Baldiga – Entsichertes Herz
Trailer • Kino
West-Berlin 1979. Jürgen Baldiga, Sohn eines Essener Bergmanns, ist gerade in die Stadt gezogen und beschließt, Künstler zu werden. Mit seiner HIV-Infektion entdeckt er 1984 die Fotografie. Seine Bilder zeigen seine Freunde und Lover, wilden Sex und das Leben auf der Straße und immer wieder die lustvollen Tunten des Schwulenclubs SchwuZ, die zu seiner Wahlfamilie werden. Zwischen Verzweiflung und Begehren, Auflehnung und unbändigem Überlebenswillen wird Baldiga im Angesicht des nahen eigenen Todes zum Chronisten der West-Berliner Subkultur. Als er 1993 im Alter von 34 Jahren stirbt, hinterlässt er ein einzigartiges künstlerisches Vermächtnis. Entlang von Baldigas poetischen Tagebüchern und schonungslosen Bildern sowie über die Erinnerungen von Wegbegleiter:innen zeigt „Baldiga – Entsichertes Herz“ den Künstler nicht nur als bahnbrechenden Fotografen, sondern auch als Aids-Aktivisten und engagierten Kämpfer gegen die Stigmatisierung schwuler Lebensentwürfe. Peter Rehberg, der unter anderem vier Jahre lang das Archiv des Schwulen Museums geleitet hat, wo Baldigas Nachlass lagert, schreibt über einen Film, der Baldigas radikales Leben und seine kompromisslose Kunst in prägnante Kinobilder überträgt.
Kunst und Ficken
von Peter Rehberg
Schwule Künstler stehen oft im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung von HIV und Aids. Nicht nur Stars des Mainstreams wie Freddie Mercury oder Rock Hudson, bei denen das Öffentlichwerden ihrer HIV-Infektion mit ihrem schwulen Coming-out zusammenfiel, sondern jene, deren persönliches und sexuelles Leben auch Teil ihrer künstlerischen Arbeit war: Keith Haring, Robert Mapplethorpe, Peter Hujar, Felix Gonzalez-Torres sind die bekanntesten, allesamt aus New York, oder der Schriftsteller und Fotograf Hervé Guibert aus Paris.
Dabei ging es nicht nur darum, Aids ein „Gesicht“ zu geben, also der stigmatisierenden Berichterstattung in den Medien, eine von Schwulen selbst autorisierte Sicht entgegenzuhalten, sondern auch das Spezifische einer schwulen Kultur, ihre Errungenschaften, sichtbar zu machen. Eine der Debatten, in den USA wie in Deutschland, kreiste zum Beispiel um die Frage, ob man in Zeiten, in denen eine sexuell übertragbare Infektion zur tödlichen Epidemie geworden ist, weiterhin promisk leben kann. Ob das, was von außen betrachtet vielleicht verantwortungslos aussieht – viele wechselnde Sexualpartner – vielmehr eine besondere Ethik besitzt. Zum Beispiel weil die zahlreichen sexuellen Beziehungen zwischen schwulen Männern auch ein wichtiges Netzwerk für die Weitergabe von Informationen sind und eine öffentlich gelebte Sexualität ihre eigenen Formen von Community und Solidarität hervorbringt. Eine Debatte, die in Deutschland damals von Martin Dannecker und Rosa von Praunheim kontrovers geführt wurde.
Die „Aids-Künstler“ in den USA spielten aber auch deswegen eine so große Rolle, weil sich mit ihnen eine bestimmte Verschränkung von sexuellem Lebensstil, neuen ästhetischen Formen und politischem Protest zeigte, wie sie dann durch die Aktionen von Act Up bekannt geworden ist: Plakate entwerfen, die mit den Gesetzen der Werbung spielten, Medienaufmerksamkeit erwirken, durch Aktionen wie „Die-Ins“, mit denen auf den Straßenkreuzungen Manhattans der Verkehr lahmgelegt wurde. Genau in dieser Atmosphäre kam dann der Begriff „queer“ auf, der bis dahin nur als Schimpfwort benutzt wurde und nun für eine neue Generation von schwulen Männern und ihre Allies zur Bezeichnung ihres Lebensstils und ihres Selbstverständnisses diente.
