Alles über meine Mutter (1999)

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Feliz cumpleaños, Pedro! Am 25. September feiert Pedro Almodóvar seinen 75. Geburtstag. Kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Films „The Room Next Door“ gratulieren wir dem seit Jahrzehnten wichtigsten Regisseur des spanischen Kinos mit einem Rückblick auf sein Meisterwerk „Alles über meine Mutter“ (1999), das Almodóvar nicht nur seinen ersten Oscar einbrachte, sondern auch eine Schlüsselposition in seinem Œuvre einnimmt. Andreas Wilink schreibt, was an dem Drama über eine Mutter, die sich nach dem Unfalltod ihres Sohnes auf die Suche nach dessen Vater macht, queer, was camp und was spanische Volkskunst ist. Und er dringt zum rotleuchtenden Zentrum des Almodóvarschen Labyrinth der Leidenschaften vor: der Selbstwerdung inmitten einer neuen Heiligen Familie.

Foto: Studiocanal

Wahlverwandtschaften

von Andreas Wilink

Was Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) für die Bundesrepublik der späten 1960er bis frühen 80er Jahre (und viel zu kurz) gewesen ist, nämlich ein kritischer Chronist der Geschichte des eigenen Landes am Modell weiblicher Figuren, das ist Pedro Almodóvar für das Spanien nach der Franco-Diktatur. Als verspätete Republik hat sich das Land in den 1970er Jahren neu ge- und erfunden. Aber wo Fassbinder das Erlangen von individueller Autonomie skeptisch betrachtet, das Scheitern des Persönlichen an den politischen Zusammenhang bindet und „eine schlechte Zeit für Gefühle“ (Maria Braun) diagnostiziert, propagiert Almodóvar das Projekt gelingender Selbstwerdung. Dabei hätte Almodóvars selbst formuliertes Credo „Mein Ideal einer Geschichte ist eine Frau, die sich in einer Krise befindet“ auch der gerade mal vier Jahre ältere RWF sagen können.

Der 1949 in der La Mancha geborene Almodóvar gibt mit seiner Kreativ-Factory seit vier Jahrzehnten und mit zwei Dutzend Filmen dem Kino Spaniens und Europas entscheidende Impulse. Beeinflusst wurde er von den farbsatten Melodramen und Technicolor-Träumen Hollywoods, von dem eleganten Gesellschafts-Seismographen Douglas Sirk, den feinsinnig ironischen Komödianten Ernst Lubitsch, George Cukor und Billy Wilder sowie dem amerikanischen Psycho-Dramatiker Tennessee Williams. Und stets und immer von Schauspielerinnen wie der vitalen „Mamma Roma“ Anna Magnani – und jenen Dreien, denen er seinen Film „Alles über meine Mutter“ widmete: Bette Davis, Gena Rowlands, Romy Schneider. Dieses Leinwandköniginnen-Triumvirat verbindet etwas: Es sind Schauspielerinnen, die im Kino Schauspielerinnen gespielt haben – Bette Davis die Margo Channing in „All About Eve“ (1950) von Joseph L. Mankiewicz, Gena Rowlands die Myrtle Gordon bei ihrem Ehemann John Cassavetes in „Opening Night“ (1977), Romy Schneider die Nadine Chevalier in „Nachtblende“ (1975) von Andrzej Zulawski.

Die Huma Rojo in „Alles über meine Mutter“, die auf der Bühne die defekte und zerrüttete einstige Südstaaten-Belle Blanche Du Bois in Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ verkörpert, ist eine Schwester dieser Drei, ihre Leidensgenossin und ebenso eine Heroine des Überlebens. Im Film gespielt wird sie von Marisa Paredes. „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles“, heißt es bei Rainer Maria Rilke.

Die Ästhetik und das Setdesign mit dem berühmten Almodóvar-Rot sind stilprägend geworden. Man möchte gleich einziehen in die Wohnungen mit den leuchtenden Tapeten, Stoffen und Kachelmustern, dekorierten Glasobjekten, Kunstwerken, rasanten Küchen, gewagten Farbkontrasten und einer Raumarchitektur, in der ein entsprechend gekleideter Mensch selbst zum beweglichen Ornament wird. Einziehen bei dem Filmemacher Salvador Mallo aus „Leid und Herrlichkeit“ (2019), den Antonio Banderas verkörpert. Einziehen bei der Frau, die Tilda Swinton in „The Human Voice“ (2020) nach Jean Cocteau in einer zum Apartment kulissenhaft arrangierten Halle spielt und spricht, die jederzeit ihre film-theatrale Künstlichkeit behauptet. Und einziehen auch bei Manuela aus „Alles über meine Mutter“, dargestellt von Ceclia Roth, in jene Wohnung in Barcelona.

