Aimée & Jaguar (1999)

DVD/VoD

Im faschistischen Deutschland von 1943 finden zwei Frauen zueinander: die jüdische Widerstandskämpferin Felice und die angepasste Mutterkreuzträgerin Lilly. Eine Liebesbeziehung, die kaum vorstellbar scheint und doch historisch belegt ist. Max Färberböcks Verfilmung von Erica Fischers dokumentarisch-literarischer Vorlage „Aimée & Jaguar“ eröffnete 1999 die Berlinale und wurde danach schnell zum Sensationserfolg. Und hat auch heute nichts von ihrer Kraft verloren. Der Film habe „eine Zärtlichkeit von jener Sorte, die das Kino zwischen zwei Frauen selten zeigt“, schreibt Arabella Wintermayr: „warm und lustvoll zugleich, tastend und gleichzeitig voller Dringlichkeit“.

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Zwischen den Zeilen der Geschichte

von Arabella Wintermayr

Als Felice Schragenheim sie das erste Mal erblickt, sitzt sie mit ihrer Freundin Ilse (Johanna Wokalek) im Parkett eines Berliner Konzertsaals. Oben auf dem Balkon sucht Lilly Wust (Juliane Köhler) im blauen Abendkleid hastig nach ihrem Platz und schiebt sich an den Besucher:innen vorbei, die ihre Blicke bereits gebannt auf das Orchester gerichtet haben. Sie setzt sich neben einen Hauptmann der Wehrmacht – sie hat eine Affäre mit ihm, wie Felice von Ilse erfährt, die für Lilly als Kindermädchen tätig ist. Als Felice daraufhin ihren Blick in die Loge wandern lässt, kann sie ihn kaum mehr lösen. „Hübsch,“ flüstert sie, ohne die Augen abzuwenden, „sehr hübsch.“

Inmitten der Klänge von Beethovens Neunter – und im faschistischen Deutschland des Jahres 1943 – beginnt eine Geschichte, die eigentlich nicht sein darf. Dass sich dieser Moment wie ein Auftakt zum romantischen Melodram ausnimmt, ist die erste von vielen filmischen Entscheidungen, mit denen Max Färberböcks „Aimée & Jaguar“ eine lesbische Liebesbeziehung im Schatten des Nationalsozialismus mit beinahe träumerischer Intensität zeichnet – und zugleich die Gefahren des tödlich-repressiven Regimes nicht ignoriert.

Schon im nächsten Augenblick unterbricht ein Fliegeralarm das Konzert. Felice nutzt die Gelegenheit, um sich Lilly anzunähern und ihr im Gedränge bei der Suche nach ihrer Brille zu helfen. Doch kurz nachdem sich die beiden Frauen voneinander lösen, wird Felice von einem Mann angehalten: ein früherer Patient ihres Vaters, der sie wiedererkennt. Mit einer Mischung aus flüchtigem Interesse und latentem Argwohn hebt er das Revers ihres Mantels an, auf der Suche nach dem gelben Stern, der fehlt – und stellt damit eine stille, aber unmissverständliche Drohung in den Raum.

In dieser Sekunde wird klar: Während die anderen vor den Bomben Schutz suchen, ist Felice einer noch größeren Gefahr ausgeliefert – der ständigen Bedrohung, enttarnt, verhaftet, deportiert und ermordet zu werden. Umso erstaunlicher ist das Begehren, das Lilly in ihr entfacht. Ilse warnt ihre Freundin noch vor Ort vor Lillys unreflektierter Faszination für den Glanz von Uniformen, ihrer naiven Bewunderung für die Aufmärsche der Hitlerjugend etwa. Doch Felice reagiert nicht ablehnend – sie sieht, so suggeriert es der Film, keinen Abgrund, sondern eine Herausforderung, die eine Eroberung nur noch reizvoller macht.

Die Liebesbeziehung zwischen einer zum Untertauchen gezwungenen Jüdin und einer mit einem Wehrmachtsoffizier verheirateten Mutterkreuzträgerin mag auf den ersten Blick kaum vorstellbar wirken – und ist doch historisch belegt. „Aimée & Jaguar“, der im Jahr 1999 die „49. Internationalen Filmfestspiele Berlins“ eröffnete, beruht auf der gleichnamigen dokumentarisch-literarischen Vorlage von Erica Fischer. Für das erstmals 1994 erschienene Buch, das seither in zwanzig Sprachen übersetzt wurde, führte die Autorin intensive Gespräche mit Lilly Wust und ordnete deren Erinnerungen kritisch in eigene Recherchen und historische Gegebenheiten ein.

