Supernova

Trailer Kino

Jetzt im Kino: Im Drama „Supernova“ von Harry Macqueen spielen die Hollywood-Stars Colin Firth und Stanley Tucci ein Paar auf einem Roadtrip durch den nordwestenglischen Nationalpark Lake District, das im Angesicht einer Demenzerkrankung mit den großen Fragen der menschlichen Existenz konfrontiert wird. Christian Lütjens berichtet von einer ergreifenden Filmerfahrung – und fragt sich, wie queer „Supernova“ eigentlich ist.

Foto: Weltkino

Große Oper der leisen Töne

von Christian Lütjens

Wenn Colin Firth am Ende von „Supernova“ auf einem Konzertpodium am Flügel sitzt und Edward Elgars Liebessonate „Salut d’Amour“ anstimmt, weiß das Kinopublikum, dass er (beziehungsweise Sam, die Figur, die er darstellt) das Stück vor Publikum spielt, also dass ihm im Dunkel jenseits der Bühne eine große Zahl von Menschen zuhört und zusieht. Es ist die erste Sequenz, in der Sam die Sphäre des Privaten verlässt und einer größeren Öffentlichkeit gegenübertritt. Trotzdem ist sie der einsamste Moment des Films. Nicht weil das Publikum im Schatten sitzt oder das Stück als Pianosolo gegeben wird. Auch nicht, weil man weiß, dass das Konzert eine Bewährungsprobe ist, bei der sich der aus der Übung geratene Pianist selbst beweisen will, ob er noch für Live-Auftritte taugt. Nein, die große Einsamkeit resultiert aus der Gewissheit, dass Tusker, Sams Lebenspartner, bei dem Konzert nicht anwesend ist. Und dass er es wahrscheinlich auch danach nie wieder sein wird. Obwohl er in jedem der sanften Klaviertöne gegenwärtig scheint. Aber das ist es ja gerade, was die Szene so herzzerreißend einsam macht.

Klingt nicht nach Happy End und es ist auch keins. Aber „Supernova“ an solchen Kategorien zu messen wäre sowieso verfehlt. Zwar erzählt der Film exakt und feinfühlig eine konsistente Geschichte, aber er spekuliert nie auf Pointen oder Effekte. Stattdessen wirft er mit jeder dramaturgischen Wendung, die der Plot im Lauf der kompakten 90 Filmminuten nimmt, neue Fragen auf – Fragen über die Unberechenbarkeit eines scheinbar berechenbaren Daseins, über die Fremdheit im Vertrauten, über die Grenzen von Nähe, über die Liebe, das Leben und den Tod. Grundlegende Fragen also, für die Sam und Tusker, beziehungsweise ihre Partnerschaft und deren Entwicklung, gerade deshalb als ideale Projektionsfläche dienen, weil sie eben nicht darauf abzielen, konventionellen Erzählmustern zu entsprechen. Vielmehr ergibt sich die Faszination beim Zuschauen aus der Reduktion; aus einer sensiblen und eleganten Dramatisierung des Alltäglichen, das im Zuge der inszenatorischen Ruhe eine höhere Bedeutsamkeit und Würde bekommt.

„Supernova“ ist das Ergebnis einer mehrere Jahre andauernden Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild Demenz, der sich „Hinterland“-Regisseur Harry Macqueen infolge zweier Vorfälle in seinem privaten Umfeld ausgesetzt hat. Der Film erzählt von einem Wohnmobil-Trip, den Sam und sein an einem Frühstadium von Demenz erkrankter Partner Tusker durch den nordwestenglischen Nationalpark Lake District unternehmen. Sam ist Konzertpianist, Tusker Schriftsteller, sie sind einander nah, aber autonome Individuen, ihre Beziehung ist eine Institution. Während der Reise wird die Eingespieltheit des Paares immer wieder von Tuskers krankheitsbedingten Aussetzern auf die Probe gestellt – von harmlosen sprachlichen Blackouts bis zu seinem plötzlichen Verschwinden, nach dem Sam ihn orientierungslos in der Landschaft stehend wiederfindet und erst wieder in die Realität zurückholen muss, die für das Paar lange eine feste Größe war, auf die infolge der Krankheit aber immer weniger Verlass ist.

Die Entfremdungsepisoden stehen im deutlichen Gegensatz zum unverkrampften Duktus der klaren, im wörtlichen Sinne ungetrübten Momente des Beziehungslebens. Dort herrscht die über Jahre gewachsene Vertrautheit einer Partnerschaft vor, deren Beteiligte einander so gut kennen, dass sie einerseits offen über alles (auch über die Demenz) sprechen können, sich meist aber auch ohne Worte verstehen. Die Dynamik dieses Verhältnisses wird von Tucci und Firth (die im wahren Leben gut befreundet sind) mit einer Zartheit herausgespielt, die nicht nur Erläuterungen über die Hintergründe der Beziehung überflüssig macht, sondern auch den Rhythmus des Films vorgibt oder, wenn man so will, sein Herzschlag ist. Allerdings ist auch klar, dass Tuskers Demenz diesen Herzschlag immer mehr aus dem Takt bringt. Die Krankheit entfernt die beiden Männer voneinander, indem sie Sicherheiten aushebelt und neue, dunkle Geheimnisse zutage fördert. Im Rahmen eines Zwischenstopps bei Sams Familie kommt unerwartet das ultimative dieser Geheimnisse heraus. Sam kommt dahinter, dass Tusker den Roadtrip durch die Provinz als Reise ohne Wiederkehr geplant hat; dass er sich nach dem Familienbesuch selbst umbringen will; mit Medikamenten, die er online bestellt und mitgebracht hat; am einzigen Abend des Trips, an dem Sam nicht an seiner Seite sein wird, weil der an diesem Abend ein Konzert geben wird, in dem unter anderem Edward Elgars „Salut d’Amour“ auf dem Programm steht …