Foto: Studiocanal

Almodóvar, der jüngst auf dem Filmfestival von Venedig mit dem Goldenen Löwen für das Zwei-Frauen-Drama „The Room Next Door“ (2024) ausgezeichnet wurde, gelingt das Kunststück, sowohl camp und queer als auch spanischer Volkskünstler zu sein. Penélope Cruz wurde mit und dank ihm zu einer atemberaubend guten Schauspielerin und, wie auch Banderas, zum Weltstar. Und Almodóvars Filme sind Familienfilme, auch weil sie en famille entstehen, Bruder Agustín ist häufig ihr Produzent, die Musik komponiert Alberto Iglesias, und die Darstellerinnen sind Vertraute wie neben den bereits Genannten etwa Carmen Maura und Rossy de Palma. Zudem greift Almodóvar zitathaft auf seine cineastischen Vor- und Mitgänger zurück und eignet sich deren Erbe an. Und es sind Familienfilme in einem schräg verschobenen, exzentrischen Sinn: nicht gemäß dem katholisch-patriarchalen Ideal einer unter Oberhoheit des Mannes stehenden Einheit mit einer irdischen heiligen Mutter und braven Kindern, sondern orientiert an anderen, neuen sozialen Strukturen, verbunden durch Freundschaft, Eros und Sinnlichkeit, Solidarität und Empathie. Es sind Wahlverwandtschaften. Vor allem in diesem Sinne hat sich Almodóvar um die Selbstermächtigung der spanischen Gesellschaft verdient gemacht.

Die Berlinale hat Almodóvar früh entdeckt, 1987 „Das Gesetz der Begierde“ eingeladen und mit dem damals erstmals vergebenen Teddy Award  prämiert. In seinem Frühwerk überkandidelt, anarchisch laut, bunt und lustvoll den Underground umgrabend, hat er rechtzeitig begriffen, dass diese Crazyness in den Leerlauf, in die Manier münden würde. Und so trat er in seine klassische Periode als großer Erzähler ein – als jemand, der Gefühle bloßlegt, untersucht, ernst nimmt und nie moralisch bewertet, der gütig und gnädig ist mit seinen Figuren und sie nicht verwirft, der wie Jesus von Nazareth die Sünder annimmt und Nächstenliebe praktiziert. Das ist Almodóvars weltliche und das Weltliche transzendierende Religion. Da sind dann die Jungfrau Maria und Maria Magdalena ein- und dieselbe Person. Übrigens, Almodóvars Produktionsfirma heißt „El Deseo“, „das Begehren“. Und Begehrensunruhe ist und bleibt der Impuls seines Werks.

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Almodóvars Labyrinthe der Leidenschaften haben als Ziel souveränes Handeln und Fühlen. Seine Spiegelungen sind keine Verzerrungen mehr und bilden Kenntlichkeit aus. Mindestens vier Meisterwerke entstehen in dieser Phase: „Alles über meine Mutter“, „Volver“ (2006), „Parallele Mütter“ (2021) sowie zuvor der mit unverkennbaren autobiografischen Bezug inszenierte „Leid und Herrlichkeit“ (2019) über einen Filmregisseur. In diesem letztgenannten Film spannt sich ein weiter Bogen von der Kindheit zum Alter, von Partikeln der Wirklichkeit und deren Verwandlung in Kunst, von Krankheit, Schaffenskrisen, Lebensschmerz und Verlusten zur sinnstiftend bereichernden und geklärten Erfahrung.

Entlang existentieller Krisensituationen und Bruchlinien führt auch „Alles über meine Mutter“, parallel zu dem Hin und Her zwischen den Städten Madrid und Barcelona. Der Zug, in dem Manuela sitzt, rast in Spaniens Hauptstadt in einen dunklen Tunnel, so wie der Zug am Ende von Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ (1959) mit den Passagieren Cary Grant und Eva Marie Saint. Kurz darauf weitet sich der Blick, und wir fliegen über die katalonische Metropole Barcelona mit ihrer von Antoni Gaudi erbauten Basilika de la Sagrada Família – der Heiligen Familie!