Während Erica Fischer in ihrem Buch ein vielschichtiges Porträt der Beziehung zeichnet und dabei auch auf die asymmetrischen Abhängigkeiten zwischen der erst 21-jährigen Felice Schragenheim und der neun Jahre älteren Lilly – eigentlich Elisabeth – Wust hinweist, wählt die filmische Adaption eine deutlich romantisierte Lesart. Doch so sehr der Film die emotionale Nähe betont, verfällt er dabei nie in bloße Verklärung. Das ist vor allem der genauen Figurenzeichnung im Drehbuch von Max Färberböck und Rona Munro sowie der konsequenten Erzählhaltung von „Aimée & Jaguar“ zu verdanken, die – abgesehen von der Rahmenhandlung – zuerst in Felices Perspektive verankert ist.

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Bevor es zu einem Wiedersehen mit Lilly kommt, gewährt der Film zunächst Einblicke in Felices Leben im Untergrund: Unter falschem Namen arbeitet sie bei einer NSDAP-nahen Zeitung, spielt so erlangte Informationen an den Widerstand weiter, beschafft gefälschte Papiere und Lebensmittelmarken – für sich selbst und für andere. Ihre ständige Bewegung durch die Stadt entspricht dabei den Erkenntnissen der Forschung über das Leben untergetauchter Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Berlin.

Der Historiker Richard Lutjens etwa widerspricht der verbreiteten Vorstellung vom Verstecktsein als „statisches und gleichförmiges Phänomen“ und beschreibt das Überleben im Berliner Untergrund als „dynamisch, facettenreich und auf vielfache Weise mit der Stadt verwoben“. Wo man als Zuschauer zunächst versucht sein könnte, Felices vermeintliche Bewegungsfreiheit als filmische Verharmlosung zu deuten, leistet die Darstellung in Wahrheit einen wichtigen Beitrag zur Korrektur gängiger Annahmen: Die allgegenwärtige Gefahr schränkte die Untergetauchten nicht nur ein – sie zwang sie mitunter geradezu zur Bewegung.

Im Umgang der Filmfigur „Felice“ mit der ständigen Bedrohung für Leib und Leben nehmen sich Max Färberböck und Rona Munro freilich fiktionalisierende Freiheiten heraus: Ihre Heldin antwortet darauf nicht mit lähmender Angst, sondern (wahrscheinlich auch: gezwungenermaßen) mit Hoffnung, Mut und sogar Ironie. Sie ist witzig, charmant, provokant – eine, die mit offenem Hemdkragen flirtet; die Dreh- und Angelpunkt ihres mehrheitlich lesbischen Freundinnenkreises ist (gespielt unter anderem von Elisabeth Degen, Heike Makatsch und Désirée Nick) und sich gleichzeitig durch Gestapo-Kontrollen laviert.

Maria Schrader brilliert in der vielleicht wichtigsten, gewiss aber eindrucksvollsten Rolle ihrer bisherigen Karriere und verleiht dieser vielschichtigen Figur mit eindringlicher Präsenz und feinem Gespür für Zwischentöne jenes flirrende Spannungsfeld aus Lebenshunger, Verletzlichkeit und Trotz, das „Felice“ so unvergesslich macht.

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Als sich die beiden Frauen erstmals in einem hauptsächlich von Wehrmachtssoldaten besuchten Café unweit des Bahnhof Zoo wiederbegegnen, wirkt es für Felice fast wie ein Spiel. Sie schmeichelt, kokettiert – und Lilly reagiert erst zögerlich, dann fasziniert. Bis sie sich gänzlich auf Felice einlässt, folgt „Aimee & Jaguar“ dem langsamen Umkreisen zweier gegensätzlicher Leben, bis der gemeinsame Punkt gefunden ist. Dabei ist das, was sie zueinander hinzieht, paradoxerweise dasselbe – aber auf völlig unterschiedliche Weise verstanden.

Während eines frühen gemeinsamen Spaziergangs durch ein stark von Bomben gezeichnetes Berlin, spricht Felice in Andeutungen Lillys heimliche Männergeschichten an. Lilly, ertappt und etwas verlegen, antwortet mit einem Satz, der sie entschlossener erscheinen lässt, als sie ist: „Sie müssen jetzt leben, Felice.“ Für die klingt das wie ein Bekenntnis zur Freiheit – zur Unabhängigkeit von Konventionen, zur Lust, zum Risiko. Tatsächlich aber ist Lillys Wirklichkeit geprägt von engen bürgerlichen Strukturen, Pflichten, Routinen – einem Leben, das sie wahrscheinlich nie bewusst gewählt hat.

