Holding the Man

Trailer

Endlich hat auch Australien ein großes Period-Piece, das von den Folgen von HIV/Aids in seinen ersten, verheerendsten Jahren erzählt. „Holding the Man“ basiert auf der gleichnamigen Autobiografie des Schauspielers, Autors und Aktivisten Timothy Conigrave, der 1994 im Alter von nur 34 Jahren an Aids starb – zwei Jahre nach dem Tod seines langjährigen Partners John Caleo. Neil Armfields Adaption des Buchs ist nicht nur ein Zeitstück, sondern auch ein zeitloses Liebesdrama. Die persönliche Tragödie eines Paares wird darin zu einer politischen Geste, die zu Tränen rührt.

Foto: Pro-Fun

Sich erinnern, an alles

von Christian Weber

„It’s because I love you,
not because we’re far apart.
It’s because I love you
and because you’re near my heart.“

(„It’s Because I Love You“, The Masters Apprentices)

 

Ein Küstenstädtchen auf Lipari. Ein junger Mann hetzt aus einem Haus, sucht nach einem Telefon. In einer Gasse findet er endlich eins, kramt nach einer Nummer, dreht atemlos die Wählscheibe. Eine Freundin meldet sich, Pepe. „Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo er saß!“, ruft Tim in den Hörer. Er meint seinen Freund John. Wo am Tisch saß er bei ihrem ersten gemeinsamen Abendessen vor über 15 Jahren, bei dem auch Pepe dabei war? Tim kann sich noch an die Minze in den Drinks erinnern, an die Farbe von Pepes Kleid, aber nicht mehr, wo John saß! Er hat panische Angst, es zu vergessen. Ehe Pepe antworten kann, bricht die Verbindung ab.

Timothy Conigrave hat mit „Holding the Man“ (1995) ein Buch gegen das eigene Vergessen geschrieben – und gegen das aller Nachgeborenen, die Aids in seiner furchtbaren Anfangszeit nicht erlebt haben. Er und sein Partner John Caleo, mit dem er seit der Schulzeit zusammen war, erhalten 1985 die gemeinsame HIV-Diagnose. Als Caleo 1991 schwer erkrankt, pflegt ihn Conigrave bis zu dessen Tod im Januar 1992. Er selbst stirbt zwei Jahre später. Nur 10 Tage vor seinem Tod kann Conigrave die Arbeit an seiner Autobiographie beenden. „Holding the Man“ wird 1995 in Australien ein Bestseller, in mehrere Sprachen übersetzt und 2007 in ein vielfach ausgezeichnetes Theaterstück übertragen.

Neil Armfields Verfilmung des Buchs erzählt die Geschichte in weitgehend chronologischer Ordnung: wie sich Tim, der Jungschauspieler, und John, der Kapitän des Footballteams, im Alter von 16 Jahren in einer Melbourner Jesuitenschule kennenlernen und ineinander verlieben; wie sie bei Mitschülern und in ihren Familien um ihre Liebe kämpfen müssen; wie sie auf dem College eine Zeit der Befreiung erleben, sich aber auch fragen müssen, wie offen sie ihre Beziehung gestalten wollen; wie sie sich zwischenzeitlich trennen, als Tim nach Sidney zieht, um dort ein Schauspielstudium zu beginnen; wie sie wieder zueinander finden und kurz darauf ihre Diagnosen erhalten; und wie sich Tim liebevoll um John kümmert, als dieser als erster erkrankt.

Es ist eine Geschichte, wie sie so ähnlich viele junge Schwule in Australien, Nordamerika und Europa erlebt haben, als auf die homosexuelle Emanzipation der 70er Jahre ab Mitte der 80er eine Katastrophe namens Aids folgte und die gerade erst errungenen Freiheiten wieder in Frage stellte. „Holding the Man“ will in diesem Sinne zeigen, wie es damals war. Nach den USA („Engel in Amerika“, 2003; „The Normal Heart“, 2014), Großbritannien („The Line of Beauty“, 2006), Frankreich („Die Zeugen“, 2007) und Schweden („Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“, 2012) hat damit auch Australien endlich ein großes Aids-Period-Piece.