Hatte Deutschland vergleichbare „Aids-Künstler“, also schwule Männer, die ihre eigene Infektion auch zu einem Ausgangspunkt ihrer Arbeit machten und dabei neue künstlerische Formen entwickelten? Dass der Schriftsteller Hubert Fichte an Aids gestorben ist, wurde zum Zeitpunkt seines Todes 1986 verschwiegen. Anders war es bei Detlev Meyer (gest. 1999) und Napoleon Seyfarth (gest. 2000), die allerdings im Unterschied zu Fichte hauptsächlich in kleinen Verlagen veröffentlichten und über die schwule Szene hinaus relativ wenig Beachtung bekamen. Auch der Fotograf Jürgen Baldiga (1959-1993) – eine Berühmtheit in der schwulen Subkultur im West-Berlin der 1980er Jahre – war weit entfernt vom Ruhm und finanziellen Erfolg von Robert Mapplethorpe oder Keith Haring.
Allerdings ist Baldiga schon seit einiger Zeit eine Art Geheimtipp, jemand dessen großer Durchbruch posthum erwartet wird und noch aussteht. Sein Nachruhm wächst beständig. Guckt man zum Beispiel auf die im Schwulen Museum in Berlin versammelten fotografischen Nachlässe, hat sich unter Mitarbeitenden und Besuchenden längst herumgesprochen, dass Baldigas Arbeiten eigentlich die künstlerisch interessantesten der Sammlung sind.
In der gegenwärtigen Phase der Historisierung von Aids wird Baldiga nun auch einem breiteren Publikum bekannt. Weniger betroffen und traumatisiert als die Generation schwuler Männer vor ihnen kann ein jüngeres Publikum einen anderen Blick auf diese Zeit werfen. Der französische Spielfilm „120 BPM“ (2017) über Act-Up und die britische Fernsehserie „It’s a Sin“ (2021) waren der Anfang dieses neuen Erzählens von Aids aus der historischen Distanz. In Deutschland begaben sich Filmemacher ins Archiv, um das Leben und die Arbeit von Jürgen Baldiga zu würdigen. Nach Jasco Viefhues’ „Rettet das Feuer“ (2019) ist „Baldiga – Entsichertes Herz“ von Markus Stein der zweite Dokumentarfilm über Jürgen Baldiga innerhalb von fünf Jahren.
Beide Filme beschwören schon im Titel die Dringlichkeit, die in Baldigas Lebensentwurf lag. Ein Lebenstempo, das sich dem Bewusstsein verdankte, schon als junger Mann nicht mehr viel Zeit zu haben. 1984 wurde Baldiga positiv auf HIV getestet. Knapp zehn Jahre später, 1993, begann er mit 34 Jahren Suizid, als das Leben mit Aids für ihn nicht mehr lebenswert war. Der neue Dokumentarfilm von Markus Stein, der im Februar auf der Berlinale Premiere hatte, stellt aber klar, dass Baldiga nicht erst durch Aids zum Künstler geworden ist. Dem Arbeitermilieu seiner Herkunft in Essen entkommen, bedeutet West-Berlin für ihn Ende der 1970er Jahre zunächst eine Welt, in der er uneingeschränkt schwul sein konnte. „Du bist Jürgay“, so heißt es im Selbstgespräch seiner Tagebuch-Aufzeichnungen. Die Sexuelle Freiheit war schnell von künstlerischen Ambitionen begleitet. „Kunst und Ficken – das ist mein Leben“, schreibt Baldiga. Am Anfang spielte Baldiga noch in einer Post-Punk-Band – Teile der Musik sind auch als Soundtrack zum Film zu hören. Als Autodidakt fing er an, regelmäßig zu fotografieren. Der Maler Salomé, einer der Jungen Wilden vom Moritzplatz und schon etablierter Künstler, wurde für Baldiga zum Vorbild. Und es läuft: Mit kleineren Ausstellungen ging es los, Buchprojekte folgten. Baldiga hat seinen eigenen Kosmos dokumentiert, das schwule Leben im West-Berlin der 1980er Jahre, das nicht zuletzt wegen Figuren wie ihm mittlerweile zum Mythos geworden ist.
