Sprung ins kalte Wasser

TrailerDVD/VoD

Ab jetzt im Salzgeber Club: In romantisch-verträumten Bildern begleitet Regisseur Stelios Kammitsis in „Sprung ins kalte Wasser“ zwei junge Männer auf einem Trip durch halb Europa. Der junge Grieche Victoras macht sich nach dem plötzlichen Tod seiner Oma von Patras nach Deutschland auf, wo seine Mutter lebt. Auf der Fähre trifft er den abenteuerlustigen Deutschen Mathias – und nimmt ihn auf die weitere Reise einfach mit. Andreas Wilink über ein Kräfte-Messen, das allmählich zum Flirt wird.

Foto: Salzgeber

Entspannungspolitik der Körper

von Andreas Wilink

Worauf läuft es hinaus – haben wir es mit einem Thriller, einer Love Story, einem Road Movie, einer Familiengeschichte zu tun? Dass sich das nicht eindeutig beantworten lässt, ist kein Nachteil von „Sprung ins kalte Wasser“, vielmehr ein Impuls und Stimulans, den Regisseur Stelios Kammitsis seinem Film gibt, der im Original dezent und geheimnisvoll offener „The Man with the Answers“ heißt, während der deutsche Titel einen Schockmoment aufruft, der im Verlauf der Erzählung sehr viel moderater ausfällt. Auch dies kein Manko.

Ein ebenso eleganter wie schwereloser Luftsprung endet neben dem Trampolin. Ein Fall. Ein Sturz. So zeigt es der Vorspann. Später auf einer Hochzeitsfeier während eines Tanzes nimmt die Kamera das Motiv erneut auf: den Pirouetten drehenden Victoras – abhebend, wie im Flug, hoch hinauf und die Bodenhaftung verlierend. Momente, in denen er bei sich ist, während er sonst unterwegs zu sich ist.

In seiner griechischen Heimatstadt fährt Victoras Rad, flitzt, den Walkman auf den Ohren, von seiner Wohnung zum Job bei einem Möbel-Restaurator und zur Visite bei seiner kranken Großmutter in der Klinik – beim zweiten Mal findet er im Zimmer ihr Bett leer und frisch bezogen. Die Patientin ist gestorben. Victoras erledigt die Formalitäten und organisiert die Beisetzung. Der Zuschauer ahnt mehr, als davon Mitteilung zu erhalten, dass die alte Dame für den Enkel die Bezugsperson gewesen ist, womöglich die einzige.

 

Victoras nimmt die Fähre nach Bari, um weiter mit dem Wagen Richtung Norden zu fahren, nach Bayern, wie sich später herausstellt. Doch für den Zuschauer bleibt das Ziel noch ungewiss. Wie so vieles in Victoras’ Leben. Ein schweigsamer junger Mann, als trüge er ein Geheimnis mit sich, von dessen Existenz er selbst noch nichts weiß. Etwas schüchtern, jedenfalls sparsam darin, von sich mitzuteilen, skeptisch und melancholisch, vielleicht wegen des Todes der Oma, vielleicht nicht nur deshalb.

An Bord des Schiffs spricht ihn ein Deutscher an, Mathias, den er zuvor am Büfett beim Klauen beobachtet hat: ein Rucksack-Tourist, Skilehrer in den Alpen, wie er behauptet. Victoras weicht dem Kontakt zu dem „Außenseiter“, wie der sich selbst nennt, eher aus, als dass er dem Werben, der Offerte – so muss man es deuten – des Fremden nachgibt. Mathias fragt, ob er ein Auto habe und ihn mitnehmen würde. Victoras lehnt und wendet sich ab. Nach der Ankunft in dem italienischen Hafen und kurzem Zögern nimmt er ihn doch mit. Mathias wird in einem tieferen Sinn für Victoras zum Anhalter.

