Sommer wie Winter (2000)
Trailer • DVD/VoD
„Sommer wie Winter“ gilt längst als Klassiker des queeren französischen Kinos. Sébastien Lifshitz’ wunderbar sinnlicher und unverkrampfter Debütfilm spielt während der Sommerferien in einem französischen Küstenort. Für den 18-jährigen Mathieu, der mit seiner Familie angereist ist, eine Zeit seligen Nichtstuns. Alles ändert sich, als er den gutaussehenden Cédric kennenlernt. Zunächst hält Mathieu sich noch schüchtern zurück. Doch die gegenseitige Anziehungskraft ist zu groß. Stefan Hochgesand hat sich „Sommer wie Winter“ 25 Jahre nach dessen Entstehung noch einmal angesehen – und einen Liebesfilm für alle Jahreszeiten wiederentdeckt.
Fast nichts?
Wer könnte sich den Verheißungen der Sommerhitze entziehen? Sommer, das heißt Aufblühen, Ausziehen, Nacktbaden und Geilsein. Und doch: welch Schock, wenn nach der Freilust-Saison der Winterfrost zuschlägt; noch bevor man After-Sun aufcremen kann. Dann bleibt das Erinnern. Sowie bei ABBA an „Our Last Summer“ in Paris. Wie bei John Travolta und Olivia Newton-John an die „Summer Nights“ in „Grease“ (1978). Von Winterromanzen ist in der Popkultur selten die Rede – sieht man einmal ab von George Michael und dem Wham!-Klassiker „Last Christmas“, wo ein Herz verschenkt wird, aber auch nur bis zum „very next day“. Dann ist Schluss mit kuschelig.
Am eindringlichsten mit dem Kontrast von queerer Sommerliebe und Winterfrost hat wohl Luca Guadagninos „Call Me By Your Name“ (2017) in den letzten Jahren gespielt. Das heißt: herzerreißend mit unseren Gefühlen gespielt. Wir erinnern uns: Elio sitzt, in der finalen Einstellung des Films zum Chanukka-Feste am Kamin, „irgendwo in Norditalien“. Der Garten ist verschneit, man erkennt ihn kaum wieder aus den beseelten Sommerszenen, die den Film prägten. Und während Elio, geistesabwesend, ins Feuer starrt, wissen wir, dass er sich erinnert an den Sommer seines Lebens. Den Sommer mit seiner großen Liebe Oliver – der ihm just am Telefon erzählte, eine andere geheiratet zu haben in Nordengland. Die Kamin-Szene ist schmerzlich lang. Es dauert, bis sich die Trauer Bahn bricht. Bis Elio den Schmerz zulässt. Der Schmerz, den ihm nur die Liebe bringen konnte. „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden.“ Ist es so?
An „Call Me By Your Name“, nicht mal an André Acimans Buchvorlage von 2007, war zu denken, als der Regisseur Sébastien Lifshitz zur Jahrtausendwende „Sommer wie Winter“, seinen ersten Langfilm, drehte. Auch er erzählt vom Erinnern an eine Sommerliebe unter jungen Männern. Aber er tut es ganz anders. Mehr so, wie Erinnerung funktioniert: bruchstückhaft, unchronologisch, in fragilen Fragmenten, nicht unter, hinter, vor – sondern parallel zur Gegenwart. Proust-Effekt. Auf der Suche nach der verlorenen Zweisamkeit. Und dem verlorenen Sommer, der auch ein Gewinn war – wenn man es so sehen kann. Oder war es „Presque rien“, fast nichts, so der französische Originaltitel von „Sommer wie Winter“?