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„Alles über meine Mutter“ ist (neben „La mala educación – Schlechte Erziehung“ von 2004) vielleicht Almodóvars komplexester Film, und motivisch äußerst verschachtelt. Die Geschichte beginnt in einem Krankenhaus – dort, wo es um Leben und Tod geht, wo es auf Messers Schneide steht. Man könnte sagen: Das Leben selbst ist die Intensivstation. Ein Herz wird transplantiert werden. Nicht irgendeines, sondern das des Sohnes einer Krankenschwester Manuela, die in der Organspende-Abteilung der Klinik arbeitet und geschult darin ist, ihre Emotionen in Gesprächen mit Angehörigen der Patienten zu kontrollieren und durch fiktive Übungssituationen auf solche „echten“ Konfrontationen vorbereitet wurde. Nun aber bricht das Herz der Mutter, die Symbiose zwischen ihr und ihrem Kind wird gewaltsam getrennt. Die Fiktion hat die Wirklichkeit erreicht. Das Objektive wird zum subjektiven Faktor.

Am Tag seines 17. Geburtstages stirbt Esteban (Eloy Nazarin) durch einen Autounfall, nachdem er sich auf der Straße bei strömendem Regen ein Autogramm der Schauspielerin Huma Rojo holen wollte und wie wild gegen die Scheibe des abfahrenden Taxis gehämmert hat. Manuela und er hatten sie sich gerade eben im Theater in „Endstation Sehnsucht“ angesehen. Zuvor hatte Manuela dem Jungen, der Schriftsteller werden wollte und Tagebuch führte, ein Buch von Truman Capote geschenkt: „Musik für Chamäleons“, Capotes letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Band – und somit ein Vorhinweis aufs Estebans Sterben.

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Ein schrecklich schönes Bild zeigt die durchnässte Manuela mit ihrem knallbunten Regenschirm angesichts des tödlich verletzten Esteban: Crying in the Rain. Manuela verlässt Madrid, um in Barcelona Estebans Vater, mit dem sie als junges Mädchen zusammengelebt und in einer Amateurtheatertruppe (auch „Endstation Sehnsucht“) gespielt hatte, von dem Unglück zu berichten. Der Vater, der ebenfalls Esteban hieß, hat das Geschlecht angepasst und heißt nun Lola (Toni Cantó), ist aber eine erotische Freibeuternatur geblieben. Die junge Maria Rosa (Penélope Cruz) ist von Lola schwanger, wurde von ihr aber auch mit HIV infiziert.

Manuela findet zu Mut, Stärke und Lebenswillen zurück, indem sie für andere da ist und zum rettenden Engel wird. Sie hilft der lebensuntüchtigen Huma, die in einer zerstörerischen Beziehung mit der jüngeren Nina lebt, bis diese sie verlässt, und die ihre Rolle der Blanche so sehr verinnerlicht hat, dass sie deren zentralen Dialogsatz in ihre Wirklichkeit hinüberholt: „Wer Sie auch sind – Immer schon habe ich mich auf die Güte Fremder verlassen.“ Da ist aber auch die putzmuntere, koboldhafte trans Frau Agrado (Antonia San Juan), die ihr „Werde, der Du bist!“ als revolutionäre Botschaft emphatisch vor aller Welt vertritt. Und da ist die bei der Geburt sterbende „Heilige“ Maria Rosa und deren neugeborener Sohn, der ebenfalls das Virus in sich trägt, aber wundersam geheilt wird. Auch dieses Kind, dessen sich Manuela annimmt, heißt Esteban. In einer Transplantation metaphysischer Art „ersetzt“ er die beiden toten Estebans.

Mit Blick auf die Nadine Chevalier der Romy Schneider wird in „Nachtblende“ gesagt: Schauspieler müsse man sanft behandeln, sie zerbrechen leicht. Gewiss, Almodóvar weiß und beherzigt das. Aber zugleich zeigt und feiert er ihren gehärteten Glutkern –  wie den des Menschen überhaupt. Der Tod hält reiche Ernte in „Alles über meine Mutter“. In sonst keinem seiner Filme wird so viel und so schlimm gestorben, gibt es derart viele Verluste, aber ebenso sehr viel Neugewinn und Neubeginn. Am Ende steht das „Ja“ zum Leben als Frohe Botschaft – und irdischer Segen!




Alles über meine Mutter
von Pedro Almodóvar
ES/FR 1999, 101 Minuten, FSK 18,
DF & spanische OF mit deutschen UT

Als BluRay, DVD und VoD