Wer mich liebt, nimmt den Zug (1998)
DVD
In Patrice Chéreaus Klassiker „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ reisen nach dem Tod eines berühmten Malers seine Vertrauten, ehemaligen Schüler und früheren Geliebten für die Beerdigung gemeinsam ins abgelegene Limoges. Erinnerungen werden neu sortiert, Konflikte verflechten sich, Gefühle brechen hervor – in einem Film, der die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen in all ihren Brüchen abbildet. Für Christian Weber ist das Drama eines der faszinierendsten Gruppenporträts des queeren Kinos. Eines, das „sich schwer fassen lässt und gerade aus seiner Widerspenstigkeit seine Schönheit gewinnt.“

Bild: Pro-Fun Media
Alles ist voller Liebe
von Christian Weber
Auf dem Bahnhof in Paris herrscht Hektik. Menschen eilen zu den Gleisen. Manche trinken noch rasch einen Kaffee. Wege kreuzen sich, Blicke gehen aneinander vorbei. Ein Mann sitzt schon alleine im Zug und hört ein Tonband mit einem Gespräch ab. Der Interviewte stellt sich vor: „Emmerich, Jean-Baptiste. Geboren am 2. April 1926 in Limoges. Vater Fabrikant, Mutter Fabrikantengattin.“ In der Bahnhofshalle erkennen sich Menschen, umarmen und küssen sich, spenden einander Trost. Auf dem Tonband erzählt Jean-Baptiste, ein Maler, vom Sterben. Bilder aus einem verwaisten Atelier. Ein junger Mann sucht auf den Bahnhofsfluren nach einem anderen, den er zuvor in einem Café gesehen hat. Die Blicke treffen sich, doch die beiden sprechen sich nicht an. Am Bahnsteig finden die Reisenden zueinander. Sind alle da, wer fehlt? Der Zug fährt mit lautem Geratter ab.
Patrice Chéreau hat sich für seinen Film „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ vom Tod des französischen Dokumentarfilmregisseurs François Reichenbach (1921 – 1993) inspirieren lassen: Im Sterben liegend, vertraute Reichenbach seiner Freundin, der Drehbuchautorin Danièle Thompson, den Wunsch an, dass er nicht in Paris, sondern in Limoges beerdigt werden möchte, dem Ferienort seiner Jugend. Auf Thompsons Einwände, dass es nicht einfach sei, ihn am nordwestlichen Rand des Zentralmassivs zu besuchen, antwortete Reichenbach: „Wer mich liebt, kann den Zug nehmen.“
Im Drehbuch, das Thompson und Chéreau zusammen mit Pierre Trividic geschrieben haben, wird aus François Reichenbach der Künstler Jean-Baptiste Emmerich. Nach dem Tod des berühmten Malers reisen seine Vertrauten, ehemaligen Schüler und früheren Geliebten für die Beisetzung nach Limoges. Auf die gemeinsame Zugfahrt folgen die Beerdigung auf dem Friedhof und der Leichenschmaus in der alten Familienvilla der Emmerichs. Aus dieser Trauerdramaturgie in drei Akten entwickelt sich eines der faszinierendsten Gruppenporträts des queeren Kinos, das sich schwer fassen lässt und gerade aus seiner Widerspenstigkeit seine Schönheit gewinnt.
Chéreaus Figuren verbergen selten, was sie fühlen. Die Filme des Franzosen, der nicht nur für das Kino, sondern auch für das Theater und die Oper als einer der bedeutsamsten europäischen Regisseure seiner Generation gilt, sind von Emotionalität und einer ungeheueren Darstellungslust erfüllt. Bereits sein zweiter Film, das bahnbrechende schwule Stricherdrama „Der verführte Mann“ (1983), wurde von einem düsteren Pathos der Ausweglosigkeit durchtrieben. Für seinen wohl bekanntesten Film „Die Bartholomäusnacht“ (1994) übersetzte er den gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas in ein opulentes Historiendrama. Sein erotischer Liebesfilm „Intimacy“ (2001) und das Geschwisterdrama „Sein Bruder“ (2003) sind Zweipersonenstücke, die ihre Wucht aus nächster Nähe entwickeln.
Doch der theatralste Film seines Œuvres ist das expressive Ensembledrama „Wer mich liebt, nimmt den Zug“, das mit einem Orkan der Gefühle vom Tod einer ambivalenten Vaterfigur erzählt – und davon, welche Effekte der Abschied auf die Hinterbliebenen hat. Chéreau zeigt uns Menschen, die verzweifelt um Liebe und Zugehörigkeit kämpfen und deren Suche sich im Moment des Trauerns radikal zuspitzt und neu ausrichtet. Für dieses Ringen findet der Regisseur eine leidenschaftliche Formsprache, die fragmentarisch und assoziativ funktioniert und von der Darstellungskunst seines spielwütigen Ensembles getragen wird. Mit Pascal Greggory, Valeria Bruni Tedeschi, Bruno Todeschini, Charles Berling, Vincent Perez und Jean-Louis Trintignant hat Chéreau dafür einige der besten französischen Schauspieler:innen ihrer Zeit besetzt.