Mathieu, in winterlicher Jacke, wartet am Bussteig und dann am Bahnsteig, seinen Seesack geschultert. Die Stadt: bläulich-grau, bonjour, Tristesse! Mathieu fährt zum Meer, doch es ist Off-Season, Winter. „Dass ich wieder zurückfahre, ist komisch“, spricht er im Zug in sein Walkman-Mikrofon, eine Art Audio-Tagebuch. „Aber Sie haben mir ja dazu geraten.“ Sie, das ist seine klinische Psychiaterin, erfährt man später. Rückkehr zum Schmerz. Es folgt ein harter Cut, schon zu Beginn von „Sommer wie Winter“: Zack, es duftet nach Sonnencreme und schwitzigen Beach-Volleyballern. Wir sind am Bretagne-Strand von Pornichet, an der Liebesküste, der Côte d’Amour, wie die Franzosen sagen. Mathieu und Cédric erspähen sich am Strand. Ihre Blicke betasten einander. Mathieu bäuchlings, Cédric im Schneidersitz. Daraus folgt: presque rien. Zunächst.
Mathieu ist einer, der, in sich gekehrt, im Wald stromert, im Bett Zigaretten pafft und im Bad wichst. Wir verstehen schnell: Er verweilt, noch bevor sein Architektur-Studium im Herbst starten soll, mit seiner Mutter, Schwester und Tante in der Sommerfrische Pornichets. Sommerzeit – unbeschwert und frei? In jedem Fall: sich überschlagende Wellen und grüne Gräser in den Dünen. Und: eine untergründig bedrückende Leichtigkeit der Freudesschreie am Meer, ein Echo verlorener Unschuld. Cédric steigt Mathieu nach, nachts. Mathieu soll sich entspannen, wir sind wieder ganz woanders, offenbar in einer Klinik. Eine Frau leitet Mathieu einen Schlauch mit Sonde in den Hals. Mathieu würgt und kann kaum atmen. „Kein Grund zur Panik“, beschwichtigt ihn die Frau, doch das Gegenteil ist mindestens genau so wahr. Mathieu will in der Klinik nicht essen. Seine Beruhigungsmittel zu nehmen vergisst er. Close-up mit Mathieu und der Psychiaterin: „Normalerweise bleiben Leute eine Woche hier“, sagt sie mit einer Stimme, die gelernt hat, zu beruhigen. „Und wir versuchen herauszufinden, warum sie sich das Leben nehmen wollten.“ Crash, Boom, Bang. Ein anderer junger Mann, erzählt die Psychiaterin, sei schon zwei Mal hier gewesen, um sich nach Cédric zu erkundigen. „Ist das ein Freund? Ist das Ihr Freund?“
Cédric und Mathieu bandeln nachts im Wald an. Im Grunde ein Flashback, aber „Sommer wie Winter“ inszeniert das nicht konventionell wie einen Kitsch-Flashback. Kein Sepia, kein Weichzeichner, keine verhallten Stimmen. Mathieu ist einfach „nochmal“ dort. Und es ist so echt wie „damals“. „Du bist mir schon letztes Jahr ausgefallen“, flirtet Cédric Mathieu an. Am Waffelstand muss das gewesen sein, wo er gearbeitet hat. „Ich würde dich gern küssen“, beichtet Mathieu schamlos. „Dann mach’s doch!“, faucht Cédric voll Zärtlichkeit zurück. Und Mathieu macht, er lässt sich bei ihm fallen. Zuhause nimmt man davon auch Notiz: Mathieu kehrt erst nachts um 3 zurück. Das war doch sonst nicht seine Art?
„Sommer wie Winter“ ist, inmitten dieser posttraumatischen Story übers Sich-Erinnern auch die Geschichte eines Coming-outs. So unbeschwert die flirtflirrenden Sommerbilder zunächst wirken: Mathieu hat doch erhebliche Hemmungen tagsüber. Als Cédric ihn bei Sonnenschein am Strand von Pornichet anspricht, will Mathieu vordergründig nichts mehr von ihm wissen: „Kein Theater“, will er, sagt er. Was zu einer Rauferei der beiden am Strand führt, die wohl weit mehr Publikumsblicke auf sich zieht als es ein bisschen Plauderei getan hätte. Mathieus Sorgen vor Homophobie sind durchaus begründet. Als er einmal beim Abendessen nicht am Familientisch sitzen bleiben will und die Mutter „Warum?“ fragt, entfährt Schwester Sarah ein „Weil ihm sein Arsch wehtut!“. Solche fiesen Sprüche bringt sie ständig. Später will sie wissen, ob Mathieu das denn nicht „eklig“ finde, mit einem Jungen rumzumachen. Auch hier in Pornichet sitzt man mitunter im Sommergarten wie bei „Call Me By Your Name“ – aber die Stimmung dabei ist nicht wohlgesinnt, sondern nekisch, skeptisch, manchmal gehässig. Ein Sommermärchen mit struktureller Gewalt, die hineinpikst.
