The Delta (1996)
Trailer • DVD/VoD
Tagsüber spielt Lincoln in seiner Familie den braven Sohn, abends sucht er Sex mit Männern auf Parkplätzen und in Peep-Show-Kabinen. Als er eines Nachts dort seinen Flirt Minh wiedertrifft, den Sohn einer vietnamesischen Mutter und eines afroamerikanischen GIs, beginnt für ihn, ein schüchternes Bündel aufgestauter Sehnsüchte, ein ungeahntes Abenteuer. Die beiden unterschiedlichen Jungs kapern das Boot von Lincolns Vater und fahren den Mississippi hinab. Doch im rassistisch geprägten amerikanischen Süden hat ihre melancholische Affäre wenig Chancen … Der Debütspielfilm von Ira Sachs („Keep the Lights On“), der laut B. Ruby Rich auf jede Bestenliste der queeren Filme gehört, wurde 1997 zu unrecht übersehen. Daniel Sander über ein fiebriges Meisterwerk.
In keiner Welt zuhause
von Daniel Sander
Eine Straße im Nirgendwo der Nacht, das Licht der Autoscheinwerfer streift den nackten Oberköper eines jungen Mannes. Heruntergelassene Scheiben, die Autos fahren langsam, kaum ein Motorengeräusch. Wartende Männer am Straßenrand, hin und wieder ein Flüstern, alles übertönt vom Zirpen der Grillen. Ein Wagen stoppt, einer der Männer geht ans Fenster. „What’s up?“ Er steigt ein. Ein Kuss. „Pull down your pants.“ Momente fiebriger Lust, wortloser Abschied.
In der Eröffnungssequenz seines ersten Langfilms „The Delta“ aus dem Jahr 1996 beschwört der Regisseur und Autor Ira Sachs eine nahezu klassische Choreografie schwulen Cruisings aus Zeiten ohne Dating-Apps und mobiles Internet herauf – so präzise jedoch verortet in Memphis, Tennessee, dem oberen Mississippi-Delta, dass man die drückend-schwüle Sommerluft des Südens der USA fast auf der Haut zu spüren glaubt. Eine schweißgetränkte Welt schwer atmender Menschen, flirrend schön, unbestimmt gefährlich.
Im Gesamtwerk von Ira Sachs, heute einer der am meist geschätzten Künstler des queeren US-Independent-Kinos, gilt „The Delta“ vielen als Sonderling und fast allen als typischer Erstling: keine professionellen Schauspieler, nur das Gerüst eines Drehbuchs – eine experimentelle, mäandernde Low-Budget-Vorschau auf das edle Erzählkino von späteren Klassikern wie „Keep the Lights On“ oder „Love Is Strange“. So kann man es sehen.
Doch diese raue Authentizität, die schon die Eröffnung durchzieht und die in edlem Erzählkino sonst nur wenig Platz findet, ist auch die große Qualität dieses Films. Alle Filme von Ira Sachs, von diesem Debüt bis hin zu „Passages“ aus dem Jahr 2023, haben starke autobiografische Bezüge, ein ständiges Hadern mit bürgerlichem Wohlstand, queerer Identität und subversivem Selbstverständnis. Doch wenn seine späteren Filme fast immer die großen Themen der erwachsenen Mittel- bis Wohlstandklasse umkreisen – Langzeitbeziehungen, Verlust, Liebe – versucht dieses erste Werk vor allem seine kleine Welt zu verstehen. Und keiner zeigt Alltag, das tatsächliche Leben der Figuren, so ungefiltert und unausgedacht wie „The Delta“. Dieser Film interessiert sich weniger für seine Handlung als für seine Charaktere und den Ort, der sie umgibt. Er ist wie eine Einladung ans Publikum, diesen Ort gemeinsam mit ihnen zu erkunden.
