Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Buch

Ein Titel wie ein Funkenregen, eine Story wie ein Trip ins All und eine Sprache, die permanent ihre eigenen Grenzen sprengt. Mit diesen Zutaten geht der neue Roman von Isabel Waidner an den Start. Die poetischen Kapriolen aus Waidners  preisgekrönten Debüt „Geile Deko“ werden in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ aufs nächste Level getrieben. Der Roman verbindet die Geschichte einer Gruppe Londoner Queers mit einem literarischen „Stierkampf“ im polnischen Gendering. Anja Kümmel hat sich von der kreativen Wucht des kaleidoskopischen Texts beglücken lassen – und gendert in ihrer Besprechung selbst polnisch.

Geschlecht: komisch, Gender: Nachthimmel

von Anja Kümmel

„Ich kannte einne Schwulne, dier straight aussah wie aus der Gap-Werbung“ ist der wohl queerste Satz, der mir je in der Literatur begegnet ist. Für sich stehend könnte er erheitern, beglücken, ja euphorisieren – in Isabel Waidners Roman „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ allerdings ist er eingebettet in das beklemmende Szenario eines transphoben Angriffs auf die nichtbinäre Ich-Erzählfigur Sterling Beckenbauer. Wir befinden uns in Camden Town, London, im Jahr 2021, doch da sich die Attacke im Gewand eines Stierkampfs präsentiert, wirkt von Anfang an alles leicht off.

Im Ganzen liest sich die Passage dann so: „Habe ich die Gewalt heraufbeschworen, oder habe ich sie nur nicht verhindern können? Meine Jacke, zu viel? Nicht genug? Die Stutzen? Ich kannte einne Schwulne, dier straight aussah wie aus der Gap-Werbung. Wurde trotzdem angegangen.“

Die Sprache, merkt man sofort, ist bei Waidner mindestens ebenso wichtig wie der Inhalt, den sie transportiert. Sie gibt den Rhythmus vor und schafft die Atmosphäre, ist Vehikel und Herausforderung zugleich. In ihr trifft die abgehackte Lakonie der Verlierernnnie, denen nichts anderes übrigbleibt, als all die „kataklysmischen Fehlgriffe“ des täglichen Lebens mit Galgenhumor zu nehmen, auf einen ironisierend gehobenen Duktus („Mit meinem neu erworbenen Wissen über Happy Hardcore möchte ich gerne vermeinen, dass ich etwas Eindruck schinde.“), der gelegentlich durchbricht. Am auffälligsten jedoch sind genderneutrale Wortschöpfungen wie „Stierkämpfernnnie“ oder „meien bestre Freundni“, die zunächst holpern, an die man sich jedoch erstaunlich schnell gewöhnt. Im Englischen benutzt Waidner das Pronomen „they“ nicht nur für sich selbst und Sterling, sondern für fast alle Figuren im Buch – eine diffizile Ausgangslage für die Übertragung ins Deutsche. Dass eine Autorin wie Ann Cotten, die selbst seit langem in ihrer Lyrik und Prosa mit den Möglichkeiten und Grenzen von Sprache experimentiert, die Übersetzung übernommen hat, ist ein absoluter Glücksfall. Seit 2017 praktiziert Cotten das „polnische Gendering“, eine der unterhaltsamsten und originellsten, wenn auch nicht unbedingt eingängigsten Formen geschlechtergerechter Sprache, bei der „alle für alle Gender benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende gelegt“ werden. Diesen Roman zu lesen – und zu besprechen – ist also auch ein Experiment mit der eigenen Wahrnehmung und der Inkorporation eines neuartigen Sprachgebrauchs.

Isabel Waidner – Foto: Robin Silas Christian

Aber – worum geht es eigentlich?

Auf einer Ebene ist der Plot schnell erzählt: Es geht um eine Gruppe von Queers im Londoner Stadtteil Camden, im Zentrum Sterling und seihrne bestre Freundni Chachki Smok, Modedesignerni mit polnischen Wurzeln, die seit über zwanzig Jahren zusammen die Anti-Theater-Reihe „Cataclysmic Foibles“ in Sterlings Wohnzimmer veranstalten. Nach dem Stierkampf geraten Sterling, Chachki und zwei weitere Unterstützernnnie in die Mühlen der Justiz. Ein absurder Prozess kommt in Gang, bei dem die Opfer von Gewalt immer wieder in schönster Gaslighting-Manier als deren Provokateure angeklagt werden. Auf einer anderen Ebene jedoch verzweigt sich dieses ohnehin schon dystopische Szenario in noch weitaus abstrusere Seitenstränge und Kaninchenbauten, in die man unversehens hineingezogen wird. Denn da ist ja auch noch die Imagination. Oder, wie Sterling einmal über die „Cataclysmic Foibles“ sagt: „Ziel war es nicht, eine überzeugende Fantasie oder Simulation aufrechtzuerhalten, sondern den kleinen Teil der Wirklichkeit, den wir bewohnten, mit Glamour zu versehen.“

Zunächst fallen die Verschiebungen kaum auf, wenn etwa Sterling en passant erwähnt, seihrn Vater sei Franz Beckenbauer, der schwul war und an Aids verstarb.

Äh … Moment mal – Franz Beckenbauer war schwul?

