Der Sommer mit Anaïs

TrailerDVD/VoD

Anaïs promoviert gerade in Literaturwissenschaft, ist ständig in Bewegung und nie zufrieden. Halbherzig beginnt sie eine Affäre mit dem älteren Verleger Daniel. Doch bald findet Anaïs dessen Partnerin, die erfolgreiche Schriftstellerin Émilie, viel aufregender. Eine lesbische Romanze wie aus dem Bilderbuch beginnt – mit Liebe am Strand und sehnsüchtigem Briefwechsel. Nur Daniel könnte die sommerlich-unbeschwerte Stimmung noch vermiesen. Anstatt den heteronormativen und latent frauenfeindlichen Mustern zahlloser Filme über Dreiecksbeziehungen zu folgen, erzählt Charline Bourgeois-Tacquet ihr Langfilmdebüt „Der Sommer mit Anaïs“ konsequent aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur, schreibt Theresa Rodewald. Jetzt gibt es das Liebesdrama als DVD und VoD.

Foto: Prokino

Liebe oder Illusion

von Theresa Rodewald

So beginnt die Geschichte: Anaïs rennt durch die Straßen von Paris, ihr kurzes Blumenkleid flattert in der Brise, der Pferdeschwanz wippt im Rhythmus ihrer Schritte, in der Hand hält sie Blumen, deren sommerliche Pastellfarben sich fast schmecken lassen. Anaïs ist spät dran für ein Treffen mit ihrer Vermieterin. Diese wartet vor der Wohnungstür mit einem Feuermelder in der Hand und erkundigt sich höflich nach den letzten zwei Monatsmieten. Sie tut das bruchstückhaft, denn Anaïs redet wie ein Wasserfall.

In unter fünf Minuten erfahren wir: Sie hat schon einmal versehentlich einen Brand ausgelöst (da war sie aber noch ein Kind), sie hat nicht wirklich einen Job (aber möglicherweise etwas in Aussicht), und mit ihrem Freund ist es so gut wie vorbei (erst wollten sie sich die Wohnung teilen, jetzt leben sie getrennt – it’s complicated). Zwischendurch zweifelt sie noch an ihrer Fähigkeit zu lieben („Glauben Sie, ich habe ein Problem?“, fragt sie ihre Vermieterin, ohne auf Antwort zu warten. „Glauben Sie, dass ich nicht lieben kann?“). Dann huscht sie auch schon ins Nebenzimmer, um ein anderes Kleid mit Blumenmuster anzuziehen. In einem Schwall von Worten, Blumen und wehenden Haaren verschwindet sie so schnell wie sie gekommen war und lässt eine vollkommen perplexe Frau in der Wohnung zurück.

Anaïs verschlägt den meisten Menschen, denen sie begegnet, die Sprache – weil sie schön, unstet und offenherzig ist und weil sie die anderen nicht zu Wort kommen lässt. Anaïs weht in das Leben anderer Menschen, berührt sie und verschwindet gleich darauf – wie eine Sommerbrise oder eine Fata Morgana. Es ist schwer, sich Anaïs im Winter vorzustellen.

Regisseurin und Drehbuchautorin Charline Bourgeois-Tacquet unterwandert in ihrem Langfilmdebüt die Klischees der romantischen Sommerkomödie und der Ménage à trois, bedient sich gleichzeitig aber auch bei ihnen. Nachdem Anaïs ihre Vermieterin in ihrer Wohnung zurückgelassen hat, läuft sie auf einer Party dem alternden Verleger Daniel über den Weg. Es ist der Beginn einer halbherzigen Affäre. Daniel scheint pflegeleicht – ihm schmeichelt Anïas Aufmerksamkeit, und er stellt erst einmal keine Ansprüche. Nach dem abendlichen Liebesakt setzt Anaïs ihn wieder vor die Tür – es passt ihr besser so, sie schläft nicht gerne neben anderen. Für sie ist dieses Techtelmechtel das Äquivalent zu einem Achselzucken, das „Warum nicht?“ sexueller Begegnungen.

