Drifter

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Jetzt im Kino: Moritz ist 22 und gerade von seinem Freund verlassen worden, für den er eigentlich nach Berlin gezogen war. Jetzt probiert er verschiedene Lebensmodelle aus. Er verändert sein Aussehen, taucht ein in die Berliner Partyszene, lebt seine Sehnsüchte und sexuellen Fetische aus, verliert sich aber auch zunehmend in Drogenkonsum und emotionaler Entfremdung. Erst mit Hilfe seiner queeren Freunde findet Moritz heraus, wer er wirklich sein möchte. „Drifter“ ist eine Reise entlang von Einsamkeit, Exzessen und Kinks, stellt Fragen nach schwulen Körperbildern und nicht-heteronormativen (Wahl-)Verwandtschaften. Für sein vielschichtiges Figuren- und Szeneporträt wurde Hannes Hirsch gerade mit dem Nachwuchspreis First Steps ausgezeichnet. Sebastian Markt über einen kühnen Verwandlungsfilm, der sich in leuchtenden Bildern der etablierten Wesensformel der Selbstwerdung verweigert und damit eine dezidiert queere Coming-of-Age-Geschichte erzählt.

Foto: Salzgeber

Werden, wer man nie gewesen ist

von Sebastian Markt

Enthusiastische Kinogänger:innen in Berlin (oder anderswo) kennen das vielleicht: In einer historischen Reihe im Zeughauskino (oder anderswo) stößt mensch auf einen ungesehen Film, der ein Tor öffnet. Einen Film, bei dem man sich fragt, wieso man ihn nicht schon längst kannte. Einen Film, der einen spezifischen Ort und Moment erschließt. „Drifter“, dem Langfilmdebüt von Hannes Hirsch, bleibt dieses Schicksal des späten Entdecktwerdens hoffentlich erspart. Es ist ein Film, der greifbar macht und festhält, wer wir (oder manche von uns) in einem bestimmten Augenblick waren und wie wir (oder manche von uns) gelebt haben.

„Drifter“, der seine Uraufführung im Februar im Panorama der Berlinale hatte und gerade erst mit dem First Steps Award ausgezeichnet wurde, ist ohne Zweifel ein Berlin-Film, aber einer, der dem auf seine Wiederekennbarkeit und Konsumierbarkeit ausgerichteten Hype-Bildes der queeren Drogen-, Club- und Partystadt eine nachdenkliche Erkundung entgegenstellt. Ein Film, der vom Versprechen erzählen kann und von den Sehnsüchten, die junge queere Menschen in die Stadt zieht; ein Film, der die Ekstasen spürbar machen kann, die Berlin mitunter bereithält; ein Film aber auch, der einen Begriff von den Widersprüchen hat, die eine Freiheit produziert, die nicht in allen Dimensionen selbstbestimmt ist, und auch das Innere einer Szene affizieren, die sich selbst als großen Freiraum zu denken meint.

Moritz begegnet uns zuerst auf Knien, vor seinem Freund. Ein Blowjob, der sich in eine Umarmung auflöst. „Schön, dass Du nach Berlin gekommen bist“, sagt Jonas. Das, in einer bündigen Sequenz vor dem Titel erzählt, ist der Plan: Mit anfang 20 zieht Moritz von irgendwo, wo es kleiner und weniger aufregend ist, zu seinem Freund nach Berlin, der schon eine Weile hier ist, die ersten Schritte gemacht hat, auf ein Leben als Künstler hinarbeitet, Leute kennt. Ein paar von denen kennt Moritz dann auch schnell, mit Stefan findet er bald eine Ebene übers Musizieren. Die Verhältnisse aus denen der Klarinette spielende Moritz stammt, scheinen behütet zu sein. Der Druck ist erstmal nicht so groß, vielleicht will er bald ein Kunstgeschichtsstudium beginnen, im nächsten Semester oder in zwei. Mama sagt, er kann sich Zeit lassen. Auf die Welt, in der Jonas drinsteckt, von freizügigem Umgang mit Drogen und Sex und Selbstentwürfen, geht Moritz zaghaft zu. Die schnelle Frage, die Jonas eines Abends stellt, ob Moritz nicht heute mal woanders schlafen kann, wird im Handumdrehen eine Trennung. Und dann ist Moritz draußen: aus der Beziehung, aus der Wohnung – ist freigesetzt und driftet.

Foto: Salzgeber

Moritz macht Bekanntschaften und Erfahrungen, erlebt sich in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen. Die Griechin Eleftheria und ihr baskischer Freund nehmen ihn auf einen Dreier mit nach Hause. Man muss ja nicht gleich kategorisieren, sagt der Freund, als Eleftharia meint, eigentlich sei er ja auch schwul. Moritz nähert sich Noah an, einem etwas älteren Mann, der als Filmvorführer jobt, und sich mit seiner Partnerin um deren Kind kümmert, dessen leiblicher Vater er nicht ist. Er dockt zwar ein bisschen an Noahs Patchworkfamilie an, aber bleibt doch auch irgendwie außen vor. Etwa ein halbes Jahr vergeht in einem Schnitt, dann ist aus dem Ankunftswinter Sommer geworden. Die Haare von Moritz sind jetzt kurzgeschoren, sein Kleidungsstil ein bisschen expressiver, die Parameter der Selbstentwürfe sind vieldimensional, doch zwischen Machen und Sein bleibt eine Spannung.

Das Berlin-Bild des Films baut sich nicht über Landmarks-Abklappern auf, das sich über schnelles Abrufen von Referenzen seiner Gültigkeit versichert. Es ist ein Bild fiktionaler Präzision: Zu sehen sind Orte und Situationen, die nicht mimetisch abgebildet sind, sondern die eine Vorstellungskraft und ein vielfältiges queeres Team erschafft haben und die damit nicht nur verweisen, sondern bedeuten, nicht nur abbilden, sondern zeigen.