Wie all diese jüngeren Diskurs-Filme hat „Holding the Man“ eine andere Perspektive auf die Krankheit als noch die Filme des New Queer Cinema, die um 1990 erstmals im bedeutsamen Ausmaß progressive Bilder von Schwulen, Lesben und anderen sexuellen Minderheiten auf die große Leinwand brachten. Zu einer Zeit, in der es in den Massenmedien nur wenig verlässliche Informationen über die Krankheit und quasi keine Repräsentation queerer Lebensentwürfe gab, ging es den FilmemacherInnen damals darum, ganz unmittelbar aufmerksam zu machen auf HIV/Aids, Sichtbarkeit zu schaffen, wachzurütteln. Regisseure wie Todd Haynes („Poison“, 1991), Gregg Araki („The Living End“, 1992), John Greyson („Zero Patient“, 1993) oder Derek Jarman („Blue“, 1993) mussten Aids zeigen, wie es ist, nicht wie es war.

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Seitdem die Krankheit ihren größten Schrecken verloren hat, treibt RegisseurInnen nicht mehr die akute Notwendigkeit des Sichtbarmachens, sondern der Wunsch, Räume der Erinnerung zu schaffen. Während das New Queer Cinema der zersetzenden Erfahrung von Aids mit einer Zersetzung etablierter filmischer Formen begegnete und systematisch Chronologien und ganze Genres dekonstruierte, werden bewährte Formen mittlerweile als legitime Mittel angesehen, um ein breites Publikum für die eigenen Geschichte zu finden. Mit einer Filmsprache, die ohne Scham auf emotionale Rührung abzielt, knüpfen die heutigen Period-Pieces an eine Reihe von Aids-Filmen an, die vor und parallel zum New Queer Cinema in Hollywood entstanden sind und ihre affektiven Tendenzen schon in den Titeln vermitteln: „Früher Frost“, „Buddies“ (beide 1985), „Abschiedsblicke“ (1986), „Freundschaft fürs Leben“ (1989), „…und das Leben geht weiter“ (1993).

Wie in diesen Filmen hat auch in „Holding the Man“ die persönliche Geschichte der Hauptfiguren exemplarischen Charakter. Conigraves private, zum teils höchst intime Erinnerungen werden auf ihren zeitgeschichtlichen Gehalt konzentriert und dramaturgisch verdichtet. Das Besondere an „Holding the Man“ ist, dass der Film dabei nicht nur von Krankheit und Tod erzählt, sondern auch von der kontinuierlichen Selbster­mächtigung einer großen Liebe.

Geführt von einer melodramatischen Formsprache entwickelt Armfield Tims und Johns Emanzipation vor allem in drei Offenbarungsmomenten. Beim ersten sitzen die beiden ihrem Lehrer gegenüber, einem Jesuitenpriester, der zuvor einen ihrer Liebesbriefe entdeckt hat. Die Beziehung droht das Gespräch der ganzen Schule zu werden. Es ist das erste Mal, dass die beiden ihre Liebe ganz direkt nach außen verteidigen müssen. Das Gespräch ist inszeniert wie ein Duell: auf der einen Seite des Schreibtischs das liebende Paar, auf der anderen der Priester, über sich ein Kruzifix. Der Büroraum ist düster und eng, er wirkt wie ein Gefängnis. John, Sohn streng katholischer Einwanderer aus Italien, ist sichtbar verängstigt. Tim, ungleich selbstbewusster, schon jetzt bereit für die Konfrontation. Doch der Priester spricht überraschenderweise keine Strafe aus, er verbietet nicht einmal etwas. Stattdessen gibt er einen geradezu prophetischen Rat: Nicht alle sind euch wohlgesonnen, behaltet eure Liebe daher noch heute für euch! Die Zukunft wird andere, gewichtigere Kämpfe bereithalten, und um diese zu kämpfen, bedarf es gebildeter Männer. Gefährdet nicht eure Bildung! Zeigt euch, aber noch nicht jetzt! Die Liebe zwischen Tim und John wird zum Politikum.

