Dem Himmel so fern (2002)
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Die Lügen und Geheimnisse hinter der perfekten Fassade einer Vorstadt-Ehe in den USA der Fünfziger Jahre: In „Dem Himmel so fern“ aus dem Jahr 2002 lässt Todd Haynes sein Schauspieler:innen-Paar aus Julianne Moore und Dennis Quaid an ihren Sehnsüchten fast zerbrechen – und beschwört den Geist des großen Melodramatikers Douglas Sirk herauf. Sissy-Autor Philipp Stadelmeier hat sich in dieser „Bilderbuchwelt aus Rot-, Gelb- und Kastanientönen“ noch einmal für uns umgesehen.

Bild: Alive
Von einem Himmel zum nächsten
Wir leben nicht selten in Lücken, die uns andere hinterlassen haben, in unerfüllten Träumen unserer Vorgänger:innen, in unrealisierten oder unrealisierbaren Möglichkeiten der Vergangenheit. Die Suche nach einem Glück, das schon andere gesucht hatten, und das erneut aufscheint, um sich erneut (nur anders) zu entziehen: Darin besteht die sehnsuchtsvolle Dynamik von Todd Haynes „Dem Himmel so fern“, diesem Melodram aus dem Jahr 2002, das einen Teil seiner Sehnsucht daher bezieht, dass es ein postmodernes Pastiche, eine Imitation, eine Neuauflage eines alten sehnsuchtsvollen Melodrams ist: „Was der Himmel erlaubt“ von Douglas Sirk aus dem Jahr 1955.
Diese „Lücke“, die Sirk hinterlassen hat und die Haynes zu Beginn unseres Jahrtausends erneut erkundet, ist eine doppelte. Zum einen handelt es sich um eine unerfüllt gebliebene Liebe in einer amerikanischen Kleinstadt der Fünfzigerjahre. In Sirks Film ging es um die kürzlich verwitwete Cary Scott (Jane Wyman). Sie lebt allein in ihrem großen Haus, die Kinder gehen aufs College. Sie kriegt Avancen von reifen Männern aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Nur verliebt sie sich in ihren sehr viel jüngeren Gärtner, gespielt von Rock Hudson. Die beiden kommen sich näher und verursachen einen Skandal. Freund:innen wenden sich ab, sogar die eigenen Kinder. Für einige Zeit scheint es, als müssten die Liebenden auf ihre Liebe verzichten. Bis es am Ende doch anders ausgeht. Die Genialität des kitschigen wie beißend-ironischen Schlusses, in dem ein Reh eine Rolle spielt, besteht darin zu zeigen, dass es so, wie es am Schluss kommt, vielleicht doch nicht kommt – oder eben „nur im Märchen“.

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Die Geschichte dieser – unerfüllten – Sehnsucht wird von Haynes aufgenommen und variiert. Auch hier steht eine Frau im Zentrum, Cathy Whitacker (Julianne Moore). Sie lebt mit ihrem Mann Frank (Dennis Quaid) und ihren Kindern in einer idyllischen Kleinstadt namens Hartford. Die Autos sind riesig, die Röcke lang, die Farben prächtig. Doch die Ehe der Whitackers ist unglücklich, beide sind einsam und sehnen sich nach mehr. Cathy verliebt sich in ihren Schwarzen Gärtner Raymond (Dennis Haysbert) – ein Affront. Frank wiederum fühlt sich zu Männern hingezogen. Eines Nachts erwischt Cathy ihren Mann im Büro mit einem Liebhaber. Um die Ehe zu retten, begibt sich Frank in psychiatrische Behandlung: Homosexualität gilt in dieser Gesellschaft als Krankheit, die geheilt werden muss. Cathy und Frank versuchen es erneut. Doch dann lernt er einen neuen Mann kennen. Am Ende scheitert die Ehe. Doch jene, mit denen Frank und Cathy eigentlich zusammen sein wollen, sind Menschen, mit denen sie nicht sein dürfen.
Bei Sirk spielte Hudson, der selbst homosexuell war, einen gesellschaftlichen Außenseiter, der sich um die bürgerlichen Gepflogenheiten der Kleinstadtgesellschaft nicht scherte und, wie Henry David Thoreau, im Wald hauste. Aber Hudson war weiß und seine Filmfigur natürlich hetero. Wenn nun also die erste Lücke, die Sirk ließ, jene der unerfüllten Sehnsucht war, dann ist die zweite eine soziale: die Unterrepräsentation von queeren und Schwarzen Personen in Hollywoodfilmen der Fünfzigerjahre. Bereits „Was der Himmel erlaubt“ handelte von Anpassungsdruck, Bigotterie und Klatschsucht; in „Solange es Menschen gibt“ (1959) kommt auch Rassismus dazu. Wie in diesem späteren Sirk-Film gibt es auch bei Haynes eine Schwarze Haushälterin, hier gespielt von Viola Davis.