Und doch gärt es in ihr. Die Affäre mit einem Hauptmann mag ein erstes, tastendes Aufbegehren gewesen sein, und ihre Faszination für Felice ein noch deutlicherer Ausdruck für ein existenzielles Sehnen nach Freiheit, einem anderen Dasein. Der gemeinsame Silvesterabend markiert einen Wendepunkt. Lillys Ehemann Günther (Detlev Buck) hat Heimaturlaub, kehrt über die Feiertage zurück und bedrängt sie mit seinen Ansprüchen – körperlich wie emotional. Er sprengt die Jahreswechsel-Soirée, die Felice in Lillys Wohnung ausschließlich mit weiblichen Gästen organisiert hat.

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In einer der schönsten Szenen des Films beobachten Felice und Lilly das Fest aus einem abgedunkelten Nebenraum. Ein schmaler Lichtspalt fällt durch die angelehnte Tür und beleuchtet ihre Gesichter – Felice schaut nach vorn, Lilly auf sie. „Ihr Leben ist schön, Felice. Sie sind frei“, sagt sie leise. In diesem Moment offenbart Lilly nicht nur ihre Bewunderung – sie offenbart auch, was ihr fehlt. Ihre Worte sind Wunsch und Projektion zugleich, und sie verraten eine Naivität, die Felice schmerzt. Als Lilly kurz darauf nach ihren Eltern fragt, antwortet diese trocken, fast wütend: „Tot.“ Lilly lacht nervös auf, sucht Halt, tastet sich ein weiteres Mal vor: „Felice, warum bedeuten Sie mir so viel?“

Von diesem Moment an ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis die emotionale Spannung zwischen den beiden Frauen in einer sinnlichen Liebesszene aufgeht. Die bedächtig agierende Kamera von Tony Imi bleibt nah, beobachtend und schafft im Zusammenspiel mit den feinfühligen Streicherkompositionen von Jan A. P. Kaczmarek eine Zärtlichkeit von jener Sorte, die das Kino zwischen zwei Frauen selten zeigt: warm und lustvoll zugleich, tastend und gleichzeitig voller Dringlichkeit.

Doch das Erlösungsmoment dieser Nacht trügt. Die strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Frauen, ihre verschiedenen Lebensrealitäten und ihre Schwierigkeiten, sich von alten Verhaltensmustern zu lösen, bestehen weiter: Felice setzt ihre Flirts mit anderen Frauen fort, was Lilly – die sich insgeheim eben durchaus nach der Verlässlichkeit einer festen Beziehung sehnt – in beinahe manische Eifersuchtsausbrüche treibt. Felice, die zuvor mit Nachdruck um Lilly geworben hatte, ihr Gedichte schrieb und sie mit Briefen überschüttete, gerät in Panik, als Lilly sich tatsächlich von ihrem Mann scheiden lassen will.

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Die Furcht fußt freilich auch auf die Sorge, im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung mithineingezogen – und enttarnt – zu werden. Felice zieht sich zurück, und „Aimée & Jaguar“ wendet sich ein weiteres Mal intensiver ihrem Alltag im Untergrund zu, ihrem Doppelleben als jüdische Widerstandskämpferin inmitten der NS-Redaktion. Auf einem Empfang erfährt sie von einem Attentat auf Hitler und glaubt in ihrer Euphorie, das Schreckensregime sei gestürzt. Doch als sie zu Lilly zurückkehrt, erwartet sie dort eine in doppelter Hinsicht bittere Erkenntnis: Lilly lauscht dem Volksempfänger und verkündet mit spürbarer Erleichterung, beinahe mit Freude, dass „er“ das Attentat überlebt habe.

In einem Moment der Verzweiflung offenbart Felice schließlich Lilly ihre jüdische Herkunft. Lillys Reaktion schwankt zwischen Bestürzung und Hingabe. „Wie kannst du mich lieben?“ fragt sie. Felices Antwort ist knapp, aber vieldeutig: „Ich hab versucht, es nicht zu tun.“ Und Lilly fleht, fordert gar: „Verlass mich nicht.“

Felice wird sie nicht verlassen – und das wird ihr zum Verhängnis. Gegen den Rat ihrer Freundinnen, die das Land längst verlassen oder Pläne zur Flucht geschmiedet haben, entscheidet sie sich für Lilly. Nicht, weil es ungefährlich wäre – eine frühe Szene zeigt etwa, wie eine enge Vertraute von den Nazis auf offener Straße erschossen wird – sondern weil sie zum ersten Mal seit dem Verlust ihrer Eltern wieder so etwas wie Sicherheit spürt.