In der Enge des Zugs nach Limoges setzt sich die frei fließende Exposition fort, die auf dem Pariser Bahnhof begonnen hat. Die Kamera von Éric Gautier und die Montage François Gédigier nehmen die Bewegung der Bahnfahrt auf und springen von einer Figur zur nächsten, verknüpfen Blicke und Gesten, bedeutsame Erinnerungen und beiläufige Bemerkungen. Personen werden zu zweit oder dritt zusammen ins Bild geholt, nur um gleich wieder getrennt zu werden. Perspektiven entstehen und werden gebrochen. Auf der Tonspur überlagern sich die Dialoge, Stimmengewirr, Zuggeräusche und eingeflochtene Musikstücke, die das Gezeigte emotional punktieren. In einer virtuosen Choreografie der Körper und Begegnungen skizziert Chéreau die Trauergemeinde als hochnervöses und zu vielen Seiten offenes Beziehungsgebilde.

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Ein kohärentes Gruppenbild entsteht so nicht, doch nach und nach kristallisieren sich Hauptfiguren heraus: Da ist François, der langjährige Lebensgefährte von Jean-Baptiste, und sein aktueller Partner Louis. Jean-Marie, der Neffe des Verstorbenen, und seine Frau Claire. Catherine, die Freundin von Jean-Baptistes Krankenpfleger Thierry, und ihre kleine Tochter Elodie. Der Kunstkritiker Bernard, der vor Jahren einmal ein Buch über den Maler geschrieben hat, und die alte Lucie, die allen erzählt, sie sei die große Liebe von Jean-Baptiste gewesen. Wie eng hängen die Figuren miteinander zusammen? Geneviève, die gute Seele der Reisegruppe, findet den passenden Begriff: „Entscheidend ist die Familie, die man sich aussucht. Und die Familie, die Jean-Baptiste sich ausgesucht hat, sind wir.“
Die gemeinsame Trauer verbindet die Mitglieder dieser Wahlfamilie, gegenseitige Eifersucht trennt sie voneinander. Im Zug folgt ein Minidrama auf das nächste. Zwischen den Zeilen der konfliktreichen Dialoge deutet sich an, dass Jean-Baptiste nicht nur der charismatische Taktgeber des Kreises war, sondern auch der Knotenpunkt eines Netzwerks aus emotionalen und materiellen Abhängigkeiten. Und so geht der Kampf um die Gunst des Spiritus Rector noch nach dessen Tod weiter: Wer hatte bis zum Schluss das Ohr des Meisters? Wer stand ihm am nächsten? Wen hat er am meisten geliebt?
Chéreau findet für diesen Spuk eine grotesk-komische Bild-Ton-Montage: Während sich im Zug der Streit entfaltet, fährt Thierry den Leichnam des Malers im Fond seines Kombis auf der Straße neben den Bahngleisen entlang. Auf Tonaufnahmen klagt Jean-Baptiste darüber, dass Thierry sich nicht bei ihm melden und ihn sogar beklauen würde. Gebannt blicken die Reisenden aus dem Zug zum Kombi hinüber. Und über allem liegt in sanfter Ironie Jeff Buckleys melancholischer Lovesong „Last Goodbye“: „I hate to feel the love between us die / But it’s over / Just hear this and then I’ll go“.

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Was passiert mit einer zerstrittenen Wahlfamilie, wenn ihr die zentrale Figur abhanden kommt? Im Abschied justieren sich die Beziehungen neu. Dabei folgt Chéreau einem queeren Ordnungsprinzip, in dem Beziehungskonstellationen von keiner bürgerlichen Moral fixiert werden und sich schnell ändern können. Besonders deutlich wird dies bei François und Louis. Zwischen den beiden hat es schon vor der Reise gekriselt. Als sich Louis im Zug auf einen intensiven Flirt mit dem geheimnisvollen Bruno einlässt, spitzt sich der Konflikt dramatisch zu. Auch François hatte eine Liebesaffäre mit Bruno, diese aber beendet, weil der junge Mann ihm lange seine HIV-Infektion verschwiegen hatte. „Welches Wort würdest Du für unsere Beziehung verwenden?“, fragt François an einer Stelle Louis. Für eine Antwort muss zunächst Jean-Baptiste unter die Erde.