Foto: Salzgeber

Eli Börnickes Kamera ist an den körperlichen Formen der Vergemeinschaftung und Vereinzelung interessiert, die Moritz durchläuft und die die Szenen prägen: die vertraute Umarmung der ins Stottern gekommenen Beziehung, oder das gemeinsame Rumlungern am See, mit Leuten die man schon kennt, und Leuten die man gerade erst kennenlernt. „Drifter“ zeigt eine Körperlichkeit, die schimmert zwischen Begehren und Selbstverständlichkeit, zwischen zärtlichen Berührungen und Erniedrigungen als Verlangensspiel, zeigt das Auflösen der Körpergrenzen im Rausch und im Tanz und beim Sex, wenn Menschen ineinander übergehen – aber auch das Abreißen von Verbindungen, das Krümmen und Zusammenklappen unter Überdosis, und das Zurückkehren in die Wohnung, alleine mit sich selbst und den Resten des Rauschs. Wir sehen ephemere Innigkeit auf Drogen und nüchterne Anknüpfungsversuche an Verbindungen, die unter anderen Vorzeichen begonnen wurden, und in einer beklemmenden Sequenz eine vorwiegend aus Hetero-Paaren bestehende, in Zweisamkeiten geordnete Runde am Dinnerparty-Tisch. Gesellschaftliches ist hier nicht nur abstrakter Hintergrund, es wird plastisch an den Verhältnissen, die Leute ganz unmittelbar zueinander einnehmen.

Foto Salzgeber

Der Film registriert das nicht einfach nur, er ist selbst eingelassen in ein komplexes Blickregime, das die Hierarchien, die im Sehen und Gesehen-Werden impliziert sind, miteinschließt, begehrendes Betrachten und ein Taxieren, das doch auch wieder nach körperlichen Merkmalen sortiert. Vor allem folgt er Moritz’ Blick auf sein Umfeld: er, der fast geschichtslos in den Film tritt, betrachtet, was ihm begegnet und wer sich selbst erkennt – oder auch nicht.

Als eine Art Coming-of-Age-Film kann man „Drifter“ insofern lesen, als er eine Transformation eines jungen Menschen beschreibt, der auf der Suche nach einer Art von Leben ist, in dem er sich selbst erkennt. Vom Genre-formenden Hauptstrom unterscheidet sich „Drifter“ durch einen Aspekt, der auch den zentralen Teil seiner Queerness ausmacht: Er verweigert sich radikal der etablierten Wesensformel der Selbstwerdung. Hier wird jemand nicht, was er eigentlich immer schon gewesen ist, sondern öffnet sich den Aporien der Identität auf andere Weise. Hannes Hirsch und Koautor:in River Matzke skizzieren eine Bewegung, die notwendigerweise ins Offene und damit mitunter auch ins Prekäre und Ambivalente geht, weil die Lebensmodelle, die cis/hetero-Selbstfindungsprozessen zugrunde liegen, einfach nicht passen, nicht erreichbar sind. Damit verschwindet aus der Erzählung nicht nur eine Norm, sondern auch eine Teleologie, die einen Rahmen der Entwicklung vorgeben würde. Die elliptische Erzählform bringt mit sich, dass „Drifter“ weitgehend ohne klimaktische Momente auskommt und Spuren legt statt entscheidende Wegmarken zu setzen.

Foto: Salzgeber

Moritz sucht nach einem Ausdruck. Er zieht den bunten Pullover eines Lovers an, auch wenn die Kleidung nicht zu dem passt, was er zuvor anhatte. Oder er trägt  Ohrringe, die jenen ähnlich sind, die ihm zuvor noch zu schillernd waren. Das Ungerichtete der Freiheit ist auch eine Last – die Last, einen Entwurf von sich selbst zu finden, der konsistent ist. Das ist auch prekär, weil dort, wo Druck herrscht, „man selbst“ zu sein, auch die Einsamkeit droht und der Verlust der eigenen Grenzen. Zeichen des Selbst sind in Gemeinschaften mitunter nicht nur Ausdruck der Individualität, sondern können auch funktionalisiert werden in Logiken, die gerade nicht auf Sorge ausgerichtet sind. In unserer vermeintlich liberalisierten Gegenwart greift der Druck der Individualität in marginalisierten Communities tatsächlich ganz anders.

Foto: Salzgeber

Fast ganz am Ende wird Moritz nochmal seinen Blick über Menschen schweifen lassen, auf einem Dancefloor. Es ist diesmal taghell und die Kamera interessiert sich nun weniger für das, was in Moritz’ Blick fällt als für die Veränderung, die sich in seinem Gesicht und Körper abzeichnet als Reaktion auf das, was er sieht, auf die Veränderung aber auch, die seit dem Ankommen in Berlin geschehen sind. Wir sehen einen jungen Mann, der weniger auf Abstand zu seinem eigenen Körper wirkt, der sich dessen Wirkung auf andere gewisser ist, dessen Blicke auf Menschen fallen, mit denen er Verbindungen teilt.

Und dann noch: ein Stück vorüberziehender Himmel, aus dem Autofenster gesehen, an einen Menschen angelehnt, von dem man grade nicht weiß, wer es ist. Kein Ende einer Reise, aber ein Stillstehen und ein Aufgehobensein, für einen Moment.




Drifter
von Hannes Hirsch
DE 2023, 79 Minuten,
deutsch-englische OF, teilweise mit deutschen UT,
Salzgeber

Ab 2. November im Kino

 


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