Nach einer kurzen Phase beinahe alltäglicher Nähe steuert „Aimée & Jaguar“ auf seine letzte lichtdurchflutete Szene zu. Die beiden Frauen baden an der Havel, lachen, fotografieren sich, umarmen sich. Es ist ein Moment des reinen Glücks, festgehalten auf Film – und Teil des späteren Covers von Erica Fischers Buch. Doch bei ihrer Rückkehr in Lillys Wohnung wartet bereits die Gestapo. Felice versucht zu fliehen, wird noch im Treppenhaus überwältigt, geschlagen und verhaftet.

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Nach einem Zeitsprung unterhalten sich Lilly und Ilse darüber, dass Felice nach Theresienstadt deportiert wurde. Wer sie verraten hat, bleibt offen – auch wenn sich nach Erscheinen des Buches eine ehemalige Freundin meldete, die Lilly selbst verdächtigte. Der Film stellt keine so explizite Schuldzuweisung aus, lässt aber genügend Spielraum, um auch diese Möglichkeit mitzudenken. Was Max Färberböck und Runa Munro jedoch aufgreifen: den historisch verbürgten Besuch Lillys in Theresienstadt. Ilse reagiert entsetzt. „Sie werden sie wegschicken“, sagt sie. Und tatsächlich: Wenig später wurde Felice nach Auschwitz deportiert.

Das Publikum erfährt davon, als der Film in den Rahmen der Eingangsszene zurückkehrt: zur gealterten Lilly, die am Anfang des Films beim Umzug in ein Altersheim gezeigt wird. In einer etwas überkonstruierten Wendung trifft sie dort erneut auf Ilse. Zwischen den beiden entspinnt sich ein letztes, offenes Gespräch. Ilse nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht Lillys Verdrängung und ihr Bedürfnis nach Selbstmitleid offen an. „Früher war es der Führer, heute das Schicksal – Hauptsache was Großes“, sagt sie, als Lilly von ihrem Gefühl erzählt, vom Leben betrogen worden zu sein. Und doch bleibt ein Rest von Verständnis: „Felice ist geblieben, weil sie dich geliebt hat. Und du bist zu ihr gefahren, weil du sie geliebt hast.“

Der Film endet schließlich mit einer schlichten Texttafel. Sie informiert unter anderem darüber, dass Felice Schragenheim 1948 offiziell für tot erklärt wurde. Vermutlich starb sie auf einem Todesmarsch vom KZ Groß-Rosen nach Bergen-Belsen. „Aimée & Jaguar“ schließt ohne Pathos, ohne endgültiges Urteil. Er stilisiert Lilly nicht zum Opfer, aber zeigt sie auch nicht als Täterin – sondern lässt ihre Rolle als Mitläuferin stehen. Dass sie später mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet wurde, weil sie vier jüdische Frauen versteckte, gehört ebenso zur Ambivalenz ihrer Person wie ihre jahrzehntelange Weigerung, sich mit eigenen Verstrickungen und antisemitischen Anwandlungen, die Erica Fischer in ihrem Buch festhält, auseinanderzusetzen.

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Inwieweit die Darstellung der Liebe zwischen Aimée (Lilly) und Jaguar (Felice), wie die beiden Frauen einander nannten, der historischen Realität entspricht, lässt sich wahrscheinlich niemals rekonstruieren. Vielleicht war diese Beziehung roher, noch widersprüchlicher, und deutlich dunkler als es die Leinwand erzählt. Und dennoch: Dass es diese Liebe gab, steht außer Zweifel. Die Gedichte existieren. Auch die beiden „Eheverträge“, die Felice und Lilly im Juni 1943 miteinander schlossen – sie sind heute im Jüdischen Museum Berlin ausgestellt.

„Aimée & Jaguar“ mag historisch nicht in jedem Detail treffsicher sein, doch er schenkt dem queeren Kino etwas, das selten war – und bleibt: eine lesbische Geschichte, die gleichsam geschichtliches Zeugnis ist. Die Beziehungen zwischen Frauen, insbesondere in historischen Kontexten, wurden lange zur Unsichtbarkeit verurteilt – als wären sie zu unwahrscheinlich, zu randständig, um „wirklich“ gewesen zu sein. „Aimée & Jaguar“ widersetzt sich dieser Auslöschung, mit einer breitenwirksamen, empathischen und aufwendigen filmischen Aufarbeitung von einer Liebe, die – so unwahrscheinlich sie auch gewesen sein mag – nicht erfunden, sondern nur erzählt werden musste.




Aimée & Jaguar
von Max Färberböck
DE 1999, 121 Minuten, FSK 12,
deutsche OF

Auf DVD und VoD