Hengameh Yaghoobifarah: Schwindel
Buch
Freitagabend: Ava hat ein Date mit Robin. Alles läuft super, doch als unerwartet Avas aufgebrachte Liebhaber:innen Delia und Silvia auftauchen, ist es vorbei mit der Harmonie. Überstürzt flüchtet Ava in den 15. Stock aufs Dach, die anderen folgen. Als die Tür hinter ihnen zufällt, merken sie, dass sie in der Falle sitzen, denn in der Aufregung hat niemand einen Schlüssel oder ein Handy mit nach oben gebracht. Na dann, gute Nacht! Nachdem Hengameh Yaghoobifarahs gefeierter Debütroman „Ministerium der Träume“ Liebe und Schrecken im Schatten der Heimatlosigkeit beschwor, verhandelt der neue Roman „Schwindel“ im Rahmen eines zugespitzten „Locked in a room“-Szenarios die Macken und Tücken des Alltags in der queeren Bubble. Anja Kümmel hat sich in das klaustrophobische-komische Setting hineingewagt und einen literarischen Höhenrausch erlebt.
Shapeshifter im All
von Anja Kümmel
„Erstmal runterkommen.“ In Hengameh Yaghoobifarahs zweitem Roman „Schwindel“ ist das leichter gesagt als getan. So vieldeutig wie der Titel ist auch das mal explizit, mal implizit auftauchende „Runterkommen“ gemeint, mit dem Yaghoobifarahs Figuren zu kämpfen haben: Sehr oft sind sie high und/oder emotional zu aufgewühlt, um klar denken zu können. Aber auch ganz wortwörtlich sind sie die meiste Zeit über mit der Frage beschäftigt, wie sie von einem Hochhausdach runterkommen sollen, auf dem sie sich versehentlich ausgeschlossen haben. Ein Hochhausdach, auf dem – man ahnt es bereits – so mancher Schwindel auffliegen und andere der Schwindel erst packen wird.
Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist Ava, von der wir zunächst nicht viel mehr erfahren, als dass sie meist einen Joint zwischen den Lippen und einen zweiten zwischen den Fingern hat, den sie gerade baut. Und dass sie offensichtlich ein ziemlich lockeres Dating-Leben mit multiplen Partner:innen führt. Auch im Poly-Jargon wäre Ava somit gut und gerne als „Hinge“ zu bezeichnen, sprich: als „Scharnier“ zwischen mehreren Partner:innen, die ihrerseits nicht miteinander verbandelt sind. Mit Robin, die als „menschliche Version des Instagram-Elfen-Filters“ vorgestellt wird und in einer offenen Hetero-Langzeitbeziehung lebt, ist Ava an diesem Abend eigentlich verabredet. Allerdings wird aus der lauschigen Zweier-Kiste ziemlich schnell ein nicht mehr ganz so harmonisches Aufeinandertreffen des gesamten Polyküls, als unverhofft zwei weitere (abgelegte) Liebhaber:innen bei Ava auftauchen. Erst Delia, eine nichtbinäre Person, mit der Ava eine entspannte, dauerbekiffte Affäre führt, von der sie sich emotional jedoch schon seit längerem entfernt hat (ohne allerdings den Mumm zu haben, dies Delia oder sich selbst einzugestehen). Und dann auch noch die wesentlich ältere Silvia, die mit beträchtlichem Klärungsbedarf und Wutpotenzial auf Avas Matte steht, nachdem diese seit 13 Tagen nicht mehr auf ihre Nachrichten reagiert hat. Durch eine, nun ja, unglückliche (für die Story jedoch äußerst fruchtbare) Verkettung von Umständen landen alle vier auf dem verwinkelten Dach des Hauses, in dem Ava wohnt. Ohne Schlüssel. Ohne Handy. Ohne Plan.
