Sébastien Lifshitz

DVD / VoD

Mit „Les vies de Thérèse“, einem Dokumentarfilmporträt über die französische Feministin Thérèse Clerc, hat Sébastien Lifshitz im Mai beim Filmfestival in Cannes die Queer Palm gewonnen. Bis sein neuer Film bei uns zu sehen ist, wagen wir einen Blick zurück auf Lifshitz‘ vielschichtiges Spielfilmwerk, zu dem mit dem romantischen Coming-of-Age-Film „Sommer wie Winter …“ und dem Außenseiter-Drama „Wild Side“ zwei große Klassiker des Queer Cinema gehören.

Foto: Edition Salzgeber

Seine Mutter habe die Kinder ständig fotografiert, erzählt Lifshitz. Abzüge gemacht, vergrößert und die Fotos schließlich an die Wand gehängt. Aber da sie von der Fotografie geradezu besessen gewesen war, hätte ihr das nicht gereicht. Also hat sie die Fotos zerschnitten und auf einem großen Bogen Papier die Fragmente zusammengeklebt, zu Mosaiken, zu Geschichten. Die Mutter, die Fotos, die zerschnittenen Porträts, von denen man tagtäglich umgeben war. Eigentlich ist das zu schön, um wahr zu sein und es als Einleitung für das Porträt über einen queeren Filmemacher zu verwenden. Doch in unserem ersten SISSY-Dossier sind wir schamlos. Eine Passage.

Offene Herzen (1998)

Foto: Edition Salzgeber

Lifshitz ist Jahrgang 1969. Er gehört zu einer Generation französischer Filmemacher, die hierzulande kaum wahrgenommen wird: Bertrand Bonello, Noémie Lvovsky, Lætitia Masson, Ursula Meier, Gaël Morel. Die beiden einzigen bekannten neben ihm sind ausgesprochen ‚queere‘ Filmemacher, die es geschafft haben, das bürgerliche Publikum ab und zu zu verblüffen, zu bezaubern, eher spielerisch herauszufordern: François Ozon und Christoph Honoré wurden beide in jüngerer Zeit von der Kritik nicht mehr ernst genommen und als blasierte, unernste, postmoderne Spieler ‚entlarvt‘. Diese Filmemacher haben kein ausgesprochenes politisches Interesse, auf den ersten Blick kein soziales Anliegen, keine Verweigerungsradikalität im Ästhetischen. Es sind Stilisten, die mit dem Geschichtenerzählen ringen, halbwegs von staatlichen Subventionen unterstützt, ab und zu mal schockieren, aber in der Regel im cinephilen französischen Kosmos kreisen, ohne im Weltkino Spuren zu hinterlassen. Aufregend sind sie trotzdem, vor allem für Zuschauer, die Unbehagen angesichts des US-amerikanisch geprägten Identitätskinos haben. Geboren zu einer Zeit der sozialpolitischen Experimente, der letzten großen Freiheitserzählungen, zeichnen ihre Filme ein durchgängiges Problem mit den Emanzipationsgeschichten, dem kollektiven Gestaltungspathos, dem Aktionismus. Die formalen Vorbilder sind klar: die gebrochenen Helden der amerikanischen Independents, die dekonstruktivistische Philosophie, das wilde, sinnliche, ‚rekomponierende‘ Montagekino von Claire Denis, der postmoderne Genremix, das gehetzte Tempo der Téchiné-Filme. Lifshitz & Co. sind Ästheten (bekannter Vorwurf gegen schwule Künstler), ohne Dogma und Sendungsbewusstsein. Dass das Kinopublikum ihre Filme so selten, eigentlich kaum noch zu sehen bekommt, ist schade. Und die Kritik, die sie hierzulande abbekommen, ist vernichtend, unverständlich, anmaßend. Sie heißt ‚Arthouse‘.

aus „Offene Körper“ von Jan Künemund
(sissy-Besprechung zu „Sommer wie Winter …“ und Lifshitz‘ Spielfilmwerk)

Sommer wie Winter … (2000)