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Doch in Sirks Zeit wäre es undenkbar gewesen, die Liebesbeziehung zwischen einer weißen Frau und einem Schwarzen Mann darzustellen, oder auch Homosexualität direkt zu repräsentieren. Es gibt bei Sirk eine wunderbare Szene mit Wyman und Hudson im Auto, in dem er zu ihr sagt, sie müsse endlich „ein Mann“ werden, um ihr eigenes Leben zu leben und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ob er wirklich wolle, dass sie ein Mann sei, scherzt Cary (Wyman). Und Hudson entgegnet mit einem vieldeutigen Lächeln: Natürlich nur in diesem einen Sinne.
Was dank Hudsons Subtilität und Sirks Ironie filigran „zwischen den Zeilen“ stand oder dort hineingelesen werden konnte, wird von Haynes zu einem späteren Zeitpunkt explizit gemacht: Die soziale Lücke wird gefüllt. Aber dabei bleibt eine andere, melodramatische. Ein halbes Jahrhundert später mag Haynes zwar die Welt der Fünfzigerjahre um Homosexualität und Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Hautfarben ergänzen können. Doch das Glück der Figuren bleibt deswegen noch lange nicht realisierbar. Die Lücke wird nicht wirklich geschlossen, die Vergangenheit nicht wirklich erlöst. Was bleibt, sind die Sehnsucht und einmal mehr ein Mangel.
Mit diesem Mangel restauriert Haynes die gesamte Bilderwelt von Douglas Sirk, seine Stoffe, Lichter und Farben. Vor allem das Herbstlaub aus Sirks prächtigem Technicolor-Film, in dem sich die Jahreszeiten abwechseln, lässt auch Haynes durch seinen Film wehen – eine Bilderbuchwelt, eine Kleinstadtidylle aus Rot-, Gelb- und Kastanientönen. Gerade diese wunderschönen und doch schon sterbenden Blätter sind das Zeichen einer Restauration dessen, was beinahe verwelkt ist: Während sich bei Sirk die Jahreszeiten ändern, halten sich die Blätter bei Haynes ganz lang. Und mit ihnen erhält sich der ganze Kosmos der Fünfzigerjahre.

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Hier spielt sich alles im Verborgenen ab, auch für die Zuschauer:innen des Films. Zentrale Ereignisse – wie Franks Begegnungen mit anderen Männern – werden nur kurz angerissen, angedeutet und ausgespart. Dasselbe gilt für die Begegnungen zwischen Cathy und Raymond, in denen nichts passiert, was über eine kurze Berührung oder eine Hand auf der Schulter hinausginge. Über Sex („und, wie oft müsst ihr mit euren Männern ins Bett steigen?“) reden Cathy und ihre Freundinnen höchstens beim Daiquiri-Kränzchen. Und wenn Cathy ihren Mann im Büro erwischt (er muss mal wieder „länger arbeiten“), geht alles sehr rasch – eine schnelle, schiefe Einstellung genügt, um zu zeigen, dass die Dinge ins Rutschen geraten. Dann sind die Eheleute auch schon zu Hause, in ihrem Wohnzimmer, mit viel Distanz zwischen sich. Und ohne wirklich zu thematisieren, was gerade passiert ist.
Auch in dieser Hinsicht belässt Haynes eine Lücke, erhält die Diskretion des alten Melodrams – das bezüglich seiner expressiven, erotisierenden Ästhetik im Übrigen sehr viel weniger brav ist als der Film von Haynes. Es gibt in diesem Film das enorme Bedürfnis, nichts zu stören, als wolle er nichts sein als eine Spiegelung und Wiederholung von Sirk. Doch genau durch diese Wiederholung ändert sich alles. Reflexionen im Spiegel gibt es schon bei Sirk: diese wertvollen Momente, in denen eine Familie im Spiegel erscheint, als sei sie in diesem Bild zum letzten Mal vereint – denn das Spiegelbild ist nie die Realität, sondern nur ihre Illusion, ihr Verlust. Oder die Momente, in denen sich jemand in seiner Einsamkeit erkennt, wie Cary Scott in der Scheibe ihres Fernsehapparates, den sie zu Weihnachten bekommt – eine umwerfende Szene. Die Erscheinung eines Bildes im Spiegel ist bei Sirk stets ein Moment, der die Figuren erkennen lässt, was vergangen oder nie gewesen ist, verschwunden oder nie präsent war.
Diesen melancholischen Moment restauriert Haynes und bewahrt ihn, indem er daraus das zentrale Bild seines Filmes macht. Und wenn es bei ihm kaum Spiegel gibt, dann weil sein Film selbst einer ist. Die Figuren leben nicht mehr im Inneren des Lichtes und der Farben, also in romantischen und immer schon gebrochenen Vorstellungen. Sie leben im „Außen“ dieses alten und nunmehr gespiegelten Sirk’schen Melodrams, das zu einer mediatisierten Welt geworden ist – glatt, intakt und unbewohnbar. Diese Welt ist eine überzeichnete Vorzeigewelt, eine künstliche Werbewelt, reine Fassade: Frank ist Werbefachmann, er und seine Frau sind sogar Figuren einer von ihm entworfenen Kampagne („Mr. & Mrs Magnatech“), während Cathy der Star eines Hausfrauenmagazins ist, für das sie von einer aufdringlichen Journalistin ständig fotografiert wird.