Zwei seiner Projekte haben Baldiga vor allem bekannt gemacht: Großformatige Schwarz-weiß Porträts der SchwuZ-Tunten wie Melitta Sundström, Melitta Poppe, Chou-Chou de Briquette und Pepsi Boston, und später schließlich die Selbstdokumentation des eigenen vom HI-Virus versehrten Körpers. „Baldiga – Entfesseltes Herz“ zeigt aber auch, wie wichtig das Schreiben für den Künstler war. Während der fotografische Nachlass von Baldiga hauptsächlich im Schwulen Museum in Berlin archiviert ist, sind seine Texte – Tagebücher und Gedichte – im Besitz von Baldigas Freund Aron Neubert. Auch zu ihnen hatten die Filmemacher Zugang. Durch die Ich-Perspektive der Tagebuchaufzeichnungen gewinnt der Film an subjektiver Eindringlichkeit. Baldiga zeigt uns nicht nur seine Welt, er spricht auch zu uns. So entsteht quasi ein Gespräch zwischen Baldiga selbst und den Zeitzeugen – Lover, Freunde, Familie, das medizinische Personal der wichtigsten Aids-Klinik in Westberlin, dem AVK –, die zu Wort kommen. Der Film kreist um eine Reihe von Themen – Sex, Kunst, Krankheit – die in mehreren Kapiteln mehr oder weniger chronologisch verbunden sind. Die Filmemacher geben aber auch jedem Thema so viel Raum, dass es über die Biografie Baldigas hinaus stellvertretend für jene Zeit stehen kann – die 1980er Jahre im schwulen West-Berlin.
Damals wie heute wird die Wahrnehmung Baldigas leicht überblendet vom Sensationalismus, dem plakativ ausgestellten Leben und Leiden eins HIV-Infizierten in den 1980er Jahren. Baldiga erscheint so als jemand, der alles gegeben hat in seinem kompromisslosen Lebensstil. Auch in der nachträglichen Mythisierung droht – wenn diesmal vielleicht auch positiv gewendet – der „Aids-Künstler“ zum Anderen zu werden, dessen Leben man erregt und mit leichtem Schaudern verfolgt und beim Verlassen des Kinosaals dann froh ist, dass diese Zeit vorbei ist und man selbst irgendwie einigermaßen heil davongekommen ist. Weil man später geboren wurde, oder weil man einfach nur Glück hatte, sich nicht infiziert hatte oder die lebensrettenden Medikamente rechtzeitig da waren. Eine solche Rezeption Baldigas, die sein Leben als Spektakel sieht, ist nicht die Schuld des Films, sondern eher ein Problem von Medienaufmerksamkeit und Kulturgeschichtsschreibung. „Baldiga – Entfesseltes Herz“ zeigt aber, dass es eigentlich um etwas ganz Anderes geht: Baldigas Leben erinnert an die Möglichkeiten schwuler Existenz, an einen radikalen Lebenswillen, der Sex und Kunst einschließt und sowohl für bürgerliche schwule Lebensentwürfe als auch für eine queere Kultur, die in ihrer institutionalisierten Form mit Sex immer weniger zu tun haben will, eine Provokation bleibt.
Baldiga – Entsichertes Herz
von Markus Stein
DE 2024, 92 Minuten, FSK 16,
deutsch OF
Salzgeber
Ab 28. November im Kino