Foto: Edition Salzgeber

Das Queer Cinema ist das Versprechen eines Kinos, das nicht auf Identität fixiert ist. Es will seine Figuren nicht festlegen auf das Mann-Sein, Frau-Sein, Schwul-Sein, Lesbisch-Sein, Weiß-Sein, Arm-Sein, Schön-Sein. Darin keine Folie sehen, vor der etwas Melodramatisches passiert. Nicht nur dabei zusehen, wie seine Figuren Identität erlangen oder verfehlen, gegen die Welt, gegen die widrigen Umstände, auf sich allein gestellt große ‚Ich‘-Entscheidungen fällend. Obwohl das Coming-out in den meisten Filmen eine Identitätserzählung ist, die abbricht, wenn die Hauptfigur endlich ‚ich‘ sagt, und die danach scheinbar nichts mehr zu erzählen hat, ist Sébastien Lifshitz mit ‚Sommer wie Winter …‘ ein Coming-out-Film-Klassiker gelungen, der es nicht bei der Coming-out-Erzählung belässt, sondern seine Hauptfigur mit einem Reichtum an Geheimnissen und ungelösten Widersprüchen ausstattet. Schöner kann das eigentlich nicht laufen, ein 18-jähriger, gefühlskalter Junge in den Sommerferien, der einen anderen, aber gefühlvollen 18-Jährigen kennenlernt, sich durch diesen als Liebenden erfährt, sich zu den Gesten der Liebe durchringt, Verantwortung für jemand Anderen übernimmt, schließlich allen gegenüber ‚ich‘ sagt. Lifshitz fragmentiert diese Geschichte, kalte Winterbilder greifen in den Feriensommer ein, verweisen auf Verletzungen und Traurigkeiten, die passiert sind, längst nachdem Mathieu öffentlich „ich“ gesagt hat. Das Meer ist grau und unerbittlich, im kaltweißen Krankenhaus wird ihm der Magen ausgepumpt, alte Männer sitzen an der Theke der Dorfkneipe und interessieren sich nicht für ihn. Was ist passiert? Es lief doch alles gut mit der schwulen Liebe. Kaum etwas ist passiert, sagt Lifshitz, ‚presque rien‘. Er hat eben nur Ausschnitte aus dem Leben eines Teenagers gezeigt, zerschnittene Fotos, das Leben, keine schwule, männliche, bürgerliche Identität. Kontexte, in denen man das Glück eines Sommers nicht weiterglühen lassen kann, eine kranke Mutter, ein abwesender Vater, ein toter Bruder, eine neidische Schwester, eine Familie, die trauert, nicht funktioniert, trotzdem klammert, nicht loslassen kann, eigentlich nichts zu tun hat mit dem schwulen Glück von Mathieu. Wer ist Mathieu? Wir erfahren es nicht. Der Film will es nicht wissen. Ein Bogen Papier, auf dem Ausschnitte einen provisorischen Zusammenhang ergeben.

aus „Offene Körper“ von Jan Künemund

Wild Side (2003)

Foto: Edition Salzgeber

„Wild Side“ wurde 2004 auf der Berlinale uraufgeführt, mit dem Teddy-Award ausgezeichnet und von Le Monde als bester Film des Festivals gepriesen. Bis heute ist es Lifshitz‘ komplexester und stärkster Film, sein Opus magnum, das in einer Reihe steht mit den großen Außenseiterstudien anderer queerer Auteurs des Weltkinos. „Wild Side“, ein Film über drei Heimatlose, die im Pariser Rotlichtviertel zueinander finden, aber erst auf dem nordfranzösischen Land zu einer Ersatzfamilie zusammen­wachsen, ist schonungslos wie Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978), bildgewaltig wie Van Sants „My Own Private Idaho“ (1991) und verwegen wie Almodóvars „Alles über meine Mutter“ (2001).

aus „The Love of a Dead Boy“ von Christian Weber
(sissy-Besprechung zu „Wild Side“)

Plein Sud – Auf dem Weg nach Süden (2009)