Als experimenteller schwuler Film der 1990er Jahre wird „The Delta“ schon ob des bloßen Entstehungsdatums dem New Queer Cinema zugeordnet, ebenso wie etwa die frühen Filme von Todd Haynes, Greg Araki, Cheryl Dunye. Aber „The Delta“ ist leiser, zurückhaltender, weniger radikal auf den ersten Blick. Gleichzeitig ist er noch weit entfernt von den selbstsicheren, narrativ konventionelleren Ira-Sachs-Filmen der Zukunft. Ein Film, der sich immer ein bisschen selbst infrage zu stellen scheint. Weil er vielleicht selbst noch nach Wahrheiten sucht, statt zu behaupten, er habe sie längst gefunden.
Es gibt nicht viel von dem, was sonst als Plot gilt: Zunächst ist es die Geschichte von Lincoln (Shayne Gray), einem 17-Jährigen mit Model-Gesicht und wohlhabender weißer Vorort-Familie. Er spricht wenig und geht so seltsam entrückt durch sein Leben, als beobachte er sich aus ein paar Metern Entfernung selbst dabei, ohne zu verstehen, was er da sieht. Er sitzt stumm am Essenstisch, wenn seine Eltern über einen Schwarzen Abgeordneten lästern; hängt mit seinen gut gestylten Grunge-Kid-Freunden in Punk-Clubs rum, die ihn kaum zu interessieren scheinen; trifft sich mit seiner blonden Freundin, ohne mit ihr ein tatsächliches Gespräch führen zu wollen; und manchmal trifft er sich auch mit fremden Männern, die er auf der Cruising-Straße trifft oder im örtlichen Pornokino. Auch mit ihnen redet er so wenig wie möglich.
Was er von diesen Menschen um ihn herum eigentlich will, bleibt ihnen und ihm ein Rätsel. Seine mögliche Bi- oder Homosexualität erkundet er mit der emotionalen Distanz eines Wissenschaftlers im Laborversuch. Einmal folgt er einem älteren Mann ins Hotelzimmer. Doch dann geht er einfach davon, als er das Interesse verliert, oder Angst bekommt, oder es ihm zu intim wird – er wird es niemandem verraten.
Nur einmal entzündet sich ein Funke. Im Pornokino trifft Lincoln den Mann wieder, der am Anfang in seinem Auto war. Diesmal kommt es zu einem Gespräch, wobei der andere deutlich mehr spricht. Er heißt Minh (Thang Chan) und ist ein paar Jahre älter, so sagt er zumindest. Er kommt aus Vietnam, sein Vater war ein Schwarzer US-Amerikaner. Er redet auf Lincoln ein, wie sexy er sei, wie süß. Lincoln ist überfordert, aber so fasziniert, dass er Minh auf das Boot seines Vaters mitnimmt. Nur ein paar Bier, etwas gemeinsame Zeit, doch Minh redet gleich von Liebe. Erstaunlicherweise läuft Lincoln nicht weg. Stattdessen machen sie das Boot los und fahren gemeinsam in die Nacht, den Mississippi entlang.
Es ist die Andeutung eines romantischen Abenteuers, von Überschwang und Jugend. Doch jede Unterhaltung, jeder Versuch, sich näher kennen zu lernen, zeigt ihnen, was sie voneinander trennt, wie unterschiedlich ihre Welten sind. Sie suchen beide einen Weg für ihr Leben, und ein paar Momente lang gehen sie ihn gemeinsam, aber ihnen sind entgegengesetzte Richtungen bestimmt. Lincolns Welt der gepflegten Vorstadt fühlt sich eng und erdrückend an, träge wie er selbst. Doch er wird sie irgendwann verlassen können und dabei die Sicherheit und den Komfort mitnehmen, die ihm immer selbstverständlich waren. Für Minh dagegen ist jeder Tag ein Kampf, Improvisation. Kein Geld, keine Zeit für Freundschaften, er bewegt sich zwischen der Schwarzen und der vietnamesischen Community der Stadt, und wird von beiden nicht richtig akzeptiert. Mit Furor sucht er Nähe und Liebe, es gibt kein richtiges Zuhause und ein Ausweg ist noch weniger in Sicht. In seiner Welt fällt niemand weich, und alle fallen irgendwann.