Ganz schön viele unwahrscheinliche Wendungen, die sich da auf den ersten Seiten ereignen! Aber das ist nur der Anfang: Unter anderem hat „Schwindel“ eine gefakte Krebserkrankung, einen behaupteten Mord und eine unverhoffte Familienzusammenführung im Repertoire. Seifenopernreif! Ganz offensichtlich haben wir es hier mit einem Roman zu tun, der den Lesenden – zumindest was das Genre der realistischen Literatur betrifft – ein hohes Maß an „willing suspension of disbelief“ abverlangt. Oder anders gesagt: Es gilt, den Schwindel zu glauben, aber auch: sich von den wilden Haken, die der Plot schlägt, nicht schwindlig machen zu lassen.
Ein kurzer Blick in die Film- und Literaturgeschichte zeigt, dass ein Setting wie dieses – eine Handvoll Menschen, die sich nicht beziehungsweise nur ein bisschen kennen (oder aber sehr gut zu kennen meinen und im Laufe der Geschichte eines Besseren belehrt werden), zusammen einzusperren und/oder einer Extremsituation auszusetzen – äußerst unterhaltsame Plots hervorbringen kann. Das kann in Richtung Horror/Psychodrama („The Cube“) oder Komödie („Perfect Strangers“) gehen, mitunter auch beides. In einem solchen Setting ist alles möglich, zumal wenn Hengameh Yaghoobifarah, bekannt als Essay- und Romanautor:in, ehemalige Stimme in Missy und taz und streitbare Figur der Berliner Queer-Szene, die Feder schwingt.
Mit einem äußerst konfliktscheuen „Hinge“ im Zentrum des Geschehens, einer nicht-binären Figur mit Mental-Health-Issues, einer älteren Feministin, die bereits während der Aids-Krise politisch aktiv war, sowie einer als hetero gelesenen Lesbe, die sich permanent im Rechtfertigungszwang sieht, hat Yaghoobifarah eine denkbar explosive Mischung an Charakteren geschaffen. Allein deshalb verfolgt man das Kammerspiel gerne weiter, so forciert es auf den ersten Blick auch angelegt scheinen mag. Natürlich dauert es nicht lange, bis sich die vorprogrammierten Konflikte an so banalen wie – nach einigen Stunden auf dem Hochhausdach – existenziellen Dingen entladen wie: Es gibt nur ein vegetarisches Sandwich, aber mehrere Vegetarierinnen. Oder: Wo ist eine Piss-Ecke zu etablieren? Dass dabei manche Problemlagen etwas verkürzt dargestellt wirken beziehungsweise in Wirklichkeit verbal kaum so ausformuliert würden (etwa wenn Silvia nebenbei raushaut: „Ihr könnt halt nicht kämpfen. Immer muss alles schick und bequem serviert werden.“), ist verzeihlich – Konflikte zuzuspitzen und zu kondensieren liegt schließlich in der Natur des Kammerspiels.
Tiefe und Komplexität gewinnt der Text vor allem dadurch, dass Yaghoobifarah neben dem unfreiwilligen Abenteuer auf dem Dach in mehreren Einschüben die Vorgeschichten der Figuren miterzählt. Hier liegt der Fokus – anders als bei der Ausgangslage vielleicht erwartbar wäre – nicht so sehr auf deren Beziehungserfahrungen jenseits der Monogamie, sondern vielmehr auf deren „Gay Origin Stories“ beziehungsweise ihrem Hadern mit einem „gender affirmating lifestyle“. Mehr und mehr wird das metaphorische „Gefangensein“ zum Thema: in einer patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft, im zugewiesenen Geschlecht („welches gefäß stellte das eigentliche gefängnis dar? der menschliche körper, die architektur oder die sprache?“), aber auch in bestimmten Codes und (impliziten) Ausschlussmechanismen queerer Gemeinschaften.