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Das letzte Filmdrittel beschäftigt sich mit den Folgen des geplatzten Geheimnisses, also damit, wie das Paar Tuskers Selbstmordplan diskutiert. Ein Prozess, der viele Tränen und viel Kraft kostet, aber für Sam auch eine Gelegenheit ist, die Endgültigkeit der Entscheidung auf Augenhöhe zu verhandeln, vielleicht zu verstehen, und damit ein Stück der früheren Gleichberechtigung der Beziehung wieder herzustellen. Es ist beeindruckend, wie Harry Macqueen, der auch das Drehbuch zu „Supernova“ schrieb, es schafft, im Zuge dessen alle zuvor gezeigten Nebensächlichkeiten mit Sinn aufzuladen und die sorgfältig gezeichneten Charaktere dafür zu nutzen, eine zwar emotionale, aber dennoch reife und undogmatische Debatte über das kontroverse Thema Recht auf Suizid zu skizzieren. Dadurch dass nebenbei grundlegende Fragen über die Chancen und Grenzen der Autonomie innerhalb von Beziehungen angerissen werden, hat der Diskurs zudem eine Allgemeingültigkeit, die über das kontroverse Thema hinausgeht. Dass all das anhand eines schwulen Paars verhandelt wird, war laut Presseheft schon in der frühen Phase der Drehbuchentwicklung klar. Macqueen sagt: „Dies ist eine Geschichte über die Universalität der Liebe Es fühlte sich wichtig an, sich auf die Erfahrungen zu konzentrieren, die die beiden Figuren im Kontext ihrer gleichgeschlechtlichen Beziehung machen, und die Sexualität dabei komplett bedeutungslos sein zu lassen. Ich wollte normalisieren, was eine ganz natürliche und normale Sache ist, denn ich glaube, das wird im Kino nicht oft genug getan.”

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Womit die nicht ganz einfach zu beantwortende Frage im Raum steht, wie queer „Supernova“ eigentlich ist. In Anbetracht der Tatsache, dass es ein Mainstream-Film mit zwei Hollywood-Stars in den Hauptrollen ist, mag die (in diesem Fall nicht zwangsläufige) Entscheidung, die Geschichte über ein schwules Paar zu erzählen keine Selbstverständlichkeit sein. Andererseits gab es in sozialen Netzwerken nach der Weltpremiere beim San Sebastian Film Festival im Oktober 2020 auch die derzeit gängige Kritik, dass mit Firth und Tucci beide Hauptrollen mit Schauspielern besetzt wurden, die privat bislang nur heterosexuelle Beziehungen hatten. Oberflächlich betrachtet sind der Film und seine Geschichte tatsächlich nicht besonders queer. Es geht nicht um Befreiungsschläge, die sich auf die sexuelle Orientierung beziehen, Diskriminierungserfahrungen kommen weder direkt noch indirekt vor, beim Familienbesuch wird Befremden mit dem schwulen Paar nicht mal angedeutet.

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Realitätsferne Friede-Freude-Eierkuchen-Romantik also? Nein. Es ist eine legitime Deutung der Langzeitbeziehung, dass Tusker und Sam nicht nur aufeinander eingespielt sind, sondern sich auch mit ihrem Umfeld in einer Weise arrangiert haben, die Rechtfertigungen und Verteidigungen ihres Lebensentwurfs erübrigt. Dass ihre Zärtlichkeit sich nicht in demonstrativen Gesten und Zuneigungsbekundungen artikuliert, sondern in beiläufigen Berührungen, Blicken und Bemerkungen ist kein Ausdruck von Leugnung oder Verklemmtheit, sondern dem Alter und dem Verhältnis der Charaktere geschuldet und damit Teil einer stimmigen Gesamterzählung. „Supernova“ ist kein Film, der von akuten Identitätsfragen und deren Folgen handelt, sondern von existenziellen Konflikten, im Angesicht derer das, was Menschen sind, waren oder sein wollen, bedeutungslos wird, weil es dabei um das Sein als solches geht. Mit anderen Worten: „Supernova“ ist große Oper der leisen Töne – meditativ, wahrhaftig, erschütternd. Bezeichnend für die Subtilität des Films ist der Titel. Eine Supernova ist das kurze Aufflammen eines sterbenden Sterns, kurz bevor er verglüht – eine Metapher für Tusker, die im Film durch dessen Leidenschaft für Astrologie und einige Szenen, in denen die Betrachtung der Gestirne am Nachthimmel eine Rolle spielt, gespiegelt wird, nicht aber durch die Thematisierung tatsächlicher Sternexplosionen. Zurückhaltungen wie diese sind es, die den Film neben den schönen Bildern der englischen Landschaft, den tollen Hauptdarstellern, der universellen Thematik und der bei aller Schwere durchgehaltenen erzählerischen Leichtigkeit so sehenswert und am Ende selbst zur Supernova des Kinoherbsts machen.

 



Supernova
von Harry Macqueen
UK 2020, 95 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT und DF,
Weltkino

Ab 14. Oktober im Kino.

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