Wenn nicht aufdringlich, so ist er doch insistierend und hartnäckig, sogar etwas unverschämt, niemand, der sich abweisen lässt. Er scheint ein Bruder Leichtfuß und Hallodri, spontan, übermütig, gewandt, selbstgewiss. Jemand, der gern die Führung übernimmt, sagt, wo’s lang geht, sich überlegen gibt und sich auf nicht unsympathische Art für unwiderstehlich hält. Er versteht es, zu provozieren, wobei seine charmant platzierten Attacken an Victoras’ stoischem Temperament abprallen.

Foto: Salzgeber

Beim Bestellen im Restaurant kebbeln sie sich, weil Mathias für Victoras bestimmen will, was der zu essen bekommt. Aber dessen widerborstige Gelassenheit lässt sein Gegenüber auflaufen. Mathias schlägt vor, sie sollten nicht die Autostrada nehmen, sondern auf die Landstraße wechseln, das sei nicht so stupid. Victoras sträubt sich. Unterwegs im Auto begründet er es damit, dass er nicht wissen könne, ob er einen Serienmörder neben sich habe, der ihn zerstückeln würde, wenn sie eine abgelegene Route nähmen. Dann biegt er doch ab.

Ein Spiel und Kräfte-Messen, ja – aber auch ein Flirt? An einem schönen Fleckchen, einem stillen Waldsee, machen sie Rast. Mathias geht schwimmen und animiert Victoras, es ihm gleichzutun. Der überrascht ihn mit einem exzellenten Sprung, der den Profisportler zeigt. Das wechselseitige Taxieren setzt sich fort, aber bleibt unspezifisch. Nicht dingfest zu machen, was sich zwischen ihnen tut. Mit der Entspannungspolitik ihrer Körper ist es noch nicht weit her.

Mathias’ Aufforderung „Vertrau mir“ klingt für Victoras nicht danach, sie zu befolgen. Dann schlägt sein Fahrgast ein Spiel vor: „Twenty questions“. Einer fragt, der andere darf nur mit Ja oder Nein antworten. Er meint, aus den Fragen würde sich mehr entschlüsseln lassen, als aus den einsilbigen Antworten. Aber schließlich ist es Mathias, der die Fragen stellen muss, Victoras hält sich wieder bedeckt.

Foto: Salzgeber

Sie werden von der Polizei gestoppt, Victoras ist zu schnell gefahren und muss sich ausweisen: Er hat keinen Führerschein für den Wagen, deren Halter eine Frau namens Angeliki ist. Mathias übernimmt das Steuer. Er fährt sie zu einem eleganten Lokal, in dem eine Hochzeit gefeiert wird. Kein Zufall, sondern Ziel von Mathias, der einen der Gäste kennt. Tags darauf folgt ein Zwischenstopp an einem leeren alten Freibad, wo Victoras seine erste Medaille als Turmspringer gewonnen habe, wie er sagt.

Aus solchen lose geknüpften Episoden und Situationen – man kann auch von Gelegenheiten sprechen – ist der Film konstruiert, der etwas Sprödes, Knappes und Wortkarges hat, wie wir es aus Romanen von Patricia Highsmith kennen.

Nicht erst, als Mathias und Victoras in einem Albergo, wo sie ein Doppelzimmer nehmen, gewissermaßen wie im Schlaf Sex miteinander haben, nicht erst, als sie sich vor dem imposanten Alpenpanorama streiten, trennen, versöhnen, und nicht erst, als sie am Ende der Reise im ländlich idyllischen Haus von Victoras’ Mutter Angeliki und deren neuer Familie und neuen Leben eintreffen, verstehen wir, dass Victoras sich schwer tut mit Vertrauen, Verantwortung, Teilhabe. Im Lauf der Zeit wird es ihm damit leichter. Als wir Victoras und Mathias aus den Augen verlieren, wollen wir glauben, dass die beiden zusammenbleiben.




Sprung ins kalte Wasser
von Stelios Kammitsis
CY/GR/IT 2021, 80 Minuten, FSK 6,
englisch-griechisch-deutsch-italienische OF, teilweise mit deutschen UT,
Salzgeber

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

↑ nach oben