The Mattachine Family

TrailerQueerfilmnacht

Was ist Familie? Und welche Alternativen zur klassischen Kernfamilie gibt es für queere Menschen? In  „The Mattachine Family“ finden die Filmemacher Andy und Danny Vallentine so ehrliche wie unterhaltsame Antworten. Sissy-Autor Andreas Köhnemann über einen „Film voller Liebe und Wärme, der an das Werk von Edward Burns, Lisa Cholodenko oder Nicole Holofcener erinnert.“ Im Juni läuft der Film in der Queerfilmnacht.

Mattachine Family

Bild: Salzgeber

Family Matters

von Andreas Köhnemann

Die heteronormative Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und den gemeinsamen leiblichen Kindern, ist seit jeher in der Dramaturgie und in der Ästhetik von Filmen und Serien verankert – mit eindeutigen Rollenbildern und Standardsituationen. Doch auch die Patchwork- und die Wahlfamilie haben seit langer Zeit ihren Platz vor allem in Kino-Komödien und in TV-Sitcoms, hin und wieder zudem in ernsteren Stoffen. In „The Mattachine Family“ erzählen Andy Vallentine (Regie) und sein Ehemann Danny Vallentine (Drehbuch) in einem tragikomischen Tonfall und mit viel Sympathie für ihre Figuren von einer solchen Familie, die sich nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern allein durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit auszeichnet.

Via Voiceover führt uns der Protagonist Thomas in den Kosmos dieser kleinen Gruppe ein. Im Schnelldurchlauf schildert er uns seinen Werdegang: Wie er als Kind langsam realisierte, schwul zu sein. Wie sein Vater durch einen Autounfall starb, als er noch ziemlich jung war. Wie er seine Leidenschaft fürs Fotografieren entdeckte und daraus einen Beruf machte. Und wie er seinen späteren Ehemann Oscar kennenlernte. Dieser wuchs wiederum in einer Pflegefamilie auf, avancierte zum juvenilen Star einer heiteren Fernsehsendung – bis sein unfreiwilliges Outing für einen Karriereknick sorgte, da seine Queerness nicht zu seiner biederen öffentlichen Persona passte.


Überdies erfahren wir, dass dieses Paar für ein Jahr ein Pflegekind bei sich aufgenommen hatte: den sechsjährigen Arthur, dessen verwitwete Mutter sich in ihrer Trauer und ihrer Verzweiflung nicht mehr um ihn kümmern konnte. Nun ist der Kleine aber wieder bei ihr – und Thomas spürt eine Leere in sich, durch die er bald sogar die Beziehung zu Oscar infrage stellt. Haben sie überhaupt die gleichen Ziele und Vorstellungen? Der Film zeigt zum einen universelle Probleme in Liebesbeziehungen, die immer wieder verhandelt werden, ob im wahren Leben oder im Kino: Wie sehr darf der Job das Private bestimmen? Wer soll sich bei wichtigen Entscheidungen den Wünschen des Gegenübers fügen? Und ab welchem Punkt sind Differenzen unüberbrückbar, sodass nur noch eine Trennung sinnvoll erscheint?

Zum anderen betrachtet „The Mattachine Family“ jedoch auch Konflikte, die vor allem queere Menschen betreffen. So besuchen Thomas und Oscar in einer Sequenz eine Galerie, in der Fotografien des Künstlers Robert Mapplethorpe ausgestellt sind. Oscar empfindet die Bilder, die zum Teil BDSM-Szenen präsentieren, als anstößig, da sie der (Mehrheits-)Gesellschaft den Eindruck vermitteln könnten, dass alle schwulen Männer zu Fetischen und zu sexuellen Ausschweifungen neigen. Thomas sieht in den Motiven hingegen ein Befreiungspotenzial. Die Diskussion, die das Paar hier führt, ist nicht einfach eine kleine Meinungsverschiedenheit über Kunst, sondern verrät einiges über die Art, wie die beiden jeweils ihr Leben gestalten wollen – wie sie von anderen (nicht) gesehen werden möchten und welche Bedeutung diese Außenwahrnehmung für sie hat.

Mattachine Family

Bild. Salzgeber

Neben der Paardynamik befassen sich das Skript und die Inszenierung intensiv mit dem Kreis der Freund:innen um Thomas und Oscar herum. In etlichen Filmen dienen diese Rollen als Stichwortgeber:innen, um den Plot voranzutreiben oder um die Konflikte der Held:innen im Positiven oder im Negativen zu spiegeln. Häufig wirken sie dann nicht so, als hätten sie ein eigenes Leben außerhalb der Geschichte der Hauptfiguren. In „The Mattachine Family“ sind sie allerdings ein wesentlicher Teil des Ganzen. Der Filmtitel verweist auf die „Mattachine Society“: die erste Organisation in den Vereinigten Staaten, die sich für die Rechte von Schwulen einsetzte und eine Reihe von Diensten und Beratungen anbot. Der Gemeinschaftsgedanke dieser Organisation wird hier übertragen auf den Wert, der dem Netzwerk von Unterstützer:innen der zwei Protagonisten zukommt – sie sind hier viel mehr als bloßes Nebenpersonal.

Thomas’ beste Freundin Leah und deren Lebenspartnerin Sonia zum Beispiel haben auch eigene Sorgen; sie schleppen ebenso Unverarbeitetes aus ihrer Vergangenheit mit sich herum. Selbst Laura, die Betreuerin, die mit Thomas ein sogenanntes „Ausstiegsgespräch“ führt, nachdem der kleine Arthur zurück zu seiner leiblichen Mutter gebracht wurde, erhält einen komplexen biografischen Hintergrund. Und auch Annie, eine von Heather Matarazzo („Willkommen im Tollhaus“) verkörperte Bekannte von Leah, ist trotz ihrer leicht überdrehten Art keine eindimensionale Karikatur: Als lesbischer Single (und Influencerin) hat sie mit dem schwulen Ted eine Wohngemeinschaft gegründet, um gemeinsam ein Kind großzuziehen.

Mattachine Family

Bild: Salzgeber

Wir sehen die Figuren bei Spaziergängen durch Los Angeles, beim Sport, beim ausgelassenen Scharadespiel, beim Picknick und bei intimen Gesprächen. Es gibt zahlreiche sehr schöne, zärtliche Blicke untereinander, „The Mattachine Family“ ist ein Film voller Liebe und Wärme. In seiner charaktergetriebenen Erzählweise erinnert er an das US-Indie-Kino der 1990er und frühen 2000er Jahre – an das Werk von Edward Burns, Lisa Cholodenko oder Nicole Holofcener. In knapp 100 Minuten gelingt es „The Mattachine Family“, ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht zu zeichnen, für das Ensembleserien wie „Queer as Folk“ (1999-2005) oder „The L Word“ (2004-2009) mehrere Staffeln brauchten.

Der Cast, dessen Mitglieder aus Serien wie „Younger“ (2015-2021), „Fuller House“ (2016-2020), „Schitt’s Creek“ (2015-2020) und „Single Parents“ (2018-2020) bekannt sind, entwickelt eine derart einnehmende Chemie miteinander, dass wir sofort glauben, dass diese Figuren einander alles bedeuten und vollkommen vertrauen. Es wird spürbar, dass es absolut keine Selbstverständlichkeit ist, solche Menschen zu finden – und wie großartig es sich anfühlt, von ihnen unterstützt, aufgefangen, inspiriert und vor allem ohne Einschränkung geliebt zu werden.




The Mattachine Family
von Andy Vallentine
US 2023, 99 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT

Im Juni in der Queerfilmnacht