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Lange ist der ambivalente Rat des Priesters aber nicht zu halten. Als Tims Eltern von der Beziehung zu John erfahren, stellen sie ihren Sohn zur Rede. Ein zweites Duell: Tim sitzt seinen Eltern mit verschränkten Armen am Küchentisch gegenüber. Vater und Mutter, sichtlich überfordert, nippen nervös an ihren Weingläsern. Die Mutter kündigt Tim ein einsames und trauriges Leben an. Er darf John nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihm telefonieren. Tim aber fügt sich nicht, seine Reaktion ist furios: Er wirft seinen Eltern Verrat vor, weil sie nicht zu ihm halten, türmt mit dem Fahrrad und brennt noch in der selben Nacht mit John durch. Der Soundtrack der Befreiung kommt von Jimmy Sommerville und Marc Almond, den schwulen Pop-Ikonen der 80er: „Oh, I feel love!“ Der gefühlseinschränkende Bann scheint nun endgültig gebrochen.

Dann kommt die Diagnose und Tims drittes, schwierigstes Coming-out. Diesmal sitzt er seiner Mutter nicht gegenüber, sondern steht in der Küche neben ihr. Häppchen müssen gemacht werden für den nächsten Tag, an dem die Schwester heiraten soll. Tim will mit dem Gespräch eigentlich bis nach der Hochzeit warten, doch die Mutter hat bereits eine Ahnung. Die Kamera fährt langsam an die beiden heran. Ein Blickwechsel. Close-ups auf die Gesichter. Gewissheit. Die Mutter will Distanz wahren, als habe sie schon lange zuvor beschlossen, sich um ihren Sohn keine Sorgen mehr machen zu können. Aber in diesem Moment schafft sie das nicht. Auf der Hochzeit am nächsten Tag werden Tims Eltern ihrem Sohn und John einen ergreifenden Liebesbeweis machen, in dem sich die ganze sozio­historische Tragik von Aids wiederspiegeln wird: Gerade in jenem Moment, in dem ein Tanz von zwei Männern endlich selbstverständlich werden könnte, wird dieser Tanz zu einer Abschiedsgeste.

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„Holding the Man“ erzählt von der Hilflosigkeit, den irrationalen Schuldgefühlen und Ängsten, die mit Aids verknüpft sind – und von der Wut, selbst im Moment der geteilten Trauer nicht als Lebenspartner anerkannt zu werden, wie es Tim noch auf Johns Beerdigung erfährt. Er hat dabei alle Elemente, die ein gutes Period-Piece braucht: epische Erzählbögen, eigenwillige Frisuren und Kostüme, einen zeitgeistigen Soundtrack (T. Rex, Bryan Ferry), Stars in Nebenparts (Geoffrey Rush, Guy Pearce, Kerry Fox). Doch all das ist nur Staffage. Das eigentliche Spektakel des Films ist die Entschlossenheit, mit der Tim und John – in wundervoll empathischen Darstellungen der Newcomer Ryan Corr und Craig Stott – trotz aller Widrigkeiten zu ihrer Liebe stehen. Und wie sie sich in die Augen sehen. Das erste Mal, als John nach einem Sportunfall im Krankenhaus liegt und Tim ihn unerwartet besucht. Das letzte Mal, wieder in einem Krankenhaus. Und jedes Mal dazwischen.

Johns Tod kommt auch Tims Zerstörung gleich. „Du bist wie ein schwarzes Loch in meinem Leben. Was ich dort ablege, kommt nie mehr zurück. Ich vermisse Dich schrecklich“, notiert er in sein Tagebuch. Er wollte seinen Mann festhalten, aber er konnte es nicht. Nun droht ihm, mit Vorschreiten der von Aids verursachten Demenz, sogar noch die Erinnerung an den Geliebten zu entgleiten. Aber „Holding the Man“ ist bei aller Trauer auch das Dokument eines Triumphs: über jeden Zweifler an ihrer Liebe und über die Krankheit selbst. Tim kann John doch festhalten. In seinen Gedanken sitzt er noch immer neben ihm.

 



Holding the Man
von Neil Armfield
AU, 123 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT,

Pro-Fun

 

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