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Für Frank und Cathy gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu diesem unbewohnbaren Habitat zu verhalten: bleiben oder gehen. Begleitet von der Frage, ob es in den Fünfzigerjahren wohl eher möglich war, als Mann die eigene Homosexualität auszuleben oder als weiße Frau einen Schwarzen Liebhaber zu haben. Was Frank betrifft, so wird er die schreckliche „Konversionstherapie“ abbrechen und Hartford verlassen, in den Armen eines jungen Mannes. Letztlich steht er zu sich, aber dem Aufbruch haftet etwas Ambivalentes an. Was auf ihn wartet, ist ein Leben und Lieben im Verborgenen, ohne Haus, Job und Familie, in schummrigen Hotelzimmern und Pensionen. Glück oder Unglück wird er anderswo finden. Aber wo? Man denkt an William Lee, diese andere schwule US-amerikanische Figur der Fünfzigerjahre, den es in Luca Guadagninos Burroughs-Verfilmung „Queer“ (2024) nach Mexiko verschlägt.
Im Gegensatz zu Frank wird Cathy nirgendwohin aufbrechen, während ihre Liebe wahrhaft unmöglich scheint. Und doch gibt es auch hier einen Schritt nach außen, den nicht sie selbst, sondern Raymond macht. Bei einer Ausstellung moderner Kunst betrachtet und kommentiert er gemeinsam mit Cathy und unter den pikierten Blicken der weißen Kleinstadtgesellschaft ein Gemälde von Miró: Moderne Kunst, sagt er sinngemäß, überführe den sakralen Charakter der alten Malerei in Formen und Farben. Spricht er da nicht auch über das Verhältnis von Haynes Film zu jenem von Sirk? Aber war nicht schon Sirks Film ein modernes Kunstwerk, dessen Emotion weniger seiner etwas kitschigen Handlung und den „sakralen“ gesellschaftlichen Riten als seiner Form und Farbe entsprang?
Raymond ist derjenige, der außerhalb steht – der weißen Gesellschaft und am Ende auch der Schwarzen Community. Angesichts der Vorurteile bleibt er ruhig, sieht zu und kommentiert, sieht Miró richtig und spricht seinen Namen korrekt aus, im Gegensatz zu Cathy. Er bietet einer verzweifelten Cathy seine Hilfe an, er versteht, was mit ihnen passiert, und kann gleichzeitig nicht verstehen, warum ihnen das alles passieren muss. Er ist eine Figur von heute, eine moderne Figur, der wir glauben. Wie er selbst sagt: „Manchmal vertrauen wir den Menschen außerhalb unserer Welt am meisten.“
Dem Himmel so fern
von Todd Haynes
USA 2002, 107 Minuten, FSK 6,
deutsche SF und englische OF mit deutschen UT
Als DVD und VoD