Fucking Åmål

TrailerQueerfilmnacht

Am 26. April 2023 wird weltweit der Tag der lesbischen Sichtbarkeit gefeiert. Die Queerfilmnacht feiert nicht nur einen Tag, sondern einen ganzen Monat lang und bringt im April gleich vier Klassiker des lesbischen Kinos zurück auf die große Leinwand. sissy stellt sie Euch in den nächsten Tagen vor und legt mit Lukas Moodyssons „Fucking Åmål“ los. Es geht um Schmetterlinge im Bauch, das erste Mal und Coming-out – und all das geschieht in einem schwedischen Kaff, in dem sonst eigentlich nie was passiert. Esther Buss über einen noch immer wunderbaren Jugendfilm, der viel darüber erzählt, wie es sich Ende der 1990er Jahre angefühlt hat, als nicht-heteronormativer Mensch in der Provinz erwachsen zu werden.

Foto: Salzgeber

Girl Meets Girl

von Esther Buss

Åmål ist wirklich das Hinterletzte. Ist es endlich so weit, dass irgendein hippes Zeug – zum Beispiel: Raves! – in der schwedischen Kleinstadt angekommen ist, rutscht es in den Hochglanzmagazinen schon wieder ganz oben auf die „Out“-Liste. Fucking Åmål! Doch auch das größte Kaff hat seinen Star, eine oder einen, die oder der ein bisschen mehr funkelt und strahlt und vom Leben mehr will als das, was üblicherweise im Angebot ist (Job, Haus, Familie, Scheidung vielleicht). In Åmål ist es Elin. Das blonde „Trophy-Girl“, das Lidschatten trägt und mit trotzigen Schritten auf Plateau-Sneakern durch die Gegend stapft, kommt vor Langeweile fast um. Was im prä-digitalen Zeitalter tatsächlich noch filmisch darstellbar war in Form von genervtem, ungeduldigem Herumsitzen.

Elin ist das Zentrum aller Blicke und Wünsche. Ungefähr jeder zweite Junge will schon einmal mit ihr zusammen gewesen sein. Wirklich glücklich macht sie ihr Status als Provinzberühmtheit jedoch nicht. Die anderen aber sonnen sich ein bisschen in ihrem Schein. Mit ihrer Präsenz auf dem Klassenfoto wertet Elin sogar das Schuljahrheft zum Fan-Magazin auf. Agnes betrachtet es sehnsüchtig und mit erwachendem sexuellem Begehren, während der schüchterne Johan seinen heimlichen Schwarm aus dem Heft herausschneidet und das Foto in sein Portemonnaie steckt: So kann er sich schon mal in seine Traumrolle als Elins zukünftiger Boyfriend hineinfantasieren.

„Ich möchte, dass Elin mich beachtet. Ich möchte, dass Elin sich in mich verliebt“, schreibt Agnes auf ihre „geheime Wunschliste“. Obwohl Agnes nun schon seit fast zwei Jahren in Åmål lebt, hat sie das Gefühl, gerade erst hergezogen zu sein. In der Schule gilt sie als Außenseiterin, keine einzige Freundin hat sie bisher gefunden. Das einzige Mädchen, das überhaupt mit ihr spricht, sitzt im Rollstuhl und ist selbst isoliert. Für die zwei Jahre jüngere Elin scheint Agnes dagegen überhaupt nicht zu existieren.

Der 16. Geburtstag ist für Agnes ein besonders schlimmer Tag. Bei der Party, zu der sie die mitleidigen Eltern überredet haben, erscheint zunächst nur ihre Zweckfreundin Jessica. Überraschend taucht irgendwann dann aber auch Elin mit ihrer älteren Schwester auf – und küsst sie ganz plötzlich auf den Mund. Was als Mutprobe gedacht war ist der Beginn einer Geschichte über erste Liebe, lesbisches Begehren und das Selbstvertrauen, das es manchmal braucht, sich in der Mehrheitsgesellschaft zum Anderssein zu bekennen.