Es sind vor allem die vor den Blicken der Anderen geschützten Sommernächte, in denen Mathieu mit Cédric die große Freiheit findet. Miteinander blühen sie auf bis zum Übermut, bis zur Albernheit, so wie es eben nur geht, wenn man verliebt ist. Sie knutschen nachts und baden nackt im Meer. Dazu gibt’s beinah softpornografische „Musical-Einlagen“: „In diesen Dünen hast du mich gefickt“, singt Cédric. „Hört sich ja schrecklich an“, kommentiert Mathieu wohlwollend. Dann stimmen beide gemeinsam ein Lied an: „Getrieben vom Wind / fick ich dich in deinen Arsch.“ Die Schwerkraft der Gesellschaft: scheinbar ausgehebelt. Es zählt nur der Moment.
Was an „Sommer wie Winter“ wehtut, ist auch, dass wir es früh wissen: Die Sommerromanze ist nicht winterfest. Irgendetwas stimmt dem schönen Schein zum Trotz nicht: Da ist der Typ aus Cédrics Vergangenheit, der mit ihm in einer Clubnacht aneinandergerät. Der vielleicht überstürzte Umzug nach Nantes. Da sind die Momente, in denen Mathieu genervt von Cédrics Sex-Avancen ist und sie abblockt. Und da ist wohlmöglich ein unverarbeitetes Trauma: Mathieus Mutter selbst wird von Depressionen drangsaliert, hat sie doch erst vor Monaten ein Baby verloren – Mathieus kleinen Bruder. Mathieu will von Trauer nichts wissen. „Sommer wie Winter“ lässt diese mentalen Schläge anklingen, ohne sie im klassischen Sinne zu psychologisieren. Durch die aufgehobene Chronologie sind auch Kategorien wie vorher/nachher, Ursache/Wirkung und damit die Schuld gewissermaßen hinfällig.
Durch die fortwährende Präsenz des Sommerkribbelns – Rumtollen in den schaumig sich überschlagenden Wellen, Huckepack durch den Sand, rosa Zuckerwatte am Autoscooter – findet Mathieu zu sich. War es Liebe? Sommerfrost? Darauf lässt der Film jeden seine eigenen Antworten finden. Gut möglich, dass sie sogar unterschiedlich ausfallen – je nachdem, ob man den Film im Sommer, Winter, Frühling, Herbst schaut; im verknallten Hormonrausch oder bei zermürbendem Herzeleid.
„Sommer wie Winter“ bleibt aber nicht dabei stehen, den Sommer zu verklären und den Winter abzuwerten. Gemeinhin dient der Sommer oft als Projektionsfläche für Leidenschaft, Freiheit und Leichtigkeit, während der Winter für Trennung, Kälte und den unvermeidlichen Eintritt der Realität steht. Auch in den Farb- und Rausch-entsättigten Winterbildern von „Sommer wie Winter“ fehlt freilich das Sommerflirren. Dem gegenüber steht eine Achtsamkeit, Bedachtsamkeit. Was als schwüle Sommerfantasie begann, verwandelt sich in die Ruhe nach dem kalten Sturm eines Verlusts. Ist der Sommer an sich selbst erfroren? In jedem Fall ist Mathieu im (wie wir gegen Ende wissen: übernächsten) Winter mehr bei sich selbst – und letztlich mehr bereit, sich wirklich zu öffnen, und zwar nicht nur gegenüber der Katze am Kamin, die er im nunmehr leeren „Sommerhaus“ in Pornichet streichelt.
Sommer wie Winter
von Sébastien Lifshitz
FR 2000, 100 Minuten, FSK 16,
deutsche SF und französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber
Als DVD und VoD