Geschickt benutzt Waidner derlei Glitches aus einer alternativen Realität, um nach und nach ein ganzes Paralleluniversum voller bitter-ironischer Seitenhiebe auf die Homophobie im Profifußball aufzumachen. Und nicht nur das. Immer wieder taucht Waidner in die Untiefen der Kunstgeschichte, der Kolonialpolitik und der Popkultur ab, um seihrne Fundstücke wie Überbleibsel aus einem schlechten LSD-Trip im Roman zu verstreuen: So werden etwa „eine süße Giraffe, ein süßer Elefant, eine süße Wildkatze“, die das Cover eines Beach-Boys-Albums zieren, für Sterling zu alptraumhaften Stalkern, die an allen möglichen und unmöglichen Orten wieder auftauchen. Und die U-Haft-Anstalt, in die Sterling eingeliefert wird, erscheint plötzlich als lebendig gewordener „Garten der Lüste“ mitsamt Eulen, Mikrodrachen und weißem Einhorn. Richtig abgedreht wird es, als Sterling und Chachki ein Raumschiff kapern und mit diesem durch Raum und Zeit reisen, zuerst nach Guatemala und Belize, wo sie UFO-Landeplätze in vorklassischen Maya-Siedlungen vermuten, dann nach Bagdad, Chicago und San Francisco, um dort nach einer aus ihrem Umkreis verschwundenen Person zu suchen.

Ganz schön viel Klamauk und selbstverliebte Spielerei mit Fantasy- und Science-Fiction-Tropes, könnte man jetzt denken. Doch letztendlich führen all die comichaften Haken, die der Roman schlägt, immer wieder zurück zur nicht minder schauerlichen Realität des Post-Brexit-Englands im Jahr 2021. Etwa wenn zwei „Funktionärnnnie“ Sterling nahelegen: „Jetzt sei ich in England und habe mich nach englischen Sitten und englischen Gesetzen zu richten.“ (Gesetze, die sich als außerordentlich willkürlich und brutal erweisen.) Oder wenn Chachki den „Stierkampf im Wohngebiet“ abgeklärt als „logische Verlängerung des Klassenkampfs, der Anti-Einwanderungspolitik, der transphoben Medien und des staatlich sanktionierten Rassismus“ bezeichnet.

Die Ausflüge in phantastische Gefilde, begreift man, sind weder Eskapismus noch Deko (obwohl der erwähnte Glamour natürlich nicht fehlen darf!), sondern eine handfeste Überlebensstrategie. Ziel all der surrealen Unternehmungen ist stets die Wiedergutmachung von geschehenem Unrecht, die Wiederbelebung zu früh Verstorbener, die Wiederherstellung von Solidarität innerhalb der queeren Wahlfamilie rund um Sterling. Dabei vermischen sich Unterdrückung und Widerstand, rigides Regelwerk und dessen performatives Unterlaufen oftmals in ein und demselben Satz: So verwandelt sich ein kryptisches Element des berühmten Hieronymus-Bosch-Triptychons während einer Gerichtsverhandlung im 21. Jahrhundert in eine Drohne, die biosoziale Daten der Anwesenden sammelt. Diese allerdings sind weitaus schwerer zu kategorisieren als gedacht: „Geschlecht: kosmisch, Gender: Nachthimmel“. Veruneindeutigung war vielleicht schon immer die wirkungsvollste Form von Subversion.

Das Zeitreise-Raumschiff indes entpuppt sich bei näherem Hinsehen als länger nicht mehr geupdatete Version von Google Street View, und seine Insassen als „internationale Digitaltouristnnnie, alles konsumierend“, wie sie wahrscheinlich viele von uns manchmal sind – aus purer Langeweile, oder weil das Reisebudget der meisten Schriftstellernnnie nicht ausreicht, um alle Orte aufzusuchen, die sie gerne beschreiben möchten. Auch hier schlägt Waidner phantastisches Potential aus dem binären Kartierungssystem eines profitorientierten Konzerns: Hacken, so die Botschaft, lässt sich beinahe alles. Zugleich ist es bezeichnend, dass in der grotesken Welt, die Waidner beschreibt und die der unseren so erschreckend ähnlich ist, die Protagonistnnnie zu ebenso grotesken Mitteln greifen müssen, um in ihr zu bestehen.

Wollte man die ästhetischen Kräfte aufzählen, die in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ aufeinandertreffen, ließe sich vielleicht sagen: Franz Kafka meets George Orwell meets Kathy Acker, und all das wird einmal kräftig durcheinandergeschüttelt und in der nahen Zukunft wieder ausgespuckt. Das Ergebnis ist ein kaleidoskopischer Text, der beständig zwischen Dystopie und Utopie oszilliert, der zunächst überfordert und verwirrt, weil er die gängigen Logiken und Lesegewohnheiten außer Kraft setzt, einen jedoch trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – alsbald in seinen Bann zieht. Um sich darin zurechtzufinden, mögen folgende Schlüsselsätze helfen, die das Spannungsfeld des Romans von zwei Polen her umreißen: „Was bedeutet es, die Kontrolle aufzugeben, auch temporär und im Kontext einer künstlerischen Performance? Was heißt es, unter von anderen diktierten Bedingungen zu existieren? In jemand anderes Gewaltfantasie?“ Aber auch, und insbesondere: „Ohne Freundnnnie wären wir nichts, niemand.“




Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken
von Isabel Waidner
aus dem Englischen von Ann Cotten
192 Seiten, € 24
Dumont Buchverlag

 

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