Als Filmemacher wirkt Ira Sachs traumwandlerisch sicher, wenn er „The Delta“ aus der Perspektive von Lincoln erzählt, so wie er es eine Stunde lang auch tut. Was insofern kein Wunder ist, dass Sachs selbst aus einer weißen wohlhabenden Familie in Memphis aufgewachsen ist und laut Selbstauskunft lange mit seiner Sexualität rang. Er kennt diese Welt, und als er „The Delta“ drehte, lag sie noch nicht allzu lange hinter ihm. Es ist ein kritischer Blick auf die eigene Vergangenheit, auf das unreflektierte Privileg, zufällig in eine Familie mit Geld hineingeboren worden zu sein.
Denn „The Delta“ ist eben nicht nur ein Film über Einsamkeit und Isolation queerer Menschen im konservativen Süden der USA, er versucht sich auch mit race und class auseinanderzusetzen. 20 Minuten vor Schluss wagt Sachs einen radikalen Perspektivwechsel, lässt Lincoln hinter seiner Vorstadthaustür verschwinden und erzählt weiter aus der Sicht von Minh. Der totale Schwenk zur vietnamesischen und zur Schwarzen Subkultur in Memphis kommt plötzlich und beginnt holprig. Statt des konzentrierten, klar distanzierten Blicks auf die Menschen um Lincoln, wirkt Minhs Welt zunächst wacklig. Wie eine wilde Mischung aus Ideen, die nicht alle ineinander greifen.
Oder entsteht dieser Eindruck vor allem deshalb, weil es heute im US-amerikanischen Kino fast unvorstellbar geworden ist, dass weiße wohlhabende Regisseure Geschichten aus realen Welten erzählen, die sie selbst nie wirklich betreten haben? Warum sollte uns ein in Yale studiertes Wohlstandskind wie Ira Sachs etwas Substanzielles über die Black American experience oder die Asian American experience erzählen, wenn das auch jemand übernehmen könnte, die oder der diese beiden experiences tatsächlich gelebt hat? Oder ist es gut, dass Sachs es wenigstens versucht, anstatt einen Film zu machen, der wie so viele andere auch komplett aus weißer Perspektive erzählt wird?
Sachs hat später gesagt, er habe vor Drehbeginn monatelang in den entsprechenden Communitys recherchiert und er habe die Figur von Minh in enger Zusammenarbeit mit dessen Darsteller Thang Chan erschaffen. Tatsächlich ist es auch Thang Chan, der „The Delta“ nach dem ruppigen Schwenk schnell wieder in eine glaubwürdige Bahn bringt. Er macht Minh zu einem großen Charakter voller Energie und Lebenswillen, eine Naturgewalt, die Entscheidungen trifft, die vielleicht falsch sind, aber echt wirken.
Viel wurde über den seltsamen Schluss von „The Delta“ geschrieben – der das Publikum noch einmal überraschender trifft als der Perspektivwechsel zuvor. Ein sinnloser, ganz und gar unmotiviert scheinender Akt der Gewalt und Zerstörung – auch Selbstzerstörung –, der so gar nicht zum linden, betörenden Tonfall des Rests des Films passen will. Ist es der Versuch, in buchstäblich letzter Sekunde doch ein bisschen radikales New Queer Cinema à la Araki zu integrieren?
Sachs selbst und manche Menschen der Filmkritik verweisen in dem Zusammenhang gern auf den Einfluss von Claude Chabrols „Die Unbefriedigten“ aus dem Jahr 1960, der einen ähnlichen Kunstgriff am Schluss wagt. Schließlich gehe es auch dort um Entfremdung und Isolation der zentralen Figuren – in diesem Fall vier Frauen –, die in den Zwängen ihres Lebens gefangen sind und von einem anderen träumen. Vielleicht war auch Rainer Werner Fassbinder Schuld, dessen letzte große Volte in „Berlin, Alexanderplatz“ (1980) dem Ende von „The Delta“ auch nicht unähnlich ist. Ira Sachs hat später in einem Interview erzählt, dass er früher wahrscheinlich einen Hauch zu viele Fassbinder-Filme gesehen habe und er sein Debüt deshalb immer für etwas „zu deutsch“ gehalten habe. So finster sei die Welt nun auch nicht.