Jean-Marie ist der Erste auf dem Friedhof. Die Kamera fängt ihn in einer niederschmetternden Panoramaaufnahme und in einem prägnanten Gegenbild zum wilden Gewusel im engen Zug ein: Als schmerzhaft Vereinzelter steht er inmitten eines Meers aus Gräbern. Doch Björks artifizielle Liebesballade „All Is Full of Love“ kündigt bereits die kühle Wiederbegegnung mit einem geliebten und gleichsam verhassten Menschen an: „You’ll be given love / You have to trust it / Maybe not from the sources / You have poured yours“. Jean-Marie trifft auf seinen leiblichen Vater Lucien, Jean-Baptistes Bruder. Trotz der geteilten Trauer kommt es zwischen den beiden zum Streit — zu groß sind die gegenseitigen Enttäuschungen. Eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie? Ist auch keine Option.
Nach dem Eintreffen der übrigen Trauergäste verliest Jean-Baptistes Jugendfreund Sami das bewegende Gedicht „In My Dreams“ der englischen Autorin Stevie Smith. Darin kann das lyrische Ich dem Abschied auch Positives abgewinnen: „I am glad I am going / I am glad, I am glad / That my friends don’t know what I think“. Für einen Moment scheinen alle Anwesenden in der gemeinsamen Rührung vereint. Doch dann bricht es aus Jean-Marie heraus: „Er hatte von uns allen die Schnauze voll! Er wollte nicht der Vater sein! Er wollte keine Familie! Er wusste, dass Familie nach Tod stinkt und nach Erbärmlichkeit!“ Sätze wie Befreiungsschläge. Doch die Wahlfamilie bleibt vorerst zusammen und fährt zum Leichenschmaus weiter.

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In der Villa der Emmerichs spitzen sich die Konflikte noch einmal zu. Bernard muss erfahren, dass nicht nur François sein Buch über Jean-Baptiste als minderwertig ansieht, sondern dass auch der Maler selbst so dachte. Lucien konfrontiert Jean-Marie mit seinem Schmerz, ihn an seinen Bruder verloren zu haben. Ein Streit im Wohnzimmer endet in einem Handgemenge und mit einer Blutwunde. Und dann, fast beiläufig und als es wäre es nichts, sagt François über den Verstorbenen: „Es war allgemein bekannt, dass er uns alle gegeneinander aufgehetzt hat.“
Je tiefer die Nacht wird, desto zugewandter werden die Begegnungen — und desto mehr wird deutlich, dass Jean-Baptistes Tod nicht nur alten Streit wiederbelebt, sondern auch neue Verhältnisse katalysiert: Jean-Marie erklärt Claire, dass er sie verlassen wird, aber für das gemeinsame Kind da sein wird. Lucien akzeptiert, dass sein Bruder seinen Anteil am Familienvermögen an die kleine Elodie vermacht hat. Louis verlässt François und folgt seiner Liebe zu Bruno, auch wenn das bedeuten könnte, irgendwann großes Leid ertragen zu müssen. Und zwischen allen agiert trans Frau Viviane als emphatische Ratgeberin. Die Loslösung von Jean-Baptiste, der Gruppe und der gemeinsamen Vergangenheit hat sie, die früher selbst Schüler und Geliebter des Malers war und in weiser Voraussicht mit dem Auto nach Limoges gekommen ist, schon vollzogen.
Am Morgen danach zerstreuen sich die Trauergäste so plötzlich wieder, wie sie zuvor zusammengekommen waren. Im Abschied vom Vater haben sich einige Beziehungen neu justiert, andere Konstellationen bleiben offen. Manche Hinterbliebenen werden sich wiedersehen, für andere war es die letzte Begegnung. Erhaben fliegt und schwenkt die Kamera über Limoges, zeigt noch einmal den Bahnhof, die Gleise, die Villa. Dazu erklingt in getragenem Pathos das Adagio aus Gustav Mahlers 10. Sinfonie, eine Musik tiefster Melancholie. Über dem Friedhof verlangsamt sich die Kamerabewegung. François, mit dessen Blick aus dem noch fast leeren Zug am Pariser Bahnhof der Film begonnen hat, läuft zwischen den Gräbern entlang und ist wieder in Gedanken versunken. Er wird bestimmt noch einmal zurückkommen auf diesen Friedhof, und vermutlich wird er dafür auch wieder den Zug nehmen, aber dann wohl in anderer Begleitung. Was bleibt nach dem Ende einer Familie? Die Erinnerung — und die Wahl neuer Verwandter.
Wer mich liebt, nimmt den Zug
von Patrice Chérau
FR 1998, 120 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT, deutsche SF
Auf DVD