Der letzte Punkt ist vielleicht der interessanteste, oder jedenfalls der am komplexesten ausgearbeitete und am konsequentesten durchgespielte. Denn „Schwindel“ reproduziert auch selbst – und das ist sicherlich gewollt – eine Reihe von Ein- und Ausschlussmechanismen, allein dadurch, dass sich Yaghoobifarah eines queeren, anglophilen, „woken“ Jargons bedient, der eine bestimmte Bubble anspricht, manche andere jedoch vermutlich außen vor lässt. So benutzt Delia ganz selbstverständlich dey/demm-Pronomen; es ist die Rede von „Service Tops“ und „Stone Butches“, „TERFs“ und „Slut-Shaming“, „Solo Polyamory“ und „Chemsex“; es wird „circludiert“ oder „Aftercare“ betrieben (beziehungsweise das Ausbleiben einer solchen bemängelt). All diese Begriffe werden vorausgesetzt und markieren den Text „für Eingeweihte“, sprich: mit dem Internet aufgewachsene, in sexpositiven, kinky Kreisen verkehrende FLINTAs. Zudem wimmelt es auf eine stellenweise fast schon überzeichnet wirkende Weise von Anglizismen („Du bist am Trippen! Aber so was von. Lockere Lovers können safe mal miteinander verreisen. Das hat nichts mit Feelings zu tun.“), mit der Yaghoobifarah, darf man vermuten, nicht zuletzt das eigene Markenzeichen selbstironisch feiert. Immer wieder spielt der Text mit Zugehörigkeiten; und die Identifikationsangebote, die er bereithält, sind nicht selten trügerisch: „Was bist du für eine Lesbe, wenn du keinen Karabinerhaken mit deinen Schlüsseln an deiner Jeans trägst?“ Wer jetzt lacht, hat sich zu früh gefreut: Letztendlich bekommt so gut wie jede queere Subgruppierung ihr Fett weg, sodass sich am Ende niemand moralisch überlegen fühlen kann.
Schade nur, dass dabei das Polyamorie-Thema etwas unterbelichtet bleibt, vor allem da es bis jetzt im deutschsprachigen Raum kaum Werke gibt, die sich auf literarische, geschweige denn queere Weise mit dieser Beziehungsform befassen. Dass Ghosting nicht die beste Schlussmach-Taktik ist, auch wenn das Verhältnis nie als „Beziehung“ definiert war, lässt sich zwar als Erkenntnis mitnehmen, aber eine tiefere Exploration findet kaum statt. Warum sich die Figuren für diesen oder jenen Beziehungsstil entschieden haben und wie es ihnen damit geht, ist lediglich zwischen den Zeilen zu erahnen.
Die Stärken, die „Schwindel“ zu einem besonderen, bereichernden Leseerlebnis machen, liegen somit in seinem konsequenten wie nonchalanten „Verqueeren“ von Begehren, von Räumen, von Körpern, von Sprache und Denkmustern. So finden sich etwa wunderbar unverkrampfte Beschreibungen von queerem Sex, die eindrücklich belegen, „dass auch sex ein ort der gender euphoria sein konnte“: „sie waren weiche slobs, durch das all fliegende shapeshifter, pink und gelb und manchmal grün, die farben waren grell, sonderfarben, mal wie ein stern oder ein kreis oder ein klecks, sie schossen in die luft, mit höchstgeschwindigkeit, und mit jedem kuss veränderte sich ihre form zum beat der musik“. Ob dies nun dem Oxytocin, dem Adrenalin oder dem THC geschuldet ist – geschenkt.
Gratis dazu gibt’s – Avas blühende Fantasie sei Dank – auch noch die ein oder andere Anleitung für queeren DIY-Porn im grauen Großstadt-Alltag dazu: Wie wäre es zum Beispiel mit einer Orgie im Hamam? Ein bisschen Cruising in der Gemeinschaftspraxis, um sich die Wartezeit auf einen STI-Test zu vertreiben? Oder vielleicht ein Rendezvous mit der hotten Trainerin im Schwimmbecken während der orthopädisch verordneten Hydrotherapie? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt – und vielleicht ist ja sogar genau sie der beste Ausweg aus jedweder Gefangenschaft.
Schwindel
von Hengameh Yaghoobifarah
240 Seiten, € 23
Blumenbar Verlag