Foto: Edition Salzgeber

Sam sitzt am Steuer seines alten Ford und ist auf dem Weg nach Süden. Auf dem Rücksitz ein Geschwister-Paar, Léa und Matthieu, die Sam als Anhalter mitgenommen hat. Léa liebt die Männer, Matthieu auch. Auf ihrer langen Reise werden sie sich kennen lernen, sich herausfordern, sich verlieben. Aber Sam hat ein Geheimnis, eine alte Wunde, die wieder aufgerissen ist – er hat nach langer Zeit eine Nachricht von seiner Mutter erhalten und jetzt will er sie wiedersehen.

aus Interview mit Sébastien Lifshitz zu „Plein Sud“ von Gerhard Midding

Die Unsichtbaren (2012)

Foto: Edition Salzgeber

„Die Unsichtbaren“ war der erste von zwei Dokumentarfilmen, die in einer Recherche über nicht-heterosexuelle Biografien in Frankreich. Lifshitz ist damit etwas Besonderes gelungen: Er erzählt die französische Nachkriegsgeschichte aus peripherer, aber gleichwohl vielfältig schillernder Perspektive und führt mit viel Liebe und Neugier seine Heldinnen und Helden des Alltags zu zutiefst persönlichen Aussagen. Neben überragenden Kritiken erhielt „Die Unsichtbaren“ u.a. den nationalen Filmpreis César und den Goldenen Stern des französischen Journalistenverbandes, außerdem den Gierson Award des Britischen Filminstituts.

Monsieur Lifshitz, Sie scheinen mir ein als Regisseur getarnter Historiker und Dichter zu sein, lyrischer Archäologe des alltäglich-untäglichen Nicht-Fremden, in der gewählten Tarnung ein Paradox aus all dem Unfassbaren, das wir Wesentliches, für das Auge nicht Sichtbares nennen. Vogelschreie, nacktes noch-nicht-Auge, lebendig. Zum Fliegen geboren.

aus „Fliegen Lernen“ von Biru David Binder
(sissy-Besprechung zu „Die Unsichtbaren“ und „Bambi“)

Bambi (2013)

Foto: Edition Salzgeber

Bambi, am elften November 1935 in Algerien als Jean-Pierre Pruvot geboren, trägt den Ordre des Palmes Académiques, kurz Palmes Académiques, wie sie uns beiläufig erzählt, eine der höchsten Auszeichnungen in Frankreich für Verdienste um das französische Bildungswesen. Wird mit Bambi/Marie-Pierre und in „Bambi“ aber nicht eine andere aktuelle, ganz grundlegende gesellschaftliche Tendenz zur Verunsichtbarmachung evident, die nicht mit der grundlegenden gesellschaftlichen Verunsichtbarmachung Alternder, gleich welcher sexueller Neigung, zusammenhängt? Undenkbar, so Bambi, sei doch als Prof. Marie-Pierre Ysser für die Menschen in ihrer Umgebung gewesen, sie sich als Jean-Pierre Pruvot, Travestiekünstler am Le Carousel, vorzustellen, ja, ihr bester ‚Schutz‘ sei dies gewesen. Ist das nicht aber auch ambig insofern, als eben dieser Schutz, der aus der generellen Tendenz zur Ignoranz wie Mangel an Imagination überhaupt erst ermöglicht wird, den verunsichtbarmachenden Schleier gesellschaftlicher Blindheit gegenüber der Existenz von Trans*leben offen legt?

aus „Fliegen Lernen“ von Biru David Binder




Offene Herzen
von Sébastien Lifshitz
FR 1998, 45 Minuten,
französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Sommer wie Winter …
von Sébastien Lifshitz
FR 2000, 100 Minuten,
deutsche SF und französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Wild Side
von Sébastien Lifshitz
FR 2004, 93 Minuten,
französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Plein Sud – Auf dem Weg nach Süden
von Sébastien Lifshitz
FR 2009, 87 Minuten, französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Die Unsichtbaren / Bambi
von Sébastien Lifshitz
FR 2012/13, 115/60Minuten,
französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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Die Unsichtbaren: VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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Bambi: VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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