Foto: Prokino

Daniel fühlt sich begehrt – vor allem, weil er Anaïs nicht wirklich sieht. Er sieht nur ihre Schale: ihre Schönheit, ihre Sinnlichkeit und ihre Jugend. Damit weicht „Der Sommer mit Anaïs“ schließlich von der Formel ab, denn anstatt den heteronormativen, latent frauenfeindlichen Mustern zahlloser Filme über Dreiecksbeziehungen auf den Leim zu gehen, erzählt Charline Bourgeois-Tacquet ihre Geschichte konsequent aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur. Anaïs ist kompliziert, sie hat Fehler und Vorzüge, ohne je in die Schublade der hysterischen Geliebten gesteckt zu werden. Eine Schublade, in die Daniel sie zu quetschen versucht, sobald Anaïs einmal Ansprüche stellt. Als er sie überraschend bei Émilies Literatur-Kolloquium antrifft, geht er sofort davon aus, dass Anaïs seine Beziehung zerstören will. Es ist, als laufe „Eine verhängnisvolle Affäre“ (Adrian Lyne, 1987) in seinem Kopf auf Dauerschleife. Er kann sich nicht vorstellen, dass Anaïs das Interesse an ihm schon längst verloren hat.

Die Beziehung zwischen Émilie und Anaïs ist ganz anders. Sie beginnt als Faszination mit einer Frau, die Anaïs zunächst nur aus der Erzählung ihres Partners kennt – über Daniel erfährt sie zum ersten Mal von Émilie. In der Wohnung des Paares entdeckt Anaïs ihre Spuren – einen Lippenstift, eine Creme, Kleidung. Dann liest sie eines ihrer Bücher. Die Geschichte berührt sie, die Worte scheinen ihr aus der Seele zu sprechen. Sie erkennt sich selbst in Émilie, sieht sich, wie sie gerne sein würde. Anaïs ist zunächst in das Bild dieser Frau verschossen, die scheinbar alles erreicht hat.

Foto: Prokino

Denn Anaïs offenherzige und fröhliche Art ist auch eine Fassade. Dahinter verbirgt sich eine Frau, die vor ihren Problemen flüchtet, die vor den Konsequenzen ihres Handelns davonläuft und dem Traum vom perfekten Leben verzweifelt hinterherjagt. Anaïs sucht ihr Glück in der Liebe anderer Menschen und lässt den Rest am Wegesrand zurück. Sie verschließt die Augen davor, dass es ein Leben ohne Kompromisse, ohne Enttäuschungen und Schmerz nicht gibt. „Wenn du eine Leidenschaft in deinem Leben gehabt hättest, wärst du vielleicht nicht wieder krank geworden“, schreibt sie in einem Brief an ihre krebskranke Mutter, den sie nie abschickt. Als hätte die nur ohne Kompromisse leben müssen, um vom Schicksal verschont zu werden.

Anaïs lebt ein Leben der Leidenschaften und der schönen Dinge, das letztendlich merkwürdig leer ist. Bis sie Émilie begegnet, kann sie nie stillstehen und genießen, denn dann droht die Realität sie einzuholen. Im Gegensatz zu Anaïs ruht Émilie in sich selbst, sucht das Glück nicht bei anderen, sondern in ihrem eigenen Schreiben. Sie ist von Anaïs fasziniert, sieht aber auch ihren Hedonismus, ihre Kompromisslosigkeit, ihre Unstetigkeit – und mag sie genau deshalb.

Foto: Prokino

„Liebe ist das nicht, das ist eine Illusion“, sagt Émilie zu Anaïs und spricht damit an, dass beide Frauen vor allem in das Bild der jeweils anderen, in die romantische Vorstellung von einer Affäre verliebt sind. Ihrer Beziehung verleiht das eine ungewöhnliche Ehrlichkeit, denn auch in der Welt jenseits der Kinoleinwand sieht man die geliebte Person oft durch die Brille der eigenen Wünsche. Die Affäre von Anaïs und Emilie trägt damit auch den Keim von Veränderung in sich. Vielleicht kann sie Anaïs aus ihrer Flucht nach vorn und Émilie aus ihrer selbst auferlegten Einsamkeit befreien.

Am Ende ist „Der Sommer mit Anaïs“ gar nicht die Geschichte einer Ménage à trois. Die wahre Affäre des Films, die eigentliche Beziehung, findet zwischen Anaïs und Émilie statt. Ihre Liebschaft ist gleichermaßen körperlich wie intellektuell, ihre Gespräche, Blicke und Gesten sind erotisch aufgeladen, ihr Sex leidenschaftlich. Damit ist der Film auch ein Plädoyer für queere Leidenschaft: Hier wird der heterosexuelle Mann mit seinen kleinbürgerlichen Fantasien, seinem langweiligen Verlangen und seiner institutionalisierten Selbstbezogenheit an den erzählerischen Rand gedrängt – dort, wo er hingehört.




Der Sommer mit Anaïs
von Charline Bourgeois-Tacquet
FR 2021, 98 Minuten, FSK 12,
deutsche Fassung & französische OF mit deutschen UT

Jetzt als DVD und VoD.

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