber

Einerseits scheint Paulo ein Verlorener zu sein, ein Asthmatiker nicht nur im Realen, sondern auch auf der symbolischen Ebene: Er kriegt keine Luft, er muss nach Luft schnappen. Andererseits wird Ilir hinter Gittern zum Unterlegenen, Hilfsbedürftigen. Und er beweist doch Überlebenskraft, als er von Paulo verlangt, er dürfe ihn nicht mehr besuchen, aus Selbstschutz, für die eigene emotionale Selbstbehauptung, vielleicht auch aus Scham und aus Rücksicht auf Paulos Zukunft. Ilirs Namen schreiend, steht Paulo vor den Gefängnismauern. Er kann den Trennschmerz nur ertragen, indem er sich bei seinem neuen copain sadomasochistischen Praktiken überlässt und sich Verwundungen zufügen lässt. Das Grenzwertige wird zu seinem Leben, auch indem er dann doch noch für Ilir Dope besorgt und in die Besucherzelle schmuggelt.

Nach Ilirs Entlassung aus dem Knast, von dessen gewalttätigem Alltag wir nur wenig erfahren, treffen sie sich gleich: Paulo arbeitet im Sexshop seines Freundes und hat sich – modisch elegant gekleidet, akkurat frisiert und mit Metallbrille – herausgemacht. Er zahlt das teure Hotelzimmer, eine Art luxuriöse Zelle. Sie trinken die Minibar leer. Ilir gesteht, sich mit Syphilis infiziert zu haben. Sie schlafen. Haben keinen Sex. Paulo will schon leise gehen, da macht Ilir von ihnen noch ein gemeinsames Foto. Ausgeschlossen von dem anderen und eingeschlossen in sich selbst sind beide, schon einander fern und fremd. Ihre Tränen, die dann jeder allein für sich und um den anderen weint, sind auf dem Handy-Foto nicht zu sehen. Es wird wohl ihre letzte Begegnung gewesen sein. Die Mauern stehen. Man möchte hinzufügen: … und schweigen.




Jenseits der Mauern
von David Lambert
BE / CA / FR 2012, 98 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD erhältlich.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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