Foto: Salzgeber

Als lesbischer Coming-of-Age-Film war „Fucking Åmål“ in der Flut an Boy-Meets-Girl-Geschichten seinerzeit ein ziemlicher Solitär. Vor allem in Skandinavien lief der schwedische Jugendfilm, der auf der Berlinale 1999 den Teddy Award gewann, extrem erfolgreich in den Kinos und konnte dabei sogar mit James Camerons Blockbuster „Titanic“ mithalten. 25 Jahre später wirkt der Klassiker des Regisseurs und Drehbuchautors Lukas Moodysson, der inzwischen auch schon mehrfach für die Bühne (zuletzt als Jugendoper) adaptiert wurde, noch immer charmant und quirlig – auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur in geschlechterpolitischer Hinsicht gewandelt haben. Was es Ende der 1990er Jahre bedeutete, wenn Heteronormativität und provinzielle Enge zusammenkamen, zeigt sich aus der zeitlichen Distanz noch einmal anders. Für Agnes’ Art zu lieben gibt es in Åmål keine Vor- und Vergleichsbilder, „lesbisch“ ist in der Einöde fast noch ein Fremdwort und auch die Praxis des „Mobbing“ war in der breiteren Öffentlichkeit noch kein Thema. Oder wurde zumindest noch nicht als solches benannt.

Moodysson vermeidet es in seinem Film jedoch, gesellschaftliche Mechanismen wie Diskriminierung und Ausgrenzung mit Ernsthaftigkeit und Schwere zu zeichnen. Selbst wenn Agnes in ihrer Verzweiflung einmal zur Rasierklinge greift, muss man sich doch keine allzu großen Sorgen machen. „Fucking Åmål“ ist selbst in eigentlich dramatischen Momenten ein Film des eher leichten, unbeschwerten Tons, und auch das Kämpferische, Plädoyerhafte des feministischen Kinos ist ihm fremd. Einmal beschließen Elin und Agnes im Übermut mitten in der Nacht nach Stockholm zu trampen. Blöderweise springt das Auto des Typen, der sie mitnehmen will, nicht an. Als die beiden Mädchen auf der Rückbank anfangen, leidenschaftlich zu knutschen (zu dem Song „I Don’t Know What Love Is“ von Foreigner), schmeißt sie der Fahrer sofort aus dem Wagen. Das Feindselige, Homophobe der Reaktion verpufft durch den Moment des Verliebtseins – und der Pointe, vorerst in fucking Åmål hängenzubleiben.

Foto: Salzgeber

Auf eine grundsätzliche Art geht es „Fucking Åmål“ um die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Wie wird man als Individuum Teil einer sozialen Gemeinschaft, wie kommt man mit den eigenen Gefühlen und Wünschen ins Handeln? Die sexuelle Orientierung ist dabei einer von mehreren Aspekten. Agnes, die mit ihrer Rolle als Außenseiterin zu kämpfen hat, ist in ihrem Begehren ganz klar: Sie liebt Mädchen und sieht sich schon als Schriftstellerin. Elin steht viel stärker unter Anpassungsdruck. Model oder Miss Schweden will sie werden, auf jeden Fall irgendwas mit Berühmtsein, verkündet sie mehrfach laut –  dabei träumt sie im Stillen davon, Psychologie zu studieren. Vor allem das Bekenntnis zu Agnes, mit der sie eine holprige Freundschaft beginnt, fällt schwer. Statt ihren Gefühlen zu folgen, lässt sie sich zunächst auf eine Beziehung mit Johan ein. Der kann sein Glück natürlich kaum fassen. Mit ihm hat sie auch das erste Mal Sex, auch wenn der höchstens fünf Sekunden dauert, oder, wie ihre Schwester sagt, nicht mehr ist als ein „langweiliges Pfft“. Moodysson bringt aber auch dem schüchternen Gymnasiasten mit dem Mofa, der dem Sturm und Drang seiner neuen Freundin nicht annähernd gewachsen ist, Sympathie entgegen. Johan ist ein netter Junge, auch wenn er für Elin nur eine Station zur Identitätsfindung ist.

Trotz der vor allem für Agnes schmerzhaften Entwicklungen lässt der Film keinen Zweifel daran, dass die beiden nur auf den ersten Blick ungleichen Mädchen sich finden werden. Moodyssons Interesse gilt dem Weg dorthin, den Hindernissen, Widersprüchen und Stimmungsumschwüngen. Momente der Annäherung und des Verliebtseins wechseln mit Kompromissen und Selbstverleugnung, auf Glücksgefühle folgen Ernüchterung und Enttäuschung. Am Ende gibt es ein buchstäbliches Coming-out. Und: Kakao mit 5000 Kilo Kakaopulver, das in kein Glas hineinpasst. Åmål wird für Agnes und Elin bald zu klein sein.




Fucking Åmål
von Lukas Moodysson
SW 1998, 89 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & schwedische OF mit deutschen UT

Im April